Lars Fischer: The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany, Cambridge: Cambridge University Press 2007, xx + 252 S., ISBN 978-0-521-87552-3, GBP 45,00
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Die Schlussfolgerung liegt nahe und scheint sich von selbst zu verstehen: Sozialismus und Antisemitismus schließen einander aus. Sozialisten und Antisemiten teilen keine weltanschaulichen Gemeinsamkeiten und stehen sich als politische Gegner gegenüber. Sozialisten gelten daher als unverdächtig, antisemitische bzw. antijüdische Vorurteile zu hegen. Ein Axiom. Ein Trugschluss? Der Historiker Lars Fischer, ein ausgewiesener Antisemitismusexperte, legt mit seiner aktuellen Monographie über das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich die überarbeitete Fassung seiner 2003 in London abgeschlossenen Dissertation vor. [1] Dem Autor kommt das Verdienst zu, eine im letzten Vierteljahrhundert in Vergessenheit geratene Forschungstradition wieder in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken: Die Reaktion und den Umgang der deutschen Sozialdemokratie auf und mit dem Antisemitismus und der "jüdischen Frage" im Kaiserreich. Fischer hat es sich zur Aufgabe gemacht, die eingangs aufgestellte These, die einer Mehrheit von Historikern bislang als gesichertes Wissen galt, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Im Mittelpunkt des Buches stehen die ideengeschichtlichen Grundlagen des sozialistischen Anti-Antisemitismus sowie dessen Verwendung bzw. Instrumentalisierung in der politischen Auseinandersetzung. Das Buch ist in sieben Kapitel untergliedert und basiert auf einer Fülle bisher unbekannter oder neu bewerteter Quellen unter anderem aus Beständen des International Institute of Social History (Amsterdam) und des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn). Die Kapitel eins bis drei befassen sich mit den theoretisch-philosophischen Grundlagen des sozialistischen Anti-Antisemitismus bzw. "Anti-Philosemitismus". Fischer beschreibt im ersten Kapitel die Reaktion führender Sozialisten - orthodoxer Marxisten (um Franz Mehring) und Revisionisten (um Eduard Bernstein) - in der SPD auf den Antisemitismus als in gleicher Weise ambivalent, als von Missverständnissen und Fehlinterpretationen geprägt. Fischer gelangt in diesem Zusammenhang zu einer Neubewertung der Marxschen Schrift "Zur Judenfrage", die den führenden sozialistischen Theoretikern als textliche Grundlage galt. Nicht Marx, so argumentiert Fischer überzeugend, habe antijüdische Vorurteile in seiner Schrift geprägt, sondern die Rezipienten hätten vorherrschende antijüdische Wahrnehmungen in die Textinterpretation einfließen lassen und Marx als "Kronzeugen" ihrer antijüdischen Auffassungen missbraucht (39).
Fischer gelangt wider der vorherrschenden Forschungsmeinung zu der Feststellung, dass die SPD quer durch alle Lager keine prinzipiell anti-antisemitische Partei gewesen sei und begründet dies anhand zahlreicher Belege mit der sozialistischen Kapitalismuskritik, die von denselben antijüdischen Vorurteilen durchsetzt war, wie die Kapitalismuskritik der Antisemiten (41). Ausgehend von der Frage, was Antisemiten von Anti-Antisemiten unterscheidet, kommt Fischer zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Nicht etwa die Wahrnehmung der jüdischen Lebenswirklichkeit und somit die Negierung der von den Antisemiten aufgeworfenen "jüdischen Frage" durch die Anti-Antisemiten unterscheidet Antisemiten und Sozialisten, sondern die Strategien, mit deren Hilfe die "jüdische Frage" gelöst werden sollte (13).
"The Social Democratic response to antisemitism in effect amounted to playing va banque" (21). Als eine Hauptsorge der Sozialisten beschreibt Fischer die Furcht der SPD, keinen politischen Profit aus den antijüdischen Grundüberzeugungen weiter Teile der Gesellschaft schlagen zu können, wie es den antisemitischen Parteien erfolgreich gelänge, falls die Partei sich zu anti-antisemitisch gäbe (227). Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit antisemitischen Positionen fand kaum statt. Die Sozialdemokraten entwickelten daher keine Konzepte zur Überwindung des Antisemitismus und bemühten sich kaum um die Widerlegung vorherrschender Ressentiments. Die SPD hoffte vielmehr, dass der ebenfalls kapitalismuskritische organisierte Antisemitismus an seinen inneren Widersprüchen zu Grunde gehen würde. Die politisch heimatlos gewordenen Antisemiten könnten sodann für die sozialistische Bewegung gewonnen werden (213). Die SPD verstieg sich daher auf die Praxis, antisemitische Thesen gar nicht erst durch Widerlegung zu popularisieren, um somit dem Prozess der Selbstauflösung des Antisemitismus Vorschub zu leisten (35). "Imperial German Social Democracy's publicly articulated anti-antisemitism very quickly dries up to little more than a barely discernible trickle" (17). Die Art und Weise der sozialdemokratischen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus wird vom Autor als Teil des Problems identifiziert, die dazu beigetragen habe, antijüdische Vorurteile in der Gesellschaft zu verfestigen.
Die Kapitel vier bis sechs untersuchen die Ebene der politischen Auseinandersetzung. Anhand zahlreicher Beispiele verdeutlicht Fischer eindrucksvoll, dass der als konzeptlos beschriebene Anti-Antisemitismus der SPD die außerparteiliche Dimension fehlte. Anti-antijüdische Positionen wurden zumeist nur dann artikuliert, wenn es innerparteiliche Streitigkeiten auszutragen und den Kontrahenten als Antisemiten zu denunzieren galt. Fischer gelangt zu der Überzeugung, dass der Anti-Antisemitismus der SPD in der Regel nur ein politisches Label war, das getragen wurde, um den politischen Gegner zu brandmarken (16). Eine kenntnisreiche Analyse der Antisemitismusinterpretation von Eduard Bernstein im Wandel der Zeit rundet den Band ab.
Lars Fischer gelingt es, eine hochtheoretische sozial- und ideengeschichtliche Fragestellung anschaulich darzustellen. Seine Arbeit besticht durch Quellennähe, schlüssige Argumentation und ein umfassendes Wissen über den Gegenstand seines Forschungsinteresses. Fischer führt überzeugend Nachweis für seine bisweilen provokanten Thesen und widerlegt die Grundannahme der älteren Forschung, dass die SPD einen pointiert anti-antisemitischen Kurs verfolgt habe und insofern keine Verantwortung für die Entwicklung zu tragen habe, die letztlich zur physischen Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus führte. "To the extent that Social Democrats shared this dream (i. e. die Lösung der "jüdischen Frage") they also share the responsibility for rendering German society susceptible to Nazi antisemitism and preparing the ideological seedbed from which the Shoa could grow" (228).
Die Studie verliert sich teilweise in etwas langen Detaildarstellungen, die nicht unbedingt zum direkten Verständnis der aufgeworfenen Fragestellung beitragen. Allerdings gelingt es dem Verfasser in diesen Passagen, den Bezug zum Thema aufrechtzuerhalten. Lars Fischer informiert den Leser umfassend. Allerdings hätte man sich eine systematischere und umfassendere Darstellung antisemitischer Vorurteile gewünscht, welche das Buch an manchen schwierigen Stellen noch lesbarer hätte machen können.
Anmerkung:
[1] Lars Fischer: Social Democratic Responses to Antisemitism and the Judenfrage in Imperial Germany, London 2003.
Salvador Oberhaus