Joachim Conrad / Stefan Flesch / Nicole Kuropka u.a. (Hgg.): Evangelisch am Rhein. Werden und Wesen einer Landeskirche (= Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland; Bd. 35), Düsseldorf: Müller Satz & Repro 2007, 278 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-930250-48-6, EUR 29,80
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Wer sich für die rheinisch-evangelische Kirchengeschichte interessiert, vermisst seit geraumer Zeit eine zusammenhängende Darstellung der rheinischen Verhältnisse. Gewiss gibt es da die Arbeit von Erwin Mülhaupt [1], der einen bewusst überkonfessionellen Zugang wählte, oder auch das bis in unsere Zeit viel gelesene Bändchen von Albert Rosenkranz [2], um nur die bekannteren Werke zu nennen. Doch sie sind durchweg veraltet, Mülhaupts Kirchengeschichte etwa stammt aus dem Jahr 1970. Diesem Desiderat hat nun die Evangelische Kirche im Rheinland mit dem vorliegenden großformatigen Band Abhilfe geschaffen. Nachdem vor einiger Zeit bereits für die pfälzische Landeskirche eine multimediale Darstellung der eigenen Vergangenheit erschienen ist [3], bietet nun die rheinische Landeskirche einen Abriss ihrer Geschichte, wobei auch sie die multimedialen Möglichkeiten nutzt.
Es handelt sich dabei ausdrücklich nicht um eine "kirchenamtlich abgesegnete offiziöse Geschichte 'ex cathedra'" (7), sondern die Herausgeber wählten einen bewusst vielseitigen Ansatz. Der Band richtet sich gleichwohl vor allem an Studierende der evangelischen Theologie, also wenigstens teilweise künftige Kirchenamtsträger. Das bedeutet auch, dass der Band implizit nicht an Detailfragen interessierte Historiker als Adressaten im Blick hat, sondern vor allem allgemein verständliches Überblickswissen vermitteln möchte. In dem Sammelband haben 23 Autorinnen und Autoren Aufsätze zu verschiedensten Facetten evangelischen Lebens im Rheinland dargestellt. Fast sämtliche Aufsätze des Bandes sind gut lesbar und ermuntern zur vertiefenden Lektüre. Die Autoren sind Theologen, Fachhistoriker und Archivare - und als solche mit den Bedürfnissen von Studenten vertraute Fachleute.
Gegliedert sind diese Artikel in zwei Hauptabschnitte. Der erste umfasst den geschichtlichen Abriss "Von Konstantin bis heute". Der geschichtliche Abschnitt untergliedert sich in einzelne Epochen, die sich an den Eckdaten staatlich-rechtlicher Geschichte orientieren (etwa 1648, 1815, 1918, 1989) und weniger auf spezifisch kirchliche Daten eingehen. Eine genaue Unterscheidung gestaltet sich freilich vor den Zeiten des Staatskirchentums nicht immer einfach. Von "der" rheinisch-evangelischen Kirche lässt sich ohnehin erst seit dem Übergang des gesamten Gebietes an Preußen ab 1815 sprechen. Zuvor bestanden zu unterschiedliche Traditionen in den vielen einzelnen Landeskirchen: Während am Niederrhein die presbyterial-synodale Kirchenordnung überwog, hatte sich im südlichen Rheinland die landesherrliche Konsistorialverfassung durchgesetzt. Zur Konstruktion einer Einheit erscheint die Orientierung an allgemein-historischen Daten dennoch gerechtfertigt, denn das Gebiet der rheinischen Kirche ist weitgehend deckungsgleich mit der Rheinprovinz. Der historische Abriss endet in der Wendezeit um 1990, da in den folgenden Jahren Entwicklungen einsetzten, die gerade in vollem Gange sind und den Herausgebern noch nicht bewertbar erschienen.
Im zweiten Abschnitt werden verschiedene im vorherigen Teil erwähnte Aspekte vertieft. Dabei handelt es sich um Kurzbiographien, Fragen von Bekenntnis, Frömmigkeit und Theologie sowie das Verhältnis von Kirche und Moderne. Wenn dabei Personen wie Hildegard von Bingen oder Nikolaus von Kues ebenfalls behandelt werden, macht dies das Selbstverständnis der evangelischen Kirche deutlich. Die Kirche manifestierte sich nicht einfach im 16. Jahrhundert aus dem Nichts, sondern sie entwickelte sich aus den bereits bestehenden religiösen Strukturen heraus. Auch die protestantischen Kirchen nehmen für sich in Anspruch, in direkter Nachfolge Christi zu stehen. Aus dieser Grunddisposition heraus wird verständlich, dass die vorreformatorische Zeit für die protestantischen Kirchen ebenso wichtig ist wie für die katholische Kirche. Bei den Biographien handelt es sich denn auch nicht um eine Art Pantheon evangelischer Lichtgestalten, sondern es werden durchaus auch weniger bekannte Persönlichkeiten wie Hannelotte Reiffen vorgestellt, die als eine der ersten Frauen noch vor Mitte des 20. Jahrhunderts die Aufgaben im Rahmen einer vollwertigen Pfarrstelle wahrnahm. (171-174), oder auch Karl Dungs, einem Pfarrer der Deutschen Christen (164-166). Aber auch überregional bekannte Personen wie Caspar Olevian, Gerhard Tersteegen, Wilhelm Johann Gottfried Roß und Joachim Beckmann finden ihre durchaus kritische Würdigung. An Beispielen wie diesen werden größere Entwicklungen und Szenarien, wie dem Verhalten von Geistlichen unter dem Nationalsozialismus oder bezüglich der lange Zeit strittigen Frage nach der Frauenordination deutlich greifbar.
Besonderer Wert wird sowohl beim chronologischen Abriss als auch im zweiten strukturellen Abschnitt auf die Zeit des Nationalsozialismus gelegt. Hier wird die kritische Distanz deutlich, mit der die evangelische Kirche im Rheinland mit ihrer eigenen Geschichte umgeht. Uwe Kaminsky bietet einen informativen Artikel über die Rheinische Kirche zwischen 1918 und 1989 (96-120), der auch nicht davor scheut, Kritik zu üben. Die extrem distanzierte Haltung der Kirchenleitung und vieler Pfarrer zur Revolution 1918 wird an der Person des Theologen Walther Wolff, Präses seit März 1919, deutlich. Er prägte das Diktum: "Wir haben in der Kirche keine Revolution erlebt" (97). Über die Entnazifizierung der rheinischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg urteilt Kaminsky: "In manchen Fällen waren die Widerstände gegen die auch auf der Ebene der Presbyter geforderte Selbstreinigung erheblich" (102), auf die er sodann auch näher eingeht. Die Schwierigkeiten, mit denen die evangelische Kirche im Rheinland seit den 1950er Jahren beschäftigt war, werden ebenso aufgezeigt, wie der Bezug zur säkularen historischen Entwicklung immer erhalten bleibt. Dies betrifft die Zuwendung zur entstehenden Bundesrepublik und die Flüchtlingshilfe nach 1945, aber auch mentalitätswandelnde Entwicklungen wie die Zulassung von Frauen zum Pfarramt, das ökumenische Bestreben, Kirchenaustritte, Friedensbewegung und einiges mehr. Von ähnlicher Fülle sind auch die übrigen Aufsätze, gleichwohl hin und wieder kondensiert werden musste.
Die Herausgeber haben dem Band noch einige Beilagen hinzugefügt. Neben der reichlichen Bebilderung des Bandes finden sich ebenfalls zahlreiche Karten, die oft Irmtraud Hantsches "Historischem Atlas für den Niederrhein" entnommen sind. Als gedruckte Beilagen sind zwei weitere Karten zu sehen: Die erste Karte stammt aus dem Pfarrerbuch von Rosenkranz, [4] die andere aus dem Geschichtlichen Atlas der Rheinlande.
Der eingangs erwähnte multimediale Ansatz wird durch eine beigelegte CD-ROM eingelöst. Sie enthält den gesamten Buchtext im pdf-Format. Ist im Druck nur eine allgemeine Auswahlbibliographie vorhanden, so erreicht die pdf-Ausgabe des Buches den doppelten Seitenumfang: Zu jedem Aufsatz gibt es ein Literaturverzeichnis und zu vielen auch Leseproben aus Texten oder ungedruckten Quellen, seien es Protokolle oder Selbstzeugnissen. Der Sinn der Leseproben ist es, den Inhalt des zuvor geschriebenen Artikels zu verdeutlichen, was auch durchweg gelingt.
Sehr angenehm fällt die Verlinkung der Texte auf. Wer beispielsweise in dem Artikel "Das 19. Jahrhundert: Die Zeit mit Preußen 1815 bis 1918" von Holger Weitenhagen liest und dabei auf Namen oder Aspekte stößt, die thematisch verwandt sind, kann sich unmittelbar in einen der anderen Artikel weiterleiten lassen. Im genannten Aufsatz sind es 13 Verlinkungen zu weiteren Texten im Buch. Etwas umständlich ist die Handhabung, wenn man von einem Link zurück zum Ursprungstext möchte, denn die Rückverknüpfung wurde nicht durchgeführt. Das Ganze lässt sich allerdings teilweise umgehen, wenn man auf die Lesezeichenfunktion des (nicht mitgelieferten) Acrobat Readers zurückgreift.
Bei der multimedialen Aufbereitung tritt jedoch noch eine Schwierigkeit auf, die immer wieder anzutreffen ist, wenn das pdf-Format für wissenschaftliche Publikationen verwendet wird: Die Möglichkeit, einen Text zu markieren und für ein ausführliches Zitat in ein anderes Format zu übertragen (etwa in Word), wird verwehrt. Damit ist zwar durchaus den rechtlichen Interessen des Verlages Rechnung getragen, es erschwert allerdings den einfacheren Umgang seitens des Rezipienten ungemein. Wer Stellen aus einem Aufsatz oder aus einer der Leseproben zitieren möchte, ist auf das traditionelle manuelle Abschreiben angewiesen - obwohl das pdf-Format durchaus andere Lösungen geboten hätte.
Auch wenn die Ausnutzung der technischen Möglichkeiten einer Verbindung von Buch und CD nicht vollständig umgesetzt wurde, hält der Leser doch mit dem vorliegenden Band eine durchgehend flüssig lesbare, an neueren Forschungstendenzen orientierte Geschichte einer deutschen Landeskirche in Händen.
Anmerkungen:
[1] Erwin Mülhaupt: Rheinische Kirchengeschichte. Von den Anfängen bis 1945 (SVRKG 35), Düsseldorf 1970.
[2] Albert Rosenkranz: Abriss einer Geschichte der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf 1960.
[3] Traudel Himmighöfer / Michael Landgraf / Gabriele Stüber: Pfälzische Kirchengeschichte multimedial (= Veröffentlichungen des Vereins für Pfälzische Kirchengeschichte - Neue Medien; 1), Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel 2003.
[4] Albert Rosenkranz: Das evangelische Rheinland (SVRKG 3 u. 7), Düsseldorf 1956/58.
Andreas Becker