Wolfgang Wippermann: Die Deutschen und der Osten. Feindbild und Traumland, Darmstadt: Primus Verlag 2007, 160 S., ISBN 978-3-89678-343-1, EUR 19,90
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In letzter Zeit hat sich die Geschichtswissenschaft verstärkt mit dem Bild beschäftigt, das sich die Deutschen in der Vergangenheit vom "Osten" gemacht haben. In diesen Kontext ist auch die jüngste Studie des Berliner Historikers Wolfgang Wippermann einzuordnen. Sie liefert einen historischen Abriss deutscher Blicke nach Osten, die - so Wippermanns Befund - stark mythisiert waren und kaum realgeschichtliche Entsprechungen besaßen. Dennoch beeinflussten sie Einstellung und Handeln der Deutschen, die ihre östlichen Nachbarn zwar gelegentlich bewunderten, sich ihnen gegenüber allerdings - das betont Wippermann - oft grenzenlos brutal verhielten. Sein Buch behandelt die diskursiven Grundlagen und mentalen Dispositionen, die dieses Verhalten vorformten. Daher führt der Titel "Die Deutschen und der Osten" in die Irre, denn eigentlich geht es in dem Buch um die Vorstellungen, die sich die Deutschen vom "Osten" machten. So hat sich eine Vergegenständlichung des imaginierten Ostens in den Titel eingeschlichen, die genau für diejenigen deutschen Debatten um "den Osten" typisch ist, die Wippermann mit dem Instrumentarium der Stereotypenforschung zu dekonstruieren versucht.
Wippermann spannt in neun essayhaften Kapiteln einen weiten historischen Bogen, ausgehend von den Ost-Perzeptionen des Papsttums der Spätantike über die der Altpreußen, Preußen und Schwaben bis hin zu den Ost-Imaginationen der Deutschen der Gegenwart. Wippermann verfolgt vielfältige Repräsentationen eines "Ostens", welche die Diskursgemeinschaften zu verschiedenen Zeiten kreierten, und ordnet sie vier Typen zu (9, 121). Von einem "religiösen Osten" christlicher Heilserwartung unterscheidet er den "orientalischen Osten", der als "islamischer Kulturkreis" vor allem in den Gegenwartsdebatten als alter ego westlicher Zivilisationen interpretiert wird. In früheren Zeiten erschien ein "europäischer Osten" als Einflusssphäre und Kolonisationsraum. In seiner Verlängerung erblickten die Deutschen im 20. Jahrhundert einen "politischen Osten", aus dem Sowjetkommunismus und Staatssozialismus den Westen herausforderten. In den Quellen gehen diese Typen freilich fließend ineinander über, und auch in der Darstellung mangelt es gelegentlich an Trennschärfe.
Das Buch fällt durch seine expressive Entschiedenheit auf. Wippermann thematisiert exzentrische und polarisierte deutsche Vorstellungen des Ostens und zeichnet damit ein zugespitztes Bild einer Nation, die einfach kein vernünftiges Verhältnis zu ihren östlichen Nachbargesellschaften finden konnte und statt dessen mit ihren stets emotionalisierten, stereotypisierten und ins Extrem überzogenen Zugängen eine Gefahr für diese darstellte. Während Wippermann den deutschen Orientalismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Vergleich zum Blick der Briten und Franzosen auf Kleinasien und den Orient als weit positiver darstellt, sieht er eine lange Tradition der "generell besonders grausamen" deutschen Kriegsführung im europäischen Osten. Angeheizt von Feindbildern eines barbarischen Russlands sei die Zivilbevölkerung hier häufiger als anderswo ein direktes Ziel der Feldzüge gewesen. Chronisten des deutschen Ordens hätten schon im 16. Jahrhundert Kriegserfolge daran gemessen, wie viele Dörfer zerstört und wie viele Menschen versklavt worden waren. (36f.)
Wippermann betont die Häufigkeit konservativer Bezugnahmen auf den Osten sowohl in antimodernen Hinwendungen als auch in antibolschewistischen Abgrenzungen. Er erwähnt die Begeisterung für Puschkin und Dostojewski, aber auch eine Überformung des europäischen Ostens als Refugium in der Auseinandersetzung mit der Moderne, der Demokratie und dem Individualismus. In diesem Kontext haben deutsche Vordenker der Nation sogar innere Erneuerung im Osten gesucht, beispielsweise Ernst Moritz Arndt in seinem Lob der "edlen Rasse der Russen". Das lag freilich vor allem daran, dass Russland damals als Bezwinger Napoleons und Verbündeter in der antifranzösischen Allianz galt (46). Später verblasste diese Hinwendung hingegen vor dem kolonisatorischen deutschen "Drang nach Osten". Der "deutsche Osten" sollte Teil eines Europas der Deutschen werden. Um die Expansion nach Osten zu rechtfertigen, vereinnahmten die Nationalsozialisten den Begriff "europäische Kultur", um damit nicht nur Zwangsumsiedlungen und Vernichtung, sondern auch die Neuordnung Europas zu legitimieren. Wippermann zitiert einen General der 6. Armee, der ein Jahr vor deren Niederlage in Stalingrad die Verteidigung eines "europäischen Kulturkreises" als Vorwand für die "Ausrottung des asiatischen Einflusses" und für den Vernichtungskrieg verwendete (79). Wippermann weist jedoch darauf hin, dass der "Ostimperialismus" in vielen politischen Lagern vertreten war (66). Dieser griff auch in den Wissenschaften um sich, beispielsweise im Lob der Ostkolonisation bei Heinrich von Treitschke und Karl Lamprecht. Ex negativo deutete er sich in Max Webers Warnen vor "polnischem Vordringen" und "slawischen Fluten" (64f.) an. Angerissen werden in diesem Zusammenhang auch die deutsche "Lebensraumforschung" (66f.) und die "Ostforschung" (70ff., 90).
Sehr weit geht Wippermanns Versuch, Verbindungslinien zwischen Wissenschaft und nationalsozialistischer Vernichtungspolitik zu ziehen, indem er eine Denkschrift Theodor Schieders als Zuarbeit zum "Generalplan Ost" interpretiert. Die Denkschrift, die "Bevölkerungsverschiebungen" und "Entjudung" das Wort redet, teilte sicher den Rassismus und die Menschenverachtung ihrer Zeit. Dennoch scheint die These einer direkten sachlichen Verbindung überzogen, denn allein die indirekte Weitergabe des Papiers an das "Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums" genügt nicht, um eine Linie zum dort entstandenen "Generalplan Ost" Konrad Meyers zu ziehen (75).
Auch übernimmt er eine fragwürdige sowjetische Angabe von 40 Millionen Kriegsopfern und präsentiert sie als "neueste Schätzung". Der sowjetische Ethnologe Wiktor Koslow hatte sie ermittelt, indem er - anstatt die Kriegsopfer zu zählen - einen "demografischen Verlust" berechnete, der aus der Differenz zwischen einem hypothetischen Bevölkerungswachstum und der tatsächlichen Bevölkerungszahl nach dem Krieg resultierte. Nach dem Abzug "nicht geborener Kinder" bliebe noch eine Zahl von 40 Millionen zwischen 1941 und 1946 "frühzeitig Gestorbenen". [1] Wippermann bezeichnet diese Größe unkritisch als Anzahl der "Sowjetbürger, die einem ideologischen Vernichtungskrieg zum Opfer fielen" (80).
Allerdings ist die Zahl der Opfer - zumal in diesen Dimensionen - ohnehin von nachrangiger Bedeutung, dient sie doch lediglich dazu, bereits gefestigte Thesen mit noch höheren Zahlen zu untermauern. Mit welchen Mitteln sich Deutsche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts "ihren Osten" anzueignen versuchten, liegt so oder so jenseits aller heutigen Vorstellungskraft. Mehr Erkenntnis bringt es hingegen, deutsche Projektionen auf den Osten in ihrem zeitlichen Kontext zu analysieren und zu dekonstruieren. [2] Damit werden die Umstände erhellt, die das heute glücklicherweise Unvorstellbare hervorbrachten. Trotz aller Kritik bieten Wippermanns leicht lesbare und kompakte Essays zu den deutschen Ost-Perzeptionen und ihren Folgen anschauliche und mit Quellen fundierte Einblicke in die Kontroversen um die deutschen Beziehungen zu Ost- und Ostmitteleuropa. Die politisch pointierende Darstellungsweise vermittelt dem Leser eine Vorstellung davon, wie fatal sich der kollektiv imaginierte Osten auf das Auftreten von Deutschen gegenüber ihren östlichen Nachbarn auswirkte.
Anmerkungen:
[1] Wiktor Koslow: Menschenopfer und Materialverluste der Sowjetunion im Krieg 1941-1945, in: Klaus Meyer / Wolfgang Wippermann: Gegen das Vergessen. Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, Berlin 1991, 157-169, hier 160f.
[2] Vgl. Gregor Thum (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. Diese Zusammenstellung beschränkt sich nicht nur auf Elitendiskurse, sondern untersucht populäre Perzeptionen eines "Deutschen Ostens" kulturhistorisch.
Diese Rezension wurde freundlicherweise von der Redaktion "Bohemia" zur Verfügung gestellt. Sie erscheint in leicht gekürzter Form in Bohemia 47 (2006/2007), Heft 2.
Christian Domnitz