Peter-Klaus Schuster / Wilfried Seipel / Manuela B. Mena Marques (Hgg.): Goya - Prophet der Moderne, Köln: DuMont 2005, 372 S., ISBN 978-3-8321-7563-4, EUR 39,90
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Diese Publikation ist als Katalog der in Berlin und Wien konzipierten Goyaausstellung (2005-2006) konzipiert. Der Katalog ist im positiven Sinne des Wortes auf insgesamt 372 Seiten üppig gestaltet. Die Reproduktionen sind meistens ganzseitig und werden von einer sehr ausführlichen und präzisen Beschreibung samt Bibliografie begleitet.
Die Ausstellung wollte einen Einblick in die verschiedenen Gattungen des gesamten Werkes geben, so wurden auch häufig relativ unbekannte Werke gezeigt: Fünf religiöse Gemälde, mehrere Kabinettstücke, darunter fünf aus dem Jahr 1793 unmittelbar nach seiner schweren Krankheit, viele Vorzeichnungen zu den Caprichos und Zeichungen aus der Spätphase.
Die wissenschaftlichen Beiträge des Katalogs versuchen die Gesamtthese der Ausstellung "Goya - Prophet der Moderne" zu untermauern (Manuela B. Mena Marqués - Werner Hofmann - Peter Klaus Schuster - Moritz Wullen - Wolfram Pichler und Ralph Ubl - Katja Schmitz von Ledebur - Teresa Posada Kubissa - Sabine Penot). Das Ergebnis ist eher ein Kompromiss aus Beiträgen, die verschiedenen Erwartungen entsprechen: Einige sind als Einführung in unterschiedliche Aspekte der Arbeit Goyas zu lesen, andere dagegen enthalten wertvolle, weiterführende Analysen, denen es gelingt, dem Anspruch des Titels der Ausstellung gerecht zu werden.
Manuela Mena Marqués betont die Ambivalenz des Werks von Goya: Diese zeige sich schon in den Kartons für die Wandteppiche. Nach Mena Marqués' Analyse wäre die Auffassung, sie nur als fröhliches Ornat für königliche Gemächer zu sehen, eine reduzierende Betrachtung: Schon in dieser Frühphase können genügend bedrohliche Momente entdeckt werden.
Werner Hofmann zeigt, dass man die Konzeption, die den "Caprichos" zugrunde liegt, auf andere Werke Goyas ausdehnen kann, bei denen sie weniger evident ist. Der Begriff Capricho erfährt im 18. Jahrhundert eine zunehmend positive Wendung und zwar als eine Schöpfung, die außerhalb der allgemeinen und gängigen Regeln liegt, aber aus bestimmten Ideen hervorgegangen ist. In diesem Sinne werden von Hofmann einige auffallende Porträts aus der Anfangsphase ("Conde de Floridablanca" 1783 - "La familia del Infante don Luis de Bourbon" 1783 - "Manuel Osorio Manrique" 1788) als Caprichos analysiert. Bei "La Familia del Infante don Luis de Bourbon" zeigt Hofmann, dass Goya bei der Komposition der Figuren jede hierarchische Struktur zerstört: Die verschiedenen Figuren werden aneinandergereiht. Dabei erhalten sowohl die Mitglieder der Infantenfamilie wie die Dienerschaft die gleiche Bedeutung. Viel raffinierter ist das Spiel im Porträt des Manuel Osorio. Das kleine Kind führt eine Elster als persönliches Spielzeug an einer Leine. Diese wiederum hält in ihrem Schnabel ganz auffallend eine große Visitenkarte mit dem Namen Goyas samt Unterschrift, der Darstellung eines Pinsels, einer Palette und einiger Bücher. Auf diese Weise positioniert sich Goya an einer ziemlich zentralen Stelle des Gemäldes selbst als Künstler.
Im folgenden Essay von Peter-Klaus Schuster wird wieder "capricho Nr. 43" behandelt. Nachdem es seine Position als Ikone des aufklärerischen Denkens im Œuvre Goyas eingebüßt hat, wird hier versucht, es mit der Tradition der Melancholiedarstellungen in Verbindung zu bringen. Außer Dürer werden hier unter anderem Jean Duvet mit dem Titelblatt seines Buches zur Apokalypse von 1555 und das "Alfabeto in sogno" von 1683 angeführt. Diese Tradition zeigt, dass die künstlerische Inspiration als ein Ergebnis des Einwirkens konträrer Kräfte gesehen wurde. So können auch die verschiedenen Tiergestalten, die im Capricho 43 den Künstler begleiten, konträren semantischen Feldern zugeordnet werden, sodass hier schon die ikonografischen Elemente vielschichtiger als gewöhnlich vermutet aufzufassen sind. Der Bruch Goyas besteht vor allem darin, dass das Spiel konträrer Kräfte in der Subjektivität des Künstlers angesiedelt ist.
Ganz neue Wege der Analyse versucht Moritz Wullen. Er geht von der Tatsache aus, dass in der Zeit Goyas durch die Vermehrung neuer Reproduktionsmethoden eine Sprengung lang festgelegter Darstellungskonventionen geschieht. Als ein Sinnbild dieser neuen Situation kann Hogarths Radierung "Die Bilderschlacht" von 1745 gesehen werden. Für ihn entsteht aus dieser Situation eine neue Autonomie der Zeichen. Manche Bilder wollen nicht die Wirklichkeit nachahmen und streben auch nicht nach Wahrheit: Sie entstehen aus dem freien Spiel der Fantasie und wollen nicht viel mehr als das. Unter anderem werden schon die Verfahren der Collage und Montage angedeutet. Aus dieser Herauslösung der Darstellungskonventionen entstehen Figurationen wie die einiger "Disparates" von Goya oder einige der "Pinturas negras", die sich bis jetzt jeder ikonografischen Deutung entziehen. Für Wullen sind das Verfahrensweisen, die eine gewisse Ähnlichkeit zum Umgang mit dem Bild in den Massenmedien wie dem Kino mit seinem Einsatz von "special effects" haben: Es werden damit auch verblüffende und zum Teil rätselhafte Bilder produziert. Das sind in der Tat sehr suggestive Gesichtspunkte. Möglicherweise könnten mit dieser Herangehensweise gewisse, bis jetzt fast unzugängliche Bilder Goyas besser erschlossen werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Goyaforschung diesen Weg weitergeht und vielleicht einige neue Erkenntnisse gewonnen werden können.
Wesentlich eindringlicher sind die Ausführungen von Wolfram Pichler und Ralph Ubl. Sie arbeiten ziemlich streng bildimmanent und konzentrieren sich auf die Frage der Beziehung von Gesicht und Maske. Sie stellen fest, dass in einer ganzen Reihe von Werken Goyas die Gesichter aus den Konventionen des Porträts herausfallen. Die Bilder Goyas, die diesen Bereich betreffen, zielen in verschiedene Richtungen. Besonders spannend ist dabei die Darstellung der Masse, einem neuen sozialen Faktum seit ihrem aktiven Auftreten in der Französischen Revolution. Sie ist in vielen Radierungen als kritische, bedrohliche Menge immer wieder präsent. Dabei sind zwar einzelne Gestalten dieser Masse zu unterscheiden, aber ihre Gesichter sind nicht mehr als ein Haufen fratzenhafter Masken. Die andere Variante sind die Darstellungen des Krieges in den Massenheeren der napoleonischen Feldzüge. Da treten die Soldaten sehr häufig als gesichtslose, anonyme Maschinen auf. Für Wolfram Pichler steht Goya gerade in diesen Fragen am Anfang eines Prozesses, der über Manet und Nietzsche im 19. Jahrhundert bis zu Sartre, Lacan und Foucault im 20. Jahrhundert reicht.
Die besprochenen Ansätze lassen sich schwer zu einem umfassenden Fazit bündeln. Alle gehen von der im Titel der Ausstellung aufgestellten These der besonderen Rolle Goyas im Prozess der Moderne aus. Dieser Standpunkt genießt mittlerweile eine große Akzeptanz in der Kunstgeschichte. Das bringt aber die Gefahr mit sich, dass er zu einem Schlagwort degradiert wird. Auch die Auswahl der Exponate in der Ausstellung gibt per se keine Antwort auf diese Frage, obwohl das Nebeneinanderhängen von Werken aus ganz verschiedenen Gattungen wohl neue Querbezüge ermöglicht.
Mehrere der Beiträge im Katalog haben trotzdem den Versuch unternommen, nochmals vom Schlagwort auf die zugrundeliegende Frage des Anfangs der Modernität zurückzukommen und mit wissenschaftlichem Ernst einige Teilantworten gewagt. Das ist auf jeden Fall ein weiterer Schritt auf dem Weg, die Ambivalenz im Œuvre Goyas in größere Zusammenhänge der Kunstentwicklung unserer Zeit zu stellen und daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Javier Vilaltella