Armin Owzar: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold". Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen Obrigkeitsstaates (= Historische Kulturwissenschaft; Bd. 8), Konstanz: UVK 2006, 482 S., ISBN 978-3-89669-718-9, EUR 54,00
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Es gibt viele Redensarten, deren Anwendung in Alltagssituationen vielleicht sinnvoll ist, dem Bemühen um eine kommunikative demokratische Gesellschaft aber schadet. Einer dieser Sinnsprüche lautet "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold". In einer oft geschwätzigen Gegenwart mag die demokratiefeindliche Wirkung einer solchen Lebensregel nicht unmittelbar einleuchten. Doch mit Blick auf die Achtundsechziger hat Peter Schneider jüngst beklagt, dass nach 1945 nicht nur das "Dritte Reich" beschwiegen worden sei, sondern "alles, was mit Konflikten oder Emotionen in der Familie zu tun hatte". Das Resultat dieser Kommunikationsblockade war die Revolte. Wie aber sah die Situation zwei bis drei Generationen früher aus? Der in Münster lehrende Historiker Armin Owzar hat in seiner Habilitationsschrift mit Blick auf die Realität des "wilhelminischen Obrigkeitsstaates" eindrucksvoll zeigen können, wie das Beschweigen von politischen Fragen den Autoritäten auch damals scheinbar nutzte, das überkommene System vorübergehend stabilisierte und Reformen verzögerte.
Dass der Schwache oder Untergebene - wie das Kind am Mittagstisch - gegenüber vermeintlich oder tatsächlich höher Gestellten schwieg, war die Regel, aber selbst sozial Gleichgestellte fanden selten Gefallen am "Politisieren". Dies mag überraschen, war doch trotz vielfältiger Repression die Meinungs- und Pressefreiheit im Kaiserreich grundsätzlich gegeben und provozierten mannigfaltige Konflikte zu Stellungnahmen. Owzar erinnert beispielhaft an den Kulturkampf, der eben "nicht nur ein Streit über administrative Hoheitsfragen" war, sondern "auch religiöse, regionale, soziale, verfassungspolitische und sogar außenpolitische Fragen" berührte (13). So war Deutschland ein Land der Spannungen, in dem entgegen manchem späteren Urteil nicht einmal der Nationalismus dauerhaft zur Integrationsideologie taugte.
Owzars Untersuchung konzentriert sich auf den Großraum Hamburg der Jahre 1890 bis 1912. Als Hauptquelle dienen ihm die bereits von Richard J. Evans in kleinem Maßstab benutzten "Vigilanzberichte" der Hamburger Kriminalpolizei, die "weder der Denunziation noch konkreten Ermittlungen dienten", sondern ein politisches Stimmungsbild liefern sollten (55). Täglich machten sich inkognito bis zu vier Polizeibeamte auf den Weg, um am Hafen, in Fähren, Bahnhöfen, Geschäften und vor allem in Gastwirtschaften Gespräche zu belauschen. Die Auswertung der Vigilanzberichte ergibt, dass sich in ihrer Freizeit die Bevölkerung "je nach sozialer Lage, konfessioneller Zugehörigkeit, politischer Gesinnung und ethnischer Herkunft" strikt voneinander getrennt aufhielt (404). Nur innerhalb einer sozialen Schicht kamen "Sozialdemokraten und Antisemiten, Christen und Juden, kirchlich wenig oder gar nicht gebundene Katholiken und Protestanten gelegentlich ins Gespräch" (404). Doch dies ist bereits eine Nuance. Generell blieb man unter sich. Owzar nennt dieses Kommunikationsverhalten "präventives Schweigen" zur "Konfliktvermeidung" (405). Ließ sich das Schweigen in Ausnahmesituationen nicht durchhalten, griff eine breite Palette von Tabus, zu denen Politik, Religion, Wissenschaft und Sexualität gehörten: "Kirchentreue, milieugebundene Katholiken sprachen nicht einmal untereinander über Themen wie die Unfehlbarkeit des Papstes oder die Evolutionslehre, geschweige denn mit Protestanten" (406).
Die Scheu vor der politischen Debatte, der "Artikulation von Dissens", war, so weist Owzar unter Bezugnahme auf die Studien von Gunilla-Friederike Budde nach, keineswegs ein generelles europäisches Phänomen. Was in Deutschland nach 1848 auch in bürgerlichen Kreisen verloren ging, intensivierte sich in England: Die gesamte Familie (und nicht nur der Hausherr) las Zeitung, man verfolgte das parlamentarische Geschehen und trat offen für seine Anschauung ein. Wahlkampf fand sogar an den Schulen statt. Owzar weitet den Blick nicht nur über die räumlichen, sondern auch über die zeitlichen Grenzen seines Untersuchungsgegenstands. Er erinnert an den "Privatismus" in der Gesellschaft der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren und reflektiert über deren spätere Politisierung mit zunehmender Distanz zur NS-Zeit.
Freilich steht politisches Bewusstsein nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Kommunikationsverhalten. Gleich zweimal wird eine Studie aus den 1980er Jahren erwähnt, nach der es 11 Prozent der Deutschen "unangenehm" ist, mit Menschen anderer Grundüberzeugungen "zusammen zu sein" (403). Zudem wird man die wilhelminische Gesellschaft keineswegs als politikfern bezeichnen können: Eine Wahlbeteiligung von deutlich über 80 Prozent war die Regel; immer mehr Menschen organisierten sich in Vereinen, Verbänden und Parteien.
Die Ambivalenzen sind so groß, dass Owzars Argumentation bisweilen widersprüchlich erscheint. Nachdem der Leser zwischen Kommunikationsverhalten und politischem Bewusstsein zu differenzieren gelernt hat, wird gegen Ende des Buchs nahe gelegt, die wilhelminische Dialogkultur habe die Weimarer Republik von Anfang an geschwächt. Schichtenübergreifende Integrationsversuche wie die des "Reichsbanners", Sozialdemokraten und Zentrumsanhänger zusammenzufassen, seien gescheitert. Oberschichtangehörige seien angesichts der Novemberrevolution völlig überrascht gewesen, weil sie aufgrund ihres Desinteresses für die Lage des einfachen Volks deren Nöte nicht wahrgenommen hätten. Owzar zitiert in diesem Zusammenhang Martin Niemöllers berühmtes Wort, nach dem er bei der Verfolgung erst der Kommunisten, dann der Sozialdemokraten und später auch der Katholiken durch die Nationalsozialisten geschwiegen habe: "Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte" (426). Freilich warnt Owzar vor zu weitgehenden Schlüssen, mangelt es doch für die Zeit zwischen den Vigilanzberichten der Kaiserzeit und den demoskopischen Erhebungen der fünfziger Jahren an ähnlichen wertvollen Quellen, die Schlüsse auf das Denken und Kommunizieren der Bevölkerung zulassen.
Anregend sind derartige Überlegungen zweifellos. Dies gilt auch für viele, teilweise in Exkursen abgehandelte Sonderfragen, denen sich die Studie widmet. Erinnert wird an die starke Prägung der weiblichen Lebenswirklichkeit durch Anstandsregeln, die das Kommunizieren der Frauen im öffentlichen Raum erheblich erschwerten. Allein auszugehen war unschicklich und zudem für Arbeiterinnen kaum erschwinglich. Entsprechend niedrig war die "Kommunikationsfrequenz zwischen den Geschlechtern". Frauen trafen sich nicht wie Männer in Kneipen, sondern nutzten den Kirchenraum mit seiner "exklusive[n] Kommunikationsfunktion" (257). Geschlechter- und Schichtenzugehörigkeit waren auch bei Homosexuellen die dominierenden Faktoren: "Ein homosexueller Bürger und ein homosexueller Arbeiter mochten derselben Subkultur angehören, in denselben Lokalen verkehrten sie gemeinhin nicht" (244).
Viele dieser Erkenntnisse überraschen nicht, doch ist es Owzars Verdienst, inhaltsreiches Quellenmaterial im Sinne einer kommunikationshistorischen Analyse ausgewertet und somit mache Vermutung auf eine solide Basis gestellt zu haben. Verzerrungen, die durch die Konzentration auf das liberale Hamburg im Bild des gesamten Deutschen Reichs entstehen könnten, verhindert Owzar durch die Einbeziehung überregionaler zeitgenössischer Periodika und Literatur, vor allem aber durch vorsichtige Formulierungen. Die überzeugende klare Gliederung kann nur bedingt das Fehlen eines jeglichen Registers erklären.
Ralf Forsbach