Günther Kronenbitter / Markus Pöhlmann / Dierk Walter (Hgg.): Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 28), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 226 S., ISBN 978-3-506-71736-8, EUR 24,90
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In jüngster Zeit beschäftigen sich (Militär-)Historiker wieder stärker mit einem vergleichsweise selten behandelten Aspekt des militärischen Aufgabenspektrums: der Besetzung bzw. Okkupation eroberter Gebiete, Regionen oder Länder. Das aktuelle Interesse, sich mit diesem Thema in historischer Perspektive zu beschäftigen, ist sicherlich z. T. angeregt durch die aktuellen und weltweit bekannten Besatzungssituationen wie diejenigen im Irak oder in Afghanistan. Doch längst schon haben sich Historiker epochenübergreifend immer wieder, wenn auch nicht systematisch, mit dem Phänomen der temporären militärischen Besetzung oder Besatzungs- bzw. Fremdherrschaft beschäftigt. Am besten erforscht ist wohl die deutsche Besatzungspolitik und Herrschaftspraxis während des Zweiten Weltkrieges, diejenige während des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit gewinnt in den letzten Jahren größere Aufmerksamkeit, wogegen die Vormodere erst in Ansätzen erforscht ist. [1]
Diese Forschungslage spiegelt sich auch in der Komposition der Beiträge des hier anzuzeigenden Sammelbandes. Dreizehn der insgesamt fünfzehn Aufsätze beruhen auf Referaten, die im November 2002 auf der Jahrestagung des Arbeitskreises Militärgeschichte e.V. in Augsburg gehalten worden sind. Die dreizehn Beiträge befassen sich mit dem Phänomen "Besatzung" in der Zeit vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und legen einen Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa im 20. Jahrhundert. Um einer "noch stärker die Epochen übergreifenden und dabei vergleichenden Perspektive" gerecht zu werden (9), haben die Herausgeber zwei einführende Aufsätze von Veit Rosenberger ("Besatzung in der Antike") und Hans-Henning Kortüm ("Besatzung im Mittelalter") eingewoben.
Eine die Beiträge verbindende Perspektive auf das Phänomen Besatzung soll die "Analyse der vielschichtigen Interaktion zwischen Besatzern und Besetzten" (12) sein. Damit wird eine Erweiterung der noch häufig dominierenden Perspektive auf die Ordnungskonzepte der Besatzer und deren praktische Umsetzung vorgenommen. Der Erfolg oder Misserfolg einer Besatzung beruhte letztlich auch auf der Akzeptanz der fremden Truppen durch die Zivilbevölkerung. Allerdings ist es nicht einfach, ein differenziertes Bild der Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten zu zeichnen, denn die Quellenlage zum Besatzungsalltag ist fast immer schlechter (in Quantität und Qualität) als die politischen Konzepte und Ordnungsvorstellungen für eine Besatzung und die Propaganda für bzw. gegen die Besatzer. Den Widerspruch zwischen Propaganda einerseits und der erlebten Realität andererseits behandelt Gerd Krüger am Beispiel des Ruhrkampfes 1923 ("'Aktiver' und passiver Widerstand im Ruhrkampf 1923") und kommt zu dem Ergebnis, dass "der Widerstand gegen die französisch-belgische Besatzung des Ruhrgebietes nicht jene spontane, breite Volkserhebung war, zu der er von der deutschen Propaganda hochstilisiert wurde" (130).
Aber auch die anderen Beiträge tragen diesem Umstand Rechung und haben durchweg ein hohes heuristisches Reflexionsniveau. Hervorzuheben ist weiter, dass Besatzung mit aktuellen und auch weiterführenden Konzepten und Fragestellungen untersucht wird. So verbinden Claudia Lenz ("Überlegungen zur Dynamik von nationaler und Geschlechterordnung im Besatzungszustand am Beispiel Norwegens") und Almuth Roelfs ("'Ami-Liebchen' und 'Berufsbräute'. Prostitution, Geschlechtskrankheiten und Besatzungsverhältnisse in der Nachkriegszeit") alltags- und geschlechtergeschichtliche Ansätze. Vejas Gabriel Liulevicius ("Die deutsche Besatzung im 'Land Ober Ost' im Ersten Weltkrieg") thematisiert den von den deutschen Besatzern ab 1915 im Baltikum initiierten "Kulturkampf" gegen die Bevölkerung.
Durch den diachronen Vergleich von Besatzungssituationen durch Benoît Majerus für Belgien ("Von Falkenhausen zu Falkenhausen. Die deutsche Verwaltung Belgiens in den zwei Weltkriegen") und durch Frank Grelka für die Ukraine ("'Jüdischer Bolschewismus'. Zur Tradition eines Feindbildes in der Ukraine unter deutscher Militärverwaltung 1918 und 1941") wird man auf Kontinuitäten wie Diskontinuitäten aufmerksam gemacht. Deutlich wird in jedem Fall, dass die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg nicht voraussetzungslos in den genannten Regionen agierten.
Dank der chronologischen Spannweite des Bandes werden die Bedingungen deutlich, unter denen sich die Besatzungsherrschaft und der Widerstand dagegen verschärfte und z. T. auch radikalisierte. Das kann nicht im Detail ausgeführt werden, wird dem aufmerksamen Leser jedoch nicht entgehen. Hier nur diese Hinweise: Die unterschiedlichen Formen der Besatzung im 18. Jahrhundert, die Jürgen Luh ("Die schwedische Armee in Sachsen") und Daniel Hohrath ("Eroberer, Besatzer, Verteidiger. Festungsstädte unter 'fremder' Herrschaft im Krieg des 18. Jahrhunderts") behandeln, waren noch keine flächendeckenden, alle zivilen Einrichtungen überspielenden militärischen Unternehmungen. Luh zeigt, dass die Schweden ihre ca. 30.000 Soldaten über sämtliche sächsische Kreise, aber vor allem in Städten und größeren Ortschaften verteilten, um sie versorgen zu können. Hohrath konzentriert sich in seinem Beitrag auf Festungsstädte wie Prag und Breslau, die während des Österreichischen Erbfolgekrieges bzw. während des Siebenjährigen Krieges erobert und besetzt wurden.
Mit Jörg Naglers Beitrag ("Die militärische Besatzung der Südstaaten während der Reconstruction 1865-1877") wird die Reihe der Untersuchungen eröffnet, die sich mit der Besatzung unter den Bedingungen der "modernen" totalen Kriege beschäftigen, denn in "mancher Hinsicht stellte der Amerikanische Bürgerkrieg innerhalb der Weltgeschichte" (82) einen solchen Krieg dar. In dem von Nagler vorgestellten Zeitraum versuchten die Nordstaaten, die abgefallenen Staaten des Südens wieder in die Union zu integrieren. Zu den eingesetzten Truppen gehörten auch Schwarze, was für die Wahrnehmung der Besatzung von Bedeutung war. Überhaupt war Besatzung verstanden als Fremdherrschaft in der folgenden Zeit und zumal nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland oft mit der Anwesenheit von farbigen Soldaten konnotiert. Das kann Christian Koller ("'Afrika am Rhein'. Zivilbevölkerung und Kolonialtruppen im rheinischen Besatzungsgebiet der 1920er Jahre") eindrucksvoll zeigen, indem er den Unterschied zwischen politischer Propaganda und erlebter Praxis im Umgang mit den Kolonialsoldaten am Beispiel von Worms und Wiesbaden herausarbeitet.
Armin Nolzen ("Die Rückzüge der Wehrmacht in den besetzten sowjetischen Gebieten1941-1945") plädiert dafür, auch den "Rückzug aus einem mit Waffengewalt unterjochten Territorium" als einen integralen "Bestandteil militärischer Fremdherrschaften" (174) aufzufassen. Im Verhalten der sich zurückziehenden Soldaten kommt durchaus deren Grundhaltung gegenüber der Zivilbevölkerung zum Ausdruck. Die Wehrmacht in der Sowjetunion führte demnach auch im Rückzug mit ihrer "Politik der verbrannten Erde" den als Rassenvernichtungskrieg konzipierten Feldzug weiter (163). Im Gegensatz dazu steht der von Peter Lieb ("Zwischen den Fronten. Die normannische Zivilbevölkerung während der Invasionskämpfe im Sommer 1944") für die Normandie erhobene Befund: "Die Art und Weise, wie die Wehrmacht im normannischen Kampfgebiet mit der Bevölkerung umging, war von der Praxis im Osten grundverschieden" (200).
Zusammen gelesen unterstreichen die Beiträge, dass Besatzung - verstanden als zeitlich befristete Herrschaft über Regionen und Städte - epochenübergreifend zum Repertoire der Kriegsführung gehörte. Im Verlauf von Kriegen diente sie der Sicherung und dem Ausbau des Hinterlandes, dessen Ressourcen zudem für militärische Zwecke genutzt werden konnten. Besatzungen als Folge einer Niederlage konnten ein Druckmittel sein, um die Begleichung der Kriegskosten vom ehemaligen Gegner zu forcieren oder der Neuausrichtung der Nachkriegsordnung dienen (13). Ob jedoch Besatzung "bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eine ad hoc-Maßnahme"(19) darstellt, erweist sich nach der Lektüre des Beitrags von Hans-Henning Kortüm in diesem Band sowie neusten Forschungen zum späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit allerdings als zweifelhaft. [2]
Zu Okkupation und Fremdherrschaft wurde Besatzung im Verlauf des 19. Jahrhunderts, ihre widerlichste Ausprägung im Europa des 20. Jahrhunderts erhielt Besatzung jedoch während des Zweiten Weltkrieges in von deutschen Truppen kontrollierten Gebieten in Ostmitteleuropa und der Sowjetunion. Als Folge des Zweiten Weltkrieges besetzten sowjetische Truppen große Teile Deutschlands und blieben in der SBZ bzw. DDR bis 1994 stationiert. Einen ersten Einblick gibt Christian Th. Müller ("Befreier, Besatzer, 'Brüder'. Die sowjetischen Truppen in der SBZ/DDR") in die ambivalente Beziehung der sowjetischen Besatzungssoldaten zur ostdeutschen Gesellschaft, die "bisher kaum systematisch untersucht worden" (211) ist.
Insgesamt geben die Beiträge einen guten Eindruck von der (hauptsächlich) deutschen Forschung zum Phänomen Besatzungsherrschaft. Sie regen zur Weiterarbeit an, etwa im Bereich der Interaktion zwischen Zivilbevölkerung und Besatzungssoldaten, die in diesem Band nur partiell angesprochen wurde, oder indem die vergleichenden synchronen und diachronen Perspektiven ausgeweitet werden.
Anmerkungen:
[1] Markus Meumann / Jörg Rogge (Hgg.): Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit; 3), Münster 2006.
[2] Markus Meumann / Jörg Rogge: ebenda, 21-24, in der Einleitung.
Jörg Rogge