Rezension über:

Joline Blais / Jon Ippolito: At The Edge Of Art, London: Thames & Hudson 2006, 256 S., ISBN 978-0-500-23822-6, EUR 32,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Barbara U. Schmidt
Ludwig Boltzmann Institut Medien.Kunst.Forschung., Linz
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Barbara U. Schmidt: Rezension von: Joline Blais / Jon Ippolito: At The Edge Of Art, London: Thames & Hudson 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 2 [15.02.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/02/13849.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Joline Blais / Jon Ippolito: At The Edge Of Art

Textgröße: A A A

Als Hybridmedium, das viele Funktionen in sich vereinigt, entfaltet der Computer seine entdifferenzierenden Qualitäten mit weit reichenden Konsequenzen auch im Bereich der Kultur: Hier lösen sich die Grenzen zwischen Freizeit, Unterhaltung, Information und Kunst und damit auch die Unterscheidungen zwischen Profis und AmateurInnen, zwischen Kunst und Aktivismus, zwischen freier und angewandter Gestaltung in zunehmendem Maße auf. Joline Blais und Jon Ippolito gehen diesen Transformationen nach, die mit der Netzkunst ihre vorläufig radikalste Ausprägung gefunden haben. Beide arbeiten seit langem engagiert daran, Projekten im Bereich der neuen Medien und deren AkteurInnen Akzeptanz zu verschaffen. Unter dem Titel "At the Edge of Art" prognostizieren sie kein neues 'Ende der Kunst', vielmehr wollen sie das Kunstsystem um die spezifische digitale Praxis und Ästhetik erweitern.

Dazu wird in der Einführung zunächst unterschieden zwischen Technologie und Kunst und festgestellt: "Unlike art but like a virus, technologies often seem indifferent to culture rather than engaged with it. Some seem downright hostile to humanity" (9). Und weiter wird differenziert: "it is not technology per se that is a virus but technological concepts, conscious or unconscious" (10). Den bedrohlichen Potenzialen neuer Technologien wird Kunst als "antibody" gegenübergestellt, der sich über die Kanäle des Internet verbreitet. Man denkt hier zunächst an Marshall McLuhans Paradigma der Medien als Ausweitung des menschlichen Körpers. Tatsächlich wird der Publikation ein Zitat von ihm, in dem er von den Möglichkeiten der Kunst als "information about how to rearrange one's psyche in order to anticipate the next blow from our own extended faculties" spricht, vorangestellt. Damit betonen Blais und Ippolito auch ihr Verständnis von Kunst als Einmischung und Handlungsanweisung anstelle reiner Repräsentation oder materieller Wertschöpfung. Mit dem Vergleich von Kunst als Antikörper wird außerdem das Prinzip der Selbstregulierung angesprochen, so wie es Niklas Luhmann für das Kunstsystem beschreibt. Bei ihm bleibt Kunst zunächst autonom, auf sich selbst bezogen im Sinne eines strukturdeterminierten Systems, das sich durch seine Operationen modifizieren kann, ohne sich dabei aufzulösen. Auch wenn nicht dezidiert auf Luhmann Bezug genommen wird, so korrespondiert diese Auffassung mit dem zentralen Aspekt des Buches, das Kunstsystem um computer- und netzbasierte Arbeiten zu erweitern und es nach außen weiterhin abzugrenzen. Ein solches Abschotten unterläuft aber die ebenfalls erhobene Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz. Blais und Ippolito versuchen, den Widerspruch mit einer Synthese aus Systemtheorie und subversiv-gegenkulturellem Anspruch zu lösen, indem sie die Funktion der Kunst als Antikörper gleichermaßen als internen Mechanismus der Selbstregulierung und externe gesellschaftliche Aufgabe der kritischen Medienreflexion definieren.

Auf dieser Basis werden in sechs Kapiteln die "Randbereiche" der Kunst untersucht: Programmierung, Computerspiele, Online-Autobiografie (z. B. mittels Webcams, Blogs), politischer Aktivismus, Digital Communities, Artificial Life. Aus jedem dieser Bereiche wird ein Spektrum an Arbeiten und Projekten vorgestellt, die nicht ausschließlich dem Kunstkontext entstammen. Jedem dieser Kapitel ist durch das Layout eine Farbe zugeordnet, so dass einerseits der Eindruck einer Systematisierung entsteht. Andererseits wird hier aber nur eine Auswahl der internetbasierten Kunst diskutiert - Musik und Literatur fehlen weitgehend - und damit nicht der Anspruch eines umfassenden, lückenlosen Theoriemodells erhoben.

Die vorgestellten Arbeiten werden interpretiert im Hinblick auf ihre Funktionen als "Antikörper", von denen es ebenfalls genau sechs - zu jedem Bereich die entsprechende - gibt: "perversion - misusing programming, pixels, or paint to produce a multitude of forms; arrest - catching the eye or giving pause; revelation - seeing something in a new way; execution - propagating outside the studio or gallery to affect distant people or events; recognition - attracting public notice as worthy of attention; and perseverance - enduring beyond the moment to serve as cultural heritage." (231) Diesen Funktionen gemeinsam ist der kritische Umgang mit neuen Medien und Technologien, der sich als eine Art Leitdifferenz, als Kriterium zur Unterscheidung und Abgrenzung herausbildet. Hier scheint zunächst der kritischste Punkt dieses Konzepts zu liegen: Die Qualitäten von Antikörpern (= Kunst) werden mal auf der Ebene der Technologie, mal der Infrastruktur, des Contents oder der zugänglich gemachten Informationen gesucht und sind stark von Interpretationen abhängig und damit variabel; der Code einer eindeutigen Struktur, die im Sinne Luhmanns die Zugehörigkeit zu einem System regelt, ist hier nicht zu erkennen. Diese Offenheit im Zuschreibungssystem ist aber einkalkuliert, denn die Funktion der Anerkennung übernehmen zunächst die im Internet aktiven KünstlerInnengruppen und Communities, entsprechend ihrer jeweiligen Prämissen. Blais und Ippolito widmen diesen internen Mechanismen der Kommunikation im Funktionssystem der Netzkunst einen großen Teil ihrer Schlussbetrachtung. Für sie tritt die interne Diskussion der AkteurInnen an die Stelle eines Kanons, auf den Bezug genommen werden kann, oder der Selektionsmechanismen des Kunstbetriebs. Was so entsteht, ist ein Gefüge aus Nuancen und Variationen, in denen sich das essenzielle Potenzial der Netzkunst manifestiert. Eindeutigkeiten können - und sollen - auf diesem Wege nicht mehr hergestellt werden; so wird auch der eigene Anspruch auf Gültigkeit relativiert und für ein Modell der Vielfalt plädiert. Das klingt in der Theorie plausibel, wir wissen aber aus der Praxis, dass nie nur systeminterne Kriterien über Ein- und Ausschluss entscheiden, sondern auch die Verteilung von Macht und Ressourcen eine wichtige Rolle spielen. Das interesselose Aushandeln von Zuschreibung und Anerkennung und die friedliche Koexistenz einer Multitude von AkteurInnen erscheint unter diesen Aspekten eher als gegenkulturelles Pathos. Dennoch ist dieses Modell, das versucht, der Ausdifferenzierung der visuellen Kultur und dem Funktionswandel der Kunst gerecht zu werden, einem linearen Fortschrittsdenken eindeutig vorzuziehen.

Die Verflochtenheit der Netzkunst mit ihren AkteurInnen bedeutet einerseits, dass ein Publikum rasch und gezielt angesprochen werden kann, dass die Reichweite von Netzkunstprojekten oft aber auch nicht über diese Gruppen hinausgeht. Dem tritt das Buch entgegen mit dem Versuch, durch reiche Bebilderung und viele Einzelbeschreibungen das Interesse einer größeren Öffentlichkeit zu gewinnen. Welche Öffentlichkeit könnte das sein? In der Publikation werden NetzaktivistInnen die Qualitäten des Visionären und Subversiven, das Voraussehen und kritische Reflektieren künftiger Entwicklungen zugeschrieben; das Publikum jenseits der Communities wird direkt oder indirekt als Laien mit relativ konventionellen Kunstvorstellungen und eher unreflektiertem Konsumverhalten dargestellt. Diese Polarität entspricht nicht den gängigen Praktiken der visuellen Kultur, die ebenfalls vielfältig und ausdifferenziert sind. So wie das Kunstsystem durch die Medialisierung der Gesellschaft einen Funktionswandel erfahren hat, den Joline Blais und Jon Ippolito treffend umreißen und in seinen Auswirkungen diskutieren, so haben sich auch die RezipientInnen von Kunst geändert. Sie bilden kein mehr oder weniger homogenes Laienpublikum; viele von ihnen sind selbst kundige User oder sogar Produser, ein neuer Typus von AmateurInnen, die über umfassendes technisches Know-how und entsprechende kreative Strategien verfügen. Um auch diese Entwicklungen zu verstehen und in das Konzept von digitaler Kunst, deren Legitimation und Vermittlung aufzunehmen, bedarf es weiterer "Edge Studies". "At the Edge of Art" kommt das Verdienst zu, solche weiterführenden Fragen anzuregen.

Website zum Buch: http://at-the-edge-of-art.com/

Barbara U. Schmidt