Michael Ploenus: "... so wichtig wie das tägliche Brot". Das Jenaer Institut für Marxismus-Leninismus 1945-1990 (= Europäische Diktaturen und ihre Überwindung; Bd. 10), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 355 S., ISBN 978-3-412-20010-7, EUR 39,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hgg.): Politische Verfolgung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena von 1945 bis 1989. Wissenschaftliche Studien und persönliche Reflexionen zur Vergangenheitsklärung, Berlin: Metropol 2012
Florian Lipp: Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR. Akteure - Konfliktfelder - musikalische Praxis, Münster: Waxmann 2021
Uta Franke: Sand im Getriebe. Die Geschichte der Leipziger Oppositionsgruppe um Heinrich Saar 1977 bis 1983, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2007
Die zeithistorische Kommunismusforschung charakterisiert mindestens zwei Merkwürdigkeiten. Während bis 1989/90 die kommunistischen Parteien und ihre Macht- und Legitimationsinstitutionen mit Ausnahme der Geheimpolizeien im Zentrum des westlichen Interesses standen, fristen sie seither eher ein Schattendasein in der Forschung. Es gibt zwar zahlreiche Spezialstudien, aber wer etwa nach einer aktuellen verlässlichen SED-Geschichte, einer Struktur- und Entwicklungsgeschichte ihres Machtapparates bis hin zum ZK sucht, wird lediglich einige regionale oder zeitlich begrenzte Untersuchungen finden. Ganz ähnlich sieht es mit neuen Forschungen zur marxistisch-leninistischen Herrschaftsideologie aus. Zwar wird immer wieder die überragende Bedeutung des Marxismus-Leninismus (ML) für die Herrschaftslegitimation herausgearbeitet, aber weder die ML-Institutionen noch die Kurz- und Langzeitwirkungen dieser einflussreichen Herrschaftsideologie sind bislang nach Öffnung der Archive systematisch untersucht worden. Dagegen kommen immer mehr Arbeiten auf den Markt, die glauben, ohne die Berücksichtigung dieser Herrschaftsideologie auskommen zu können, was durchaus Folgen für die konstruierten Bilder kommunistischer Vergangenheit hat. Die merkwürdige Randständigkeit des Themas hängt vermutlich mit einer a priori unterstellten Langweiligkeit zusammen.
Gerade weil bei solchen Themen in der wissenschaftlichen Forschung eine Unmenge spröden Materials im schwer verdaulichen "Parteichinesisch" durchzuarbeiten ist, gebührt dem Historiker Michael Ploenus Dank, weil er nicht nur erstmals eine Geschichte eines Instituts für ML rekonstruiert, sondern dies auch noch in einer klaren und schnörkellosen Sprache schafft - womit er sich von seinem Untersuchungsgegenstand bereits deutlich wohltuend abgrenzt. In seiner Studie stehen die unter verschiedenen Namen firmierenden Institute für ML an der Universität Jena zwischen 1945 und 1990 im Zentrum des Interesses. Nach einer Einleitung und einem etwas sehr knappen Kapitel zu Inhalt und Funktionen des ML behandelt er in vier Hauptkapiteln die institutionelle Entwicklung des ML an der Universität Jena zwischen 1945 und 1990. In einer Schlussbetrachtung fasst Ploenus seine Arbeit zusammen und skizziert einige Forschungsperspektiven.
Ein Beispiel aus dem Jahre 1963, das Ploenus anführt, zeigt plastisch die Stellung des ML im Universitätssystem (und der DDR-Gesellschaft) auf: Rostocker Theologiestudenten spielten ihrem ML-Dozenten einen Streich, indem sie ein Dogmatik-Lehrbuch rechts und links mit mehreren Broschüren "Stalin als Philosoph" flankierten (192). Dieses Beispiel, das aus Rostock stammt, deutet zweierlei an. Erstens nahmen den ML nur die "MLer" selbst ernst. Zweitens aber musste sich jeder in kommunistischen Systemen Lebende wohl oder übel mit dem ML auseinandersetzen und immer wieder dazu positionieren. Anders aber als Ploenus urteilt, ist diese Art des "Scherzes" nicht als "politische Diversion" vom Staat "überbewertet" worden, da für diesen mit solchen "Scherzen" die "politisch-ideologische Diversion" anfing. Deshalb waren die "MLer" an den Universitäten und anderswo eben nicht nur Wissenschaftler und Propagandisten des Systems, sondern auch Teil der "Gedankenpolizei", eine Vorfeldeinrichtung der Geheimpolizei. Auch die zu solchen "Scherzen" aufgelegten Studenten waren sich ihres politisch subversiven Verhaltens sehr genau bewusst.
Ploenus hat ein Buch geschrieben, das die "langweilige" Geschichte einer ML-Institution spannend und lehrreich rekonstruiert. Dem Autor gelingt es auf einer breiten empirischen Grundlage herauszuarbeiten, dass das Institut für Marxismus-Leninismus gegen vielfältige universitäre Widerstände als Fremdkörper in die Universität von außen eingepflanzt wurde und trotz ihrer überragenden ideologischen Bedeutung innerhalb der Universität dennoch stets ein Fremdkörper blieb. Bis in die 1960er Jahre hinein blieben die "MLer" trotz ihrer zentralen Funktion im Studium selbst hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück. Die Studierenden zeigten kaum Interesse, die anderen Hochschullehrer nahmen sie nicht als Gleiche wahr und von einer wie auch immer gearteten Forschung konnte nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Das änderte sich auch in den 1970er und 1980er Jahren nicht, aber die Kraft des Faktischen - die generelle Rekrutierungspraxis bei Lehrenden wie Studierenden - ließ die "MLer" als ein Zentrum der Universität erscheinen, allerdings nicht als intellektuelles, sondern allein als eines der Herrschaft, dem sich die überwiegende Universitätsmehrheit unterordnete. Wie in allen anderen Krisen zuvor, so stand als eine zentrale Forderung auch 1989 universitär sofort wieder die nach Abschaffung des ML-Pflichtstudiums und der ML-Institute im Mittelpunkt. Wie an allen anderen Universitäten versuchten zwar auch die SED-Genossen in Jena, die ML-Institute 1990 zu "transformieren", aber auch hier scheiterte dies, weil außer ihnen selbst daran kaum jemand Interesse zeigte.
Ploenus zeigt an vielen Beispielen, dass "MLer" "zuvorderst als Propagandisten" (18) tätig und sie Teil der "Ideologiepolizei" (23) waren. "Den Genossen verlangte man geradezu soldatischen Ethos ab." (153) Ebenso prägte die Geschichte des ML an der Universität der Umstand, dass die ML-Adepten nur in Ausnahmefällen ihren Kritikern intellektuell und argumentativ gewachsen waren. Dabei zeigten sich die Studierenden vor dem Mauerbau weitaus offener kritisch dem ML gegenüber als nach 1961, was nicht nur mit den generell veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammenhing, sondern auch der nunmehr rigideren Zulassungspraxis und den zwangsläufig veränderten Anpassungsstrategien der Menschen geschuldet war.
Nur an wenigen Stellen wäre der Autor zu korrigieren, fast immer handelt es sich dabei um Nebengleise, etwa dann, wenn er Ernst Engelberg, Hans Mayer oder Walter Markov in den späten 1940er Jahren zu arrivierten Akademikern adelt (98), was sie damals nun wahrlich noch nicht waren. Gerade sie stehen paradigmatisch für die "Neuen" im Sinne der kommunistischen Machthaber: politisch unbelastet, aber wissenschaftlich zu diesem Zeitpunkt auch noch unbedeutend, jedenfalls eigentlich nicht "berufungsfähig". Auch ist es schade, dass Ploenus weder die Hintergründe des von ihm wiedergebenden Flugblatts von 1969, das sich scharf gegen die Pflichtvorlesungen in "Gesellschaftswissenschaft" ausspricht, kommentiert noch den Verfasser namentlich benennt. Dabei handelte es sich um Reiner Schottlaender, den Sohn des letzten bürgerlichen Philosophen in der DDR, Rudolf Schottlaender.
Doch ungeachtet solcher Petitessen stellt die Studie von Ploenus einen überaus gelungenen Beitrag zur Herrschafts-, Ideologie und Universitätsgeschichte der DDR gleichermaßen dar. Sie zeigt, wie der ML machtvoll institutionalisiert wurde und Generationen von Studierenden förmlich malträtierte. In den 1980er Jahren waren die "MLer" an den Universitäten ebenso wie in den 1950er Jahren der verlängerte Arm der SED-Führung und ihrer Macht- und Herrschaftsinstrumente. Sie agierten nun etwas klüger und gewandter als das "Neue Deutschland" oder Karl Eduard von Schnitzler (297), aber ihre Akzeptanz war nicht höher. Das Buch von Ploenus ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Beschäftigung mit der Herrschaftsideologie der Kommunisten alles andere als langweilige Produkte zutage fördern muss. Es sind nicht so sehr die überraschenden Erkenntnisse, die das Thema lohnend machen. Aber sie offerieren viele neue Einsichten in die Herrschaftspraxis, so dass unser Wissen über die Funktionsweise des kommunistischen Systems erheblich bereichert wird. Es bleibt zu wünschen, dass das Buch von Michael Ploenus andere dazu anregt, sich auch näher mit den Herrschafts- und ML-Strukturen wissenschaftlich zu beschäftigen. Nicht nur, dass zu keinem anderen ML-Universitätsinstitut eine vergleichbare solide Studie vorliegt, auch die großen Einrichtungen der SED wie das Institut für ML beim ZK der SED, die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, die Parteihochschule "Karl Marx" und nicht zuletzt das ZK der SED mit seinem großen Apparat selbst harren ihrer Bearbeiter. Michael Ploenus hat eine erste Schneise geschlagen, die als Orientierung gelten kann.
Ilko-Sascha Kowalczuk