Rezension über:

Tobias Arand (Hg.): Die "Urkatastrophe" als Erinnerung. Geschichtskultur des Ersten Weltkriegs (= Geschichtskultur und Krieg; Bd. 1), Münster: Westfälische Wilhelms-Universität Münster 2006, 226 S., ISBN 978-3-934064-67-6, EUR 9,90
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Rezension von:
Andrea Meissner
Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Meissner: Rezension von: Tobias Arand (Hg.): Die "Urkatastrophe" als Erinnerung. Geschichtskultur des Ersten Weltkriegs, Münster: Westfälische Wilhelms-Universität Münster 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 12 [15.12.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/12/12489.html


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Tobias Arand (Hg.): Die "Urkatastrophe" als Erinnerung

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Die "Verarbeitung" des Ersten Weltkriegs in Deutschland in Denkmälern, im Gefallenen- und Heldenkult, in Gedenktagen, aber auch in der Kriegsliteratur und der Geschichtsschreibung zieht seit den 1990er Jahren mit großer Intensität das geschichtswissenschaftliche Interesse auf sich. [1] Diesem schon recht weit gediehenen Forschungstand wollen die sechs hier versammelten studentischen Arbeiten aus dem Arbeitskreis "Erster Weltkrieg" am Institut für Didaktik der Geschichte der Universität Münster einige Spezialstudien hinzufügen.

Eingangs konturiert Tobias Arand das verbindende Konzept "Geschichtskultur", welches das Augenmerk auf die Medien, kulturellen Muster und identitätsstiftenden bzw. politischen Funktionen des Rückbezugs auf die Vergangenheit lenkt. Arand verengt die Perspektive allerdings stark auf die materiellen, "konsumierbaren" Produkte der Geschichtskultur. Dass Erinnerungszeichen erst durch die mit ihnen verbundenen gegenwartsbezogenen Deutungen ihre Wirksamkeit erhalten, wird nur kurz angedeutet. Aufschlussreich wäre hier eine europäisch vergleichende Bündelung der Forschungsergebnisse, um eine Erklärung für die von Arand konstatierte deutsche Eigentümlichkeit zu finden. Diese besteht darin, dass die vor 1933 so hitzig umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg nach 1945 weitgehend marginalisiert war, heute aber mit Macht in das kollektive Gedächtnis zurückkehrt, ohne dabei noch politische Kontroversen auszulösen.

Ein Thema, das in Deutschland erst jüngst "wiederentdeckt" wurde, nämlich die informellen lokalen Waffenstillstands-"Abkommen" an der flandrischen Front zu Weihnachten 1914, ist längst institutionalisierter Teil der flandrischen und britischen Gedenkkultur, wie Christian Bunnenberg im einzigen transnational angelegten Beitrag zeigt. [2] Welche konkreten Deutungen in spezifischen historischen Kontexten mit dieser Erinnerung verbunden werden, ob diese Erinnerung eine Funktion für die antiwallonische Abgrenzung der Flamen hat, wie Bunnenberg andeutet, und ob die Stilisierung der Preußen als Zerstörer des Weihnachtsfriedens im britischen Gedenken möglicherweise auf die Feindbilder des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen ist, wäre dabei einer weiteren Überlegung wert.

Zwei der Beiträge zur deutschen Deutungskultur des Ersten Weltkriegs legen ihren Schwerpunkt auf Kriegsdarstellungen, die zwischen 1914 und 1918 verfasst wurden und gezielt auf ihre Funktion als Traditionsquellen, die das zukünftige Gedächtnis prägen sollten, angelegt waren:

Mit der Kriegschronik des münsterschen Stadtarchivars Eduard Schulte analysiert Kristina Thies exemplarisch die propagandistische Konstruktion des Mythos vom "Augusterlebnis" im Bildungsbürgertum, die zeitlich in unmittelbarer Parallelität zu den Ereignissen erfolgte, wie bereits Jeffrey Verhey nachgewiesen hat. Um der Chronik quellenkritisch beizukommen, konfrontiert Thies sie mit Berichten, die von Verhey, Christian Geinitz und in Arbeiten zur münsterschen Lokalgeschichte erschlossen wurden. Dadurch wird erkennbar, wie viel Unsicherheit und Angst - auch bei den ausrückenden Soldaten - mit geschauspielerter Begeisterung überdeckt wurde. Insofern bestätigt sich nochmals die Revision des Mythos durch die jüngere Forschung. Warum aber griffen im Bürgertum so rasch und kohärent bestimmte Ausblendungsmechanismen? Dies ist nicht nur auf staatliche Steuerung zurückzuführen, wie Thies annimmt (123), sondern mindestens ebenso sehr auf das Greifen längst etablierter Deutungsmuster, wie sie vor allem im Befreiungskriegsmythos tradiert worden waren. Um die Kriegschronik in den Kontext der Weimarer Geschichtskultur einbetten zu können, würde man gerne mehr darüber erfahren, weshalb sie 1932 veröffentlicht wurde und auf welche Reaktionen sie stieß. Die Tatsache der Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt scheint dafür zu sprechen, dass es seit den späten 1920er Jahren zu einer Re-Ideologisierung der Kriegserinnerung kam, wie sie auch im erbitterten Streit um den Roman und - mehr noch - um den Film "Im Westen nichts Neues" zu Tage trat.

Peter Grasemann ediert und kommentiert das Kriegsnotizbuch von Richard Winkler, das offenbar als Gedächtnisstütze für ein parallel geführtes Tagebuch dienen sollte. Dieses Notizbuch ist für die weitere Forschung von Interesse, weil Winklers Biographie in solch klassischer Weise eine Brutalisierungskarriere ist, dass sie geradezu von Klaus Theweleit erfunden sein könnte: aus dem protestantischen Kleinbürgertum stammend, Kriegsfreiwilliger, Unteroffizier, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz, Stoßtruppsoldat, Januar 1919 bis Februar 1920 Freikorpskämpfer, Berufssoldat in der Reichswehr, 1931 Eintritt in die NSDAP, Offizierskarriere im Zweiten Weltkrieg, nach dem Krieg bis 1962 Regierungsoberamtmann in der Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung. Charakteristisch für seine Aufzeichnungen ist ein literarischer Gestaltungswille, der aber lediglich auf die Stereotype der patriotischen Kriegslyrik zurückgreift und eigene Emotionen völlig ausspart. Diese Kälte schlägt mitunter in verkitschte Sentimentalität um, wenn er ein Gedicht über das "Mutterl" abschreibt. Aufschlussreich sind seine Notizen zum Heimmarsch nach dem Waffenstillstand, der eher als ein positiv erlebter Ausnahmezustand patriotischer und erotischer Selbstbestätigung erscheint, als dass er ein schmählicher Empfang in der Heimat gewesen wäre, wie die Radikalnationalisten später behaupteten.

Zwei weitere Aufsätze beschäftigen sich mit der Retrospektive auf den Ersten Weltkrieg in der katholischen und der jüdischen Minderheit. Am Beispiel des katholischen Kriegerdenkmals im westfälischen Ochtrup (Beitrag von Tim Kersting) und der Gedenkinitiativen des "Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten" (Beitrag von Hans-Christian Kokalj [3]) zeigt sich aufs Neue, welche enormen Konflikte das Kriegsgedächtnis in der Weimarer Republik generierte. Augenfällig wird aber auch, dass beide diskriminierte Minoritäten gerade durch die demonstrative Affirmation des Kriegseinsatzes und die Appropriation nationalistischer Gedenkformeln nationale Teilhabeansprüche zu artikulieren versuchten.

Die aufschlussreichen Beobachtungen Christian Schäffers zur west- und ostdeutschen Zeitungsberichterstattung anlässlich der Jahrestage des Kriegsausbruchs von 1914 tragen dazu bei, die bislang von der Forschung zur deutschen Memorialkultur nach 1945 gezeichneten Konjunkturwellen zu nuancieren. Zugleich wird deutlich, dass das kollektive Gedächtnis relativ unabhängig von der Erfahrungsgeschichte funktioniert. Denn seinen Höhepunkt erreichte das Gedenken an den Ersten Weltkrieg erst im Jahr 2004, seine geringste Intensität hatte es ausgerechnet im August 1984, einen Monat vor der Versöhnungsgeste Helmut Kohls und François Mitterands in Verdun. Bereits seit 1964 lässt sich (trotz der zähen Gegenwehr einiger Zeitungen) das Verblassen nationalistischer Deutungen des Kriegsausbruchs in Deutschland und eine zunehmende Europäisierung des Gedenkens verfolgen. Zugleich scheint es durch die verstärkte Berücksichtigung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse in den Zeitungen auch zu einem Reflexivitätsschub in der Gedenkkultur zu kommen. Ob der von Schäffer ebenso wie von Bunnenberg am Beispiel "Weihnachtsfrieden" konstatierte gegenwärtige Boom in der multimedialen Vermarktung von Geschichte eine dazu gegenläufige Tendenz ist, wird sich noch zeigen müssen.

Man mag, wie auch der Herausgeber im Vorwort anmerkt, durchaus geteilter Meinung sein, ob studentische Arbeiten gedruckt werden sollen. Sicherlich ist die Aussicht auf Veröffentlichung ein effektiver didaktischer Anreiz. Und gewiss fördern auch die meisten der hier vorliegenden Beiträge Neues zutage. Durch beherztes redaktionelles Eingreifen, das bisweilen auf pointiertere Thesenhaltigkeit und auf die Vermeidung eines unreflektierten Gebrauchs von Begriffen wie "Diskurs" oder "Dekonstruktion" gedrängt hätte, wäre der Lernprozess noch intensiviert und der Gewinn für den Leser noch größer geworden.


Anmerkungen:

[1] Die Ergebnisse der internationalen Forschung wurden in einigen Sammelbänden gebündelt: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994; Jörg Duppler / Gerhard P. Gross (Hgg.): Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999; Jost Dülffer / Gerd Krumeich (Hgg.): Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002.

[2] Bereits 1984 war eine detaillierte Untersuchung von britischen Historikern veröffentlicht worden: Malcolm Brown / Shirley Seaton: Christmas Truce. The Western Front, December 1914. 2nd rev. ed., London 1994. Die "Wiederentdeckung" in Deutschland ging von Michael Jürgs populärwissenschaftlichem Buch "Der kleine Frieden im großen Krieg. Westfront 1914. Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten" München 2003 (TB München 2005) aus.

[3] Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten als Akteur der Geschichtskultur ist bereits untersucht worden. Vgl. v.a. Gregory A. Caplan: Wicked Sons, German Heroes. Jewish Soldiers, Veterans, and Memories of World War I in Germany, Ann Arbor 2005.

Andrea Meissner