Rezension über:

Johannes Grave: Der "ideale Kunstkörper". Johann Wolfgang Goethe als Sammler von Druckgraphiken und Zeichnungen (= Ästhetik um 1800; Bd. 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 648 S., 71 Abb., ISBN 978-3-525-47503-4, EUR 69,90
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Rezension von:
Norbert Wolf
München
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Wolf: Rezension von: Johannes Grave: Der "ideale Kunstkörper". Johann Wolfgang Goethe als Sammler von Druckgraphiken und Zeichnungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 3 [15.03.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/03/13058.html


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Johannes Grave: Der "ideale Kunstkörper"

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Friedrich Nietzsche beginnt das zweite Stück seiner 1873 erschienenen "Unzeitgemäßen Betrachtungen", d.h. die kultur- und zeitkritische Untersuchung "Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben", mit einer Eloge auf Goethe. Diesem sei alles verhasst gewesen, was lediglich dem Bildungsinteresse diente und keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Leben besaß. Ohne den von Goethe propagierten Bezug zur gestaltbaren und gestalteten Lebenspraxis bleibe - das macht Nietzsche zum Inhalt seiner Schrift - historische Beschäftigung jeglicher Art überflüssiger Luxus.

Der Brückenschlag zwischen historischer Herangehensweise und überhistorischer, nach schöpferischer Tat verlangender Idealität prägte Goethes Umgang mit der bildenden Kunst und strukturierte seine zeichnerische Tätigkeit (mehr als zweieinhalbtausend Blätter seiner Hand sind erhalten) ebenso wie seine zuletzt auf 9179 Druckblätter und 2512 Handzeichnungen angewachsene Grafiksammlung. In bewundernswerter Stringenz hat Johannes Grave diese Zusammenhänge in einem Buch herausgearbeitet, das zu der von Reinhard Wegner herausgegeben verdienstvollen Reihe "Ästhetik um 1800" und hier speziell zum Sonderforschungsbereich "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800" gehört.

Um 1780 begann Goethe in Weimar mit dem Aufbau seiner einschlägigen Kollektion. Auf der Rückreise von Italien nach Weimar hielt er 1788 in einem Notizheft schließlich die Maxime fest: "Nicht von der Kunst in abstracto". Die selbst auferlegte Ablehnung eines jeden, von der sinnlichen Werkanschauung abstrahierten "Kunstgeschwätzes" konterkarierte freilich in den kommenden Jahrzehnten Goethes unablässiges Interesse für kunsttheoretische bzw. kunstpädagogische Fragen. Sie traf also auf seine - seit 1798 vor allem in der Zeitschrift "Propyläen" sowie seit 1799 in den Ausschreibungen der Weimarer Preisaufgaben - manifeste Suche nach einem universalen Kunstideal. Die Goethesche Gratwanderung zwischen sinnlicher Anschauung konkreter Kunstwerke und kunsttheoretischer, normativer Systembildung nimmt Grave zum Ausgangspunkt. Er exemplifiziert sie in zwei Untersuchungsschritten. Der erste, größere Teil seines Buches verfolgt chronologisch (allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung einzelner Phasen) Goethes Entwicklung als Sammler von Druckgrafiken und Zeichnungen, der zweite Teil diskutiert - im Vergleich mit zeitparallelen Phänomenen und (besonders wichtig!) in Relation zu Goethes Methoden des Naturstudiums - die Evidenz von Goethes Sammlungskonzept, das sich im Laufe der Jahrzehnte immer prägnanter konturierte. Im permanenten phänomenologischen Rückbezug auf die konkreten Sammlungsbestände will sich Grave vom bisherigen, vornehmlich literaturwissenschaftlichen Blick auf Goethes Schriften zur Kunst absetzen, von einer Zugangsweise somit, die zumeist "in abstracto" funktionierte. Mit Graves Worten: Es soll versucht werden, "von den Beständen und dem konkreten Umgang des Sammlers mit seinem Material auszugehen, anstatt mit einer zuvor aus seinen Schriften erschlossenen Kunstanschauung an den Komplex der von ihm zusammengetragenen Graphiken und Zeichnungen heranzutreten." (15) Dem Autor ist dieses Vorhaben auf wirklich beeindruckende Art und Weise gelungen!

Der Leser wird in die Lage versetzt, Goethes Konzepte anhand des immer wieder umgruppierten Sammlungsbestandes (dessen Aufbau durchaus auch von so "profanen" Dingen wie Sparsamkeit und "Schnäppchenjagd" pointiert war) Schritt für Schritt nachzuvollziehen: von den Leitlinien einer Genieästhetik bis hin zu einem dezidiert kennerschaftlichen Grafikdiskurs.

Erstaunlich ist, wie sehr Goethe, trotz eines vehementen klassizistischen "Intermezzos" im Gefolge der Italienreise, seinen in der Frankfurter Jugend und während seiner Leipziger Studienzeit entwickelten (und in der eigenen Zeichnertätigkeit kultivierten) Neigungen treu blieb, mit anderen Worten: seiner Anerkennung des "bürgerlichen" niederländischen Naturalismus (vor allem auch Rembrandts). Bemerkenswert, weil dem Klischee vom Weimarer Olympier und deutschen Klassiker widersprechend, mit welcher Intensität Goethe darüber hinaus Dürer-Blätter und andere "Altdeutsche" sammelte, die nicht zuletzt sein Augenmerk auf die medialen Besonderheiten der Drucktechniken und der unterschiedlichen Abzugsqualitäten konzentrierten.

Einen Höhepunkt im Buch stellt sicherlich jenes umfangreiche Kapitel dar, in dem Grave den Impulsen zur spezifisch kunsthistorischen Strukturierung der Goetheschen Sammlung nachgeht, die sich nach 1805 allmählich abzeichnete: Die konsequente Neuordnung der Sammlung nach Schulen und chronologisch gereihten Künstlern ließ allerdings noch bis zum Winter 1813/14 auf sich warten. Dann aber galt, so Grave: "Die Kunstgeschichte gab nicht allein die Ordnungsstruktur vor, sie stand auch im Zentrum der Intention des Sammlers." (157)

Grave kann überzeugend nachweisen, dass Goethe eine Sammlung formierte, die sich zuletzt als Material für eine Summe von universalen Kunst-Erfahrungen begreifen lässt, die - parallel zur Goetheschen Natur-Morphologie - das Verhältnis konkreter Kunstwerke zum "Ganzen der Kunst" bestimmen und im Verein mit dem Kunstideal den Impuls zu neuen schöpferischen Leistungen geben will; die also jenem Prinzip gerecht werden sollte, mit dem Goethe in der Einleitung zu den "Propyläen" organisch angelegte Kunstsammlungen als "idealen Kunstkörper" klassifizierte. Grave zieht in brillanter Argumentation die Bilanz: "Goethes Widerstand gegen eine erneute Sakralisierung von Kunstwerken manifestierte sich [...] besonders augenfällig in seiner graphischen Sammlung. Ausgerechnet der 'Klassizist' brachte seine Sammlung gegen einen seines Erachtens kritischen Kult des Meisterwerks [der einem eher lähmenden Historismus und nicht einem lebendigen Neuanfang das Wort geredet hätte, N. W.] in Stellung." (429)

Es ist unmöglich, der Vielzahl der in Graves Buch präsentierten Analysen und Gesichtspunkte (denen sich ein zwar kurzer, aber spannender Abschnitt mit offenen Fragen, ferner ein opulentes Quellen- und Literaturverzeichnis sowie die Dokumentation von Goethes Erwerbungen im Kunsthandel anschließt) in einer Kurzrezension gerecht zu werden. Auf amüsante Details einzugehen, die das Buch ebenfalls bietet - etwa die Art und Weise, wie Goethe seine gesellschaftliche Position als gelindes Druckmittel benutzte, um gelegentlich Grafiken und Zeichnungen "geschenkt" zu bekommen - fehlt hier leider der Platz. So sei nur noch angemerkt, dass der Autor der vorgestellten Publikation (übrigens eines schön aufgemachten und ohne Druckfehler auskommenden Buches, was heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist), über den profunden Inhalt hinaus durch eine ausnehmend gepflegte Sprache besticht und dass er nicht vergisst, durch jeweilige Zusammenfassungen am Kapitel-Ende dem Leser willkommene Erinnerungshilfen zu geben.

Graves magistrale Arbeit bietet sich als ein Standardwerk für jeden an, der sich mit dem (deutschen) Sammlungswesen, der Rolle und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung von Druckgrafik und Zeichnung in der Kultur der Goethezeit, und überdies für jeden, der sich eingehend mit der universalen Persönlichkeit Goethes beschäftigt.

Norbert Wolf