Nina Krüger: Landesherr und Landstände in Kursachsen auf den Ständeversammlungen der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. "... die zwischen Haupt und Gliedern eingeführte Harmonie unverrückt bewahren." (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1034), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2006, 336 S., ISBN 978-3-631-54598-0, EUR 56,50
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Die ständische Partizipation an der politischen Herrschaft war während der Frühen Neuzeit in vielen europäischen Gemeinwesen institutionalisiert und insbesondere für das Alte Reich und die überwiegende Mehrheit seiner Territorien gehörten Reichs- und Landstände zu den wesentlichen Elementen ihrer politisch-sozialen Ordnung. Im Gegensatz zur Beständigkeit des Phänomens war und ist seine geschichtswissenschaftliche Bewertung einem steten Wandel unterworfen: Entsprechend dem geschichtspolitischen Klima wurde das politische Ständetum bald als 'Hemmschuh' der Entwicklung zum modernen Machtstaat abqualifiziert, bald als Vorform demokratischer Rechtsstaatlichkeit gepriesen. Aber trotz radikal unterschiedlicher Einschätzungen war der Bezugspunkt für diese Art von Ständegeschichte immer unbestritten die Staatswerdung. In dieser Tradition steht auch die vorliegende Arbeit von Nina Krüger, die für die kursächsischen Landstände fragt: "Welchen Einfluss übten sie auf die kursächsische Politik aus?" (13). Die Studie, die 2003 an der Technischen Universität Chemnitz als Dissertation angenommen wurde, konzentriert sich auf die Regierungszeiten der Kurfürsten Johann Georg II. (1656-1680), Johann Georg III. (1680-1691) und Johann Georg IV. (1691-1694) und untersucht für diesen Zeitraum Themen, Verläufe und Ergebnisse der im Rahmen von Land- und Ausschusstagen stattfindenden Interaktion zwischen den Landesherren und ihren Landständen.
Die Einleitung (11-14) nimmt ihren Ausgang von zwei Beobachtungen: Einerseits fanden in Kursachsen niemals häufiger Ständeversammlungen statt als während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und andererseits wurde den Landständen von der Forschung für eben diesen Zeitraum recht pauschal ein Machtzuwachs attestiert. Beide Beobachtungen verknüpfend will Krüger die "Gründe für diese zahlreichen Zusammenkünfte" (13) herausarbeiten und mittels der so gewonnenen Befunde die These vom ständischen Machtzuwachs prüfen.
Die Arbeit beginnt mit einer knappen Darlegung zu Forschungsstand und Quellenlage (15-23). Das Ständetum werde, so Krüger, von der allgemeinen Ständeforschung nicht mehr als Hindernis, sondern als "Faktor der territorialen Staatsbildung gesehen" (16). In Bezug auf Sachsen sei dementsprechend schon der Beitrag der Stände "zur Hebung und Verbesserung der Landeswohlfahrt" (17) herausgestellt worden, allerdings erst für das 'Augusteische Zeitalter' nach 1694. Die Zeit vom Westfälischen Frieden bis zur Regierungszeit August des Starken sei hingegen "bisher nur ungenügend erforscht" (19). Um dies zu ändern, zieht Krüger als Quellen vor allem die im Sächsischen Hauptstaatsarchiv befindlichen Korrespondenzen zwischen dem Geheimen Rat und den Ständen heran, die im Verlauf der einzelnen Versammlungen entstanden. Es schließt sich ein weiteres kurzes Kapitel an (24-37), das biographische Skizzen der Kurfürsten des Untersuchungszeitraums enthält und zusammen mit Einleitung und dem vorangehenden Kapitel den einleitenden Teil der Arbeit ausmacht.
"Landstände und Ständeversammlungen in Kursachsen" (39-94) ist der erste der beiden Hauptteile betitelt, der eine Darstellung der historischen, institutionellen und verfahrenstechnischen Rahmenbedingungen bietet, welche für die im zweiten Hauptkapitel untersuchten Verhandlungen prägend waren. Als Ergebnis der Entwicklung seit dem späten Mittelalter hält Krüger fest, dass die Stände "zu Beginn der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts über ein gestärktes Selbstbewusstsein und eine Vielzahl von Kompetenzen" (47) verfügten, darunter vor allem das umfassende Steuerbewilligungsrecht, was sie "zu einem bedeutsamen Faktor der politischen Entwicklung" (48) machte. Die Erläuterung der komplexen Gliederung der Landstände in drei Kurien mit jeweils verschiedenen internen Ausschusssystemen, Rangfolgen und Standschaftskriterien bildet den notwendigen Hintergrund für die anschließende schematisierende Betrachtung der schriftlich geführten Verhandlungen. Diese zeige etwa die Dominanz einer adeligen Elite, da auf Landtagen "der enge Ausschuss der Ritterschaft eine zentrale Rolle einnahm" (82) und dessen Mitglieder auch die häufigeren Ausschusstage dominierten.
Nach der Konturierung dieser formal-institutionellen Rahmenbedingungen wendet sich das zweite Hauptkapitel ausführlich und quellennah den Inhalten der ständisch-kurfürstlichen Verhandlungen zu (95-293). Im Mittelpunkt standen "stets die finanziellen Forderungen des Landesherrn und die daraus resultierenden Bewilligungen der Landstände" (95); hier kann Krüger durch den Vergleich der Argumentationen mit den letztlich erfolgten Bewilligungen herausarbeiten, dass die nominale Steuerlast beständig anstieg, ohne auf "maßgeblichen Widerstand" (300) der Landstände zu stoßen. Der ständig steigende Finanzbedarf des Heeres nötigte den Landesherrn, die Stände häufiger zu berufen, was wiederum die gesteigerte Häufigkeit der Ausschusstage erklärt. Daneben werden vier Themenkomplexe untersucht, die ebenfalls "mit besonderer Intensität auf den Land- und Ausschusstagen verfolgt wurden" (95): das Testament Johann Georgs I., die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, das Defensionswerk und der Schutz der evangelisch-lutherischen Religion.
In der Zusammenfassung sieht Krüger die kursächsischen Landstände im späten 17. Jahrhundert durch drei Merkmale gekennzeichnet: Es gelang ihnen "die Wahrung und Durchsetzung eigener Interessen", dabei agierten sie aber gleichzeitig "als Interessenvertreter des ganzen Landes" (306) und zeichneten mit dem Kurfürsten "gemeinsam für das Wohlergehen des Landes verantwortlich" (307). Dies konkretisiere sich im "wichtigsten Ziel", und hier zitiert Krüger zustimmend ihren Doktorvater Reiner Groß, "den Staat und seine Stellung im Reich zu festigen". [1]
Mit diesem Fazit ist man direkt bei einem zentralen Problem der Arbeit: Zwar ist es legitim, den Beitrag der Stände zur Staatsbildung herausarbeiten zu wollen. Dies jedoch für das zentrale Anliegen der jüngeren Ständeforschung zu halten ist ein Missverständnis und mag daraus resultieren, dass die Autorin die allgemeine Ständegeschichte nur bis in die 1980er Jahre rezipiert hat. Tatsächlich ist man seit Jahren bestrebt, gerade die Meistererzählung vom modernen Staat zu überwinden, weil sie der Eigenrationalität vormoderner Institutionen nicht gerecht wird, beinhaltet sie doch anachronistische Projektionen. Auch Krüger verwendet beispielsweise den zentralen Repräsentationsbegriff unreflektiert und tendenziell im Sinne moderner Stellvertretung. Aber selbst dann, wenn man sich auf die etatistische Perspektive einlässt, zeigt sich, dass einige Ergebnisse gepresst werden müssen, um sich zu dem Bild zu fügen, das Krüger von den machtvollen und am Staatswohl interessierten Landständen zeichnet. Worauf baut die Annahme, dass die Stände zu effektivem Widerstand gegen die fürstlichen Finanzforderungen "aufgrund ihres machtpolitischen Einflusses durchaus [...] in der Lage gewesen wären" (300)? Und ist es nicht problematisch, dass ausgerechnet das "wichtigste Ziel", die Festigung des Staates, von "den Ständeversammlungen in dieser Deutlichkeit nicht formuliert wurde" (307)? Insgesamt überwiegt der Eindruck, dass es besser gewesen wäre, die ständischen Institutionen Kursachsens in ihrem spezifisch vormodernen, und damit nie 'nur' politischen Charakter ernster zu nehmen, anstatt sie in die allzu lineare Fortschrittgeschichte des Staates einzupassen.
Man soll Autoren an ihren eigenen Intentionen messen. Nina Krüger nimmt für sich in Anspruch, mit ihrer Arbeit "Grundlagen für die Untersuchung zu Detailfragen des sächsischen Ständewesens" (14) geschaffen zu haben. Angesichts der angesprochenen Probleme fragt man sich jedoch, ob man - das Zitat aufnehmend - nicht festhalten müsste, dass sich die Arbeit letztlich vielen Detailfragen gewidmet und darüber wichtige Grundlagen in konzeptioneller und ständegeschichtlicher Hinsicht vernachlässigt hat. In erster Linie aber wollte sie einen "empirische[n] Forschungsbeitrag zur sächsischen Landesgeschichte" leisten: Dies ist ihr sicherlich gelungen, indem sie einen bisher kaum berücksichtigten Quellenbestand intensiv aufgearbeitet und daraus eine materialreiche Studie erstellt hat.
Anmerkung:
[1] Reiner Groß: Geschichte Sachsens, Berlin 2001, 111.
Tim Neu