Gordon P. Kelly: A History of Exile in the Roman Republic, Cambridge: Cambridge University Press 2006, x + 260 S., ISBN 978-0-521-84860-2, GBP 40,00
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Dem umfassenden Anspruch, den der Titel suggeriert, tritt Kelly im ersten Absatz entgegen: "this study is not intended to be an all-inclusive treatment of the topic, but rather as a beginning for further investigations of Roman exile" (IX). Tatsächlich handelt das Buch vor allem vom 'freiwilligen' Gang vornehmer Römer in die Verbannung, um ein (Todes-)Urteil in einem Gerichtsverfahren zu vermeiden. Miteinbezogen sind die relegatio, die magistratische Ausweisung von Fremden und (seltener) Bürgern aus dem ager Romanus, sowie die erst in den letzten Jahrzehnten der Republik verhängte Verbannung als Strafmaßnahme. Kategorien von Exil, die sich nicht juristisch fassen lassen, bleiben dagegen ausgeklammert, so der Rückzug aus Rom nach politischen Niederlagen (prominentestes Beispiel: der späte Scipio Africanus) und innere Emigration (wofür die Quellen fehlen). Der Ausschluß der Proskribierten erscheint zunächst überraschend, wurden die Proskriptionen doch ebenfalls in juristische Formen gekleidet: Doch Sulla und später die Triumvirn wollten die Männer auf ihren Listen töten und nicht bloß verbannen, und das Exil bot den Entkommenen nie einen sicheren Hafen. Den inneren Bezug zum exilium übersieht Kelly freilich nicht: Anders als früher kehrten Exilierte im ersten Jahrhundert öfters heim - das Volk rief sie zurück, Bürgerkriegsgeneräle nahmen Verbannte in großer Zahl in ihre Reihen auf -, und deshalb konnte, wollte Sulla sich nicht mit einer bloßen Verbannung seiner Feinde zufriedengeben. Die Rückkehrmöglichkeit verschärfte also politische Auseinandersetzungen, und das kompromittierte die pazifizierende Systemfunktion des exilium entscheidend. Durch die Vermeidung von kapitaler Bestrafung wurde das politische und persönliche Risiko ursprünglich gemindert, durch das Exil Konflikte dennoch eindeutig entschieden und insgesamt ein Kampf bis zum letzten unnötig gemacht. Ein Punkt ist dieser, meiner Meinung nach korrekten Analyse hinzuzufügen: Dass Angehörige der Elite sich überhaupt einem Prozeß stellten, hatte an sich schon einen stabilisierenden Effekt. Das Problem lag darin, dass die Römer in ihren Beziehungen zu Magistraten, auch Anklägern, vor allem die Person sahen, nicht das Amt. Wären Senatoren regelmäßig hingerichtet worden, wäre der Gegensatz zwischen den jeweiligen Hinterbliebenen und den 'Schuldigen' am Prozeß unaufhebbar und der gewünschte Basiskonsens (Kellys concordia) in der res publica kaum mehr herzustellen gewesen.
Neben solchen Definitionsfragen steckt die Einleitung (1-15) den zeitlichen Rahmen ab: die Periode zwischen 220 und 44 v. Chr. Der Anfang ist vernünftig gewählt, da wir aus den Jahrhunderten davor nichts oder nichts Verläßliches wissen, ein Schlusspunkt im Jahre 31 hätte eine Behandlung der gesamten Bürgerkriegsperiode ermöglicht. Im zweiten Kapitel ("Exilium: Legal and Historical Issues", 17-67) arbeitet Kelly heraus, wie eine Verbannung überhaupt ablief. Das ist gar nicht so einfach, denn die nur 65 überlieferten Fälle bieten meist unzureichendes und oft widersprüchliches Material. Jedenfalls fehlt es nicht an einer Fülle moderner Interpretationen, von denen Kelly die jeweils schlüssigste untermauert oder denen er seine eigene, für gewöhnlich überzeugende hinzufügt: so etwa, dass es kein Recht auf Exil (anstelle von kapitaler Bestrafung) gab; dass die aquae et ignis interdictio, vom Volk verhängt, dem freiwilligen Exil routinemäßig folgte; dass man zu Verbannung erst in den sechziger und fünfziger Jahren, also deutlich nach Sullas Reformen, verurteilt werden konnte; dass der Exilierte sein Bürgerrecht behielt; dass er in der Wahl seines Verbannungsortes frei war, unabhängig vom ius exulare, das Rom mit einigen italischen Gemeinden verband.
Das nächste, chronologisch angelegte Kapitel gilt der Zeit bis zum Bundesgenossenkrieg (69-92). Bis zum Ende des zweiten Jahrhunderts ließen sich Exilierte meist in Italien nieder, so nahe wie möglich an Rom. Manchmal lebten in demselben Ort mehrere Verbannte, die sich gegenseitig unterstützen konnten. Seit der Gracchenzeit wurden außeritalische Regionen populär: Die heftigen, oft gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Stadt ließen es angebracht erscheinen, etwas mehr Distanz zwischen sich und Rom zu legen. Ihren Teil trugen auch die Spannungen zwischen Römern und Italikern bei. Vor allem Athen, Rhodos und die kleinasiatischen Küstenstädte waren beliebt. Die adriatische Gegenküste, Dyrrhachium und Westgriechenland, bot weniger Zerstreuung, dafür gestaltete sich die Kommunikation mit der Stadt einfacher. Hier verweilten deshalb diejenigen, die auf ihren baldigen Rückruf hofften. Diese Möglichkeit eröffnete sich nun immer häufiger, ebenfalls bedingt durch die Polarisierung der Innenpolitik, in der Verbannungen nicht mehr vom Konsens der res publica getragen wurden, sondern als Kollateralschaden galten, der bei einem Umschwung der Kräfteverhältnisse behoben werden konnte.
Der vierte Abschnitt handelt von der anschließenden Epoche bis zum Tod Caesars (93-131). Kelly argumentiert überzeugend, dass das nunmehr vollständig eingemeindete Italien nicht sofort, sondern erst mit der Zensur von 70 und vor allem mit der Erneuerung des Volkstribunats - die Tribunen konnten Anträge zur aquae et ignis interdictio wieder vor das Volk bringen - als Exilort ausschied. Im Mittelpunkt des Kapitels steht natürlich das Exil Ciceros, über das wir so gut wie über kein anderes informiert sind, von den Auseinandersetzungen im Vorfeld über das Leben in Griechenland und das Lobbying in Rom bis zur triumphalen Rückkehr. Die meisten Exilierten dieser Jahrzehnte kehrten allerdings aufgrund gewaltsamer Umstürze heim, im Gefolge der Bürgerkriege. Die Verbannten wurden nicht mehr individuell, sondern aufgrund allgemeiner Gesetze in Gruppen zurückgerufen.
Im letzten Kapitel (133-160) fasst Kelly mehrere Themen zusammen, zunächst Begleiter der Exilierten - Sklaven, Freigelassene, Gesinnungsgenossen, aber nicht Frau und Kinder, was die Karrierechancen der Söhne erhalten und Bemühungen um eine Rückberufung fördern sollte -, dann das Bemühen um Mitnahme und Erhalt des Vermögens, das meist konfisziert wurde. Es folgt ein Überblick über die Selbststilisierung der Exilierten, in dem Cicero nur den Höhepunkt, keineswegs den Anfang markiert. Die Verbannten beschrieben sich, nicht weiter überraschend, als Opfer, die um des Vaterlandes willen die Fremde auf sich nahmen, gelassen das Exil erduldeten und gegebenenfalls als moralische Sieger zurückkehrten.
Auf fast 60 Seiten (161-219) gibt Kelly eine Prosopographie der Exilierten in zeitlicher Reihung: 65 Nummern (gewöhnlich Individuen, nur selten Gruppen [Nr. 1, "Certain Matronae"]), mit RE-Nummer, höchstem Amt, Verbannungsjahr sowie Dokumentation und, wo notwendig, Analyse der Ereignisse. Den Band beschließen eine knappe Zusammenfassung, zwei Appendices, von denen eine von Clodius' Gesetzen gegen Cicero handelt, ein Literaturverzeichnis und ein Personen-, Orts- und Sachregister (221-260). Ein Stellenregister fehlt.
Kelly versteht es, in seiner Darstellung die Charakteristika römischen Exils unauflöslich mit dem Schicksal einzelner Verbannter zu verweben. Das macht das Buch gut lesbar, aber weniger als Nachschlagewerk brauchbar. Dem letzteren, ohnehin verkraftbaren Umstand hilft zum Teil der Katalog der Exilierten ab. Störend macht sich jedoch immer wieder Kellys schmale Literaturbasis bemerkbar. Die Spezialliteratur zum Exil und zu den einzelnen Personen ist zwar erfasst, alles darüber Hinausgehende scheint Kelly aber nur am Rande, wenn überhaupt zur Kenntnis genommen zu haben. Zum Beispiel: Bei der Parallelisierung des ius exulare mit dem ius migrandi wäre die Heranziehung von Broadheads Artikel, der die Existenz des ius migrandi mit guten Gründen bestreitet, hilfreich gewesen (55f., 60), zur Datierung der Scipionenprozesse ist auch nach Scullard grundlegende Literatur erschienen (27), die selbstverständliche Anführung einer lex Iulia municipalis von 45, ohne jeden Hinweis auf die intensive Forschungsdebatte um Charakter und Zeitpunkt des auf der Tabula Heracleensis festgehaltenen Textes, verwundert mich (36 Anm. 74, 103), und die ausführlichen Spekulationen über den Einfluss publizierter Briefe Metellus Numidicus' auf die öffentliche Meinung hätte ein Blick in Eichs Buch über politische Literatur auf ein gesundes Maß zusammenschrumpfen lassen (85-87, 143f.). [1] Nicht nur deutsche Literatur hat Kelly also in hohem Umfang übersehen, sondern auch englischsprachige. Dieses Defizit hindert mich, Kellys Buch als Standardwerk anzusprechen, ein Rang, den es sonst verdient hätte, wegen seiner quellen- und problemnahen Analyse und wegen der umsichtigen und sicheren Urteile seines Verfassers. Aber das ist immer noch weit mehr, als Kelly im ersten Absatz ankündigt.
Anmerkung:
[1] William Broadhead: Rome's Migration Policy and the So-called ius migrandi, in: Cahiers du Centre Gustave Glotz 12 (2001), 69-89; Erich S. Gruen: The "Fall" of the Scipios, in: I. Malkin / Z. W. Rubinsohn (eds.): Leaders and Masses in the Roman World. Studies in Honor of Zvi Yavetz, Leiden u. a. 1995, 59-90; Armin Eich: Politische Literatur in der römischen Gesellschaft. Studien zum Verhältnis von politischer und literarischer Öffentlichkeit in der späten Republik und frühen Kaiserzeit, Köln u. a. 2000. Zur Tabula Heracleensis vgl. nur die Standardedition von C. Nicolet und M. H. Crawford in M. H. Crawford (ed.): Roman Statutes, London 1996, 355-391.
Rene Pfeilschifter