Ralf Zerback: Robert Blum. Eine Biografie, Leipzig: Mark Lehmstedt 2007, 360 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-937146-45-4, EUR 19,90
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Diese Biografie zu dem prominenten Demokraten, Paulskirchenabgeordneten und Revolutionär Robert Blum ist bedeutsam für die innere Geschichte des deutschen Vormärz und der Revolution 1848, wenn man sie aus der Perspektive eines biografischen Werdegangs darstellt. Robert Blum stand lange im Schatten der historischen Aufmerksamkeit, obwohl er nach der spektakulären Hinrichtung durch das österreichische Standrecht am 9. November 1848 zum politischen Mythos wurde. In der nachfolgenden Rezeption der Revolutionstraditionen teilten sich freilich die Erinnerungen, und nach dem Zweiten Weltkrieg setzte gar ein Streit um das Erbe ein, bei dem der damals zweite deutsche Staat - die DDR - durch die marxistische Interpretation des Leipziger Historikers Siegfried Schmidt 1971 einen Vorsprung in der Blum-Rezeption erzielte. [1] Anlässlich des 200. Geburtstages wurde Blums nun aber gleich durch drei Publikationen gedacht. Die in Berlin am 12. Juni 2007 im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages eröffnete und dann in Leipzig und Koblenz vorgeführte Ausstellung hat einen vorzüglichen begleitenden Katalog erhalten, der in sorgsamen Recherchen die kleinsten biografischen Spuren Blums aufspürt und dokumentiert. [2] Fast zeitgleich erschienen außerdem zwei Biografien: eine aus der Hand des Hamburger Politologen Peter Reichel, welche ebenfalls in dieser Ausgabe der "sehepunkte" besprochen wird [3], und die hier vorzustellende des Frankfurter Historikers Ralf Zerback.
Zerback als Schüler Lothar Galls ist ausgewiesen als vorzüglicher Kenner der frühen Geschichte des Deutschen Bundes und des Vormärz. Diese Biografie ist freilich nicht lediglich ein Nebenprodukt seiner vorausgegangenen Forschungen, sondern der Autor hat mit einer bewundernswerten Akribie feinste Spuren der Hinterlassenschaft Blums in zahlreichen einschlägigen Archiven ausgesucht. In einer nicht mehr zu überbietenden Gründlichkeit gelingt es ihm, noch neue Erkenntnisse zu gewinnen, welche das Leben dieses außergewöhnlichen Menschen begreiflicher werden lassen. Erfreulich ist dabei, dass die mühevolle Archivrecherche dem Leser, wenn er sich denn nicht als Fachmann auskennt, so gut wie verborgen bleibt. Oft sind es einzelne in einem Satz zusammengefasste neue Informationen, die entlegenen Archiven und Handschriftennachlässen in Bibliotheken bis hin zur Biblioteka Jagiellońska in Krakau entnommen worden sind. Insgesamt vermag der Autor mit einer außergewöhnlichen Einfühlungsgabe den Menschen Blum, seine Herkunft, persönlichen Antriebe, Begabungen und Leitwerte zu beschreiben und in einen überzeugenden Zusammenhang zu den jeweiligen Zeitumständen zu stellen. Das ist gerade die besondere Stärke dieses Werks. Besonders gelungen sind Milieuschilderungen, etwa von Köln zur Zeit Blums oder die Umtriebigkeit des Leipziger Theaterlebens. Das, was eine Biografie zu leisten hat - die Vermittlung zwischen Individuellem und Allgemeinem - ist insgesamt in vorbildlicher Weise gelungen. Eine besondere Begabung hat der Verfasser, wenn er briefliche Zeugnisse, vor allem aber literarische Produktionen Blums, die bisher nicht ernst oder gar nicht zur Kenntnis genommen worden sind, auf deren zugrunde liegende politische Vorstellungen hin ausdeutet, etwa sein nie zum Druck gebrachtes Drama "Die Befreiung von Candida", aus dem Zerback feinsinnig Blums Philhellenismus herausarbeitet. Blums Sympathie für die Amerikanische Revolution (in der Paulskirche forderte er eine deutsche Republik nach amerikanischem Vorbild!) und für den polnischen Freiheitskampf werden in ihren frühen Spuren fassbar in dem "Historisch-dramatischen Gedicht" 'Thaddaeus Kosciuszko'.
In einem bunten Bild wird nachvollziehbar, wie der aus Köln gebürtige Sohn einfacher Leute sich als Theaterdiener profilierte, wie er als Publizist und Redner, als Visionär und politischer Agitator eine immer größere Öffentlichkeit erreichte. Einzelne Grundüberzeugungen, die später in seinen großen Reden im Parlament wieder auftauchen, werden früh sichtbar, so sein Einsatz für die Judenemanzipation, der sich frühzeitig in der Kritik äußerte, dass viele Freimaurerlogen Juden ausschlossen. Seine Ferne zu einem aufkommenden trivialen und 1848 immer zerstörerischer auftretenden Nationalismus wird begreiflich aus der kosmopolitischen Schillerverehrung. Durch den biografischen Fokus erhält man tiefe Einblicke in die oppositionelle Szene des Vormärz, in die wachsenden Vernetzungen, welche es möglich machten und erklären, dass im März 1848 gleichsam aus dem Stand heraus eine bisher zurückgesetzte politische Elite das Heft in die Hand bekam; und der maßgebliche Anteil Blums an dieser vorausgegangenen Netzwerkarbeit auf allen Ebenen politischen Lebens wird hier erstmals in voller Tragweite deutlich. Das verdankt der Verfasser nicht zuletzt dem akribischen Studium der Spitzelberichte im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Nachrichten also, welche das Mainzer Informationsbüro über das vormärzliche Vereins- und Literaturleben - und hier bevorzugt auch aus Leipzig - für den österreichischen Staatskanzler Metternich lieferte. Der Verfasser erliegt aber nicht vorschnellen Etikettierungen. Er differenziert die verschiedenen Optionen Blums in seinem Willen zur Tat, welche die revolutionäre Aktion eigentlich durch pragmatische Politik zu vermeiden versuchte. Insbesondere stellt er heraus, dass Blum kontinuierlich politischen Leitwerten folgte, ohne als der dogmatische Programmatiker eines Systems zu erscheinen wie etwa der konkurrierende Friedrich Hecker. Er schildert ihn überzeugend als europäischen Visionär und zugleich Pragmatiker und nüchternen Realpolitiker. Die umfangreiche Erfahrung des politischen Lebens und sein Pragmatismus lehrten ihn, der Not der Armen im Erzgebirge direkt ins Auge zu schauen, machten ihn aber ebenso hellsichtig für die Intrigen und Operationen des Leipziger Gemeinderats und die öffentliche Ausstrahlung politisch instrumentalisierbarer vormärzlicher Fest- und Vereinskultur. Erstmals wird auch begreiflich, welche Bedeutung für den rationalen Menschen Blum die eigentlich schwer nachvollziehbare Hinwendung zum Religiösen in Gestalt des Deutschkatholizismus hatte. Hier fand er die Sprache des Volkes und übte sich unter dem Verbot politischer Vereinigung auf einem anderen Forum in der "Schule der Demokratie" (175). Vorzüglich durchsichtig wird auch Blums sozialpolitisches Profil, das ihn als eigenständigen, konzeptionell begabten Kopf ausweist, indem er nicht dem oppositionellen Mainstream des Frühsozialismus folgte, sondern stets nach konkreten Hebeln suchte, die soziale Lage zu verbessern, etwa in der Kritik an Steuern auf Nahrungsmittel für die Armen.
Der Stil des Buches und die plastische sprachliche Gestaltung sind in anderen Besprechungen hoch gelobt worden, und das mit einem gewissen Recht. Es verwundert, wie ein Autor, der seine Qualifikationsarbeiten in der akademischen Geschichtswissenschaft verfasst hat, sich hier gewissermaßen stilistisch frei schreibt. Vollständig ist dieses noch nicht gelungen, da mitunter manche sprachliche Stilblüten oder Klischees stehengeblieben sind, wenn der "Mollakkord des Zweifels" aufkommt oder vom "großen Klimawandel" im "Juligewitter" des Vormärz die Sprache ist, oder es von den Exilschriftstellern heißt: "Von Paris aus schleuderten sie ihre literarischen Blitze nach Osten" (46f.). Vollends deplaziert erscheint die Überschrift "Wiener Blut" zur Hinrichtung und zum Ende Blums. Aber gemessen am Anteil sind solche sprachlichen Schnitzer nicht dominant.
Schwerer wiegt demgegenüber eine Disproportion: Der Verfasser widmet sich intensiver dem Werdegang Blums bis zur Revolution, während dessen eigentliche Tätigkeit in den entscheidenden Gremien der Revolution - des Vorparlaments, des Fünfziger-Ausschusses und der Frankfurter Nationalversammlung - nur sehr abgekürzt behandelt wird. Die von Friedrich Siegmund Jucho herausgegebene einschlägige Dokumentation zu den Verhandlungen des Vorparlaments und des Fünfziger-Ausschusses, wo Blum das erste Mal prominent und mit nationaler Reichweite hervortrat, wurden jedenfalls nach Ausweis des Literaturverzeichnisses auch nicht zu Rate gezogen. Selbst Blums Aktionen an den umkämpften Tagen des 16. bis 18. September 1848 im Zusammenhang mit der Schleswig-Holstein-Krise, insbesondere sein Versuch, auf der Straße und "mit der Straße" zu vermitteln, aber auch Blums Tätigkeit hinter den Kulissen, namentlich in den Fraktionen des "Deutschen Hofes" (dem er angehörte) und des "Donnersbergs", werden nicht hinreichend dargelegt. Trotzdem bleibt zu rühmen, dass hier erstmals überzeugend nachvollziehbar wird, welche Antriebe, Befähigungen und günstigen Konstellationen Blum zur großen politischen Persönlichkeit werden ließen. Dabei charakterisiert Zerback treffsicher Blums ambivalenten Umgang mit der politischen Macht, seine Mischung aus diplomatischem Kalkül, offenem Populismus und dem Scharfblick für den jeweils möglichen parlamentarischen (Aus)Weg. Mit dieser Kombination der Mittel wirkte er in der Märztagen effektiv am Rücktritt der sächsischen Regierung mit und gab mancher Verhandlung in der Paulskirche eine neue Richtung.
Neues Licht fällt auch auf das Ende Blums in Wien, die besondere Umstände und sein konkretes Eingreifen, wobei hier der Verfasser sich jeglicher simplen Vereinnahmung verweigert, um Blum beispielsweise als revolutionären Märtyrer zu feiern. Im Gegenteil legt er mit Hilfe neuer Einsichten aus den Akten des Wiener Kriegsarchivs ein ganzes Bündel an Motivationen frei. Es heißt freilich Windischgrätz zu unterschätzen, wenn er nur als "ein etwas einfältiger Soldat" erscheint (284), vergisst man doch dabei seinen ganzen Ingrimm, den er auf alles Revolutionäre und alle Revolutionäre entwickelt hatte, nachdem seine Frau bei der Bombardierung Prags im Sommer durch den Querschläger einer Gewehrkugel getötet worden war.
Es ist spannend zu lesen, wie Blum den zaghaften Versuchen Louise Ottos, die politische Gleichberechtigung der Frau zu fordern, in seinen Blättern ein erstes Forum gab. Wichtig erscheint auch Zerbacks Gespür für den Gender-Aspekt in anderer Hinsicht: Er liefert hier wie mehrere andere Biografen und Editoren einen weiteren Beitrag zu der noch nicht geschriebenen Emanzipationsgeschichte, in der Ehefrauen im Hintergrund in Korrespondenzen als geistig ebenbürtige und mitwirkende Partnerinnen ihrer politisch aktiven Männer erscheinen. Unter den Parlamentariern von 1848 war das nicht selten, so auch im Falle seiner Ehefrau Jenny, und beider Briefwechsel offenbart einen Blum, von dessen Ängsten, Leidenschaften und Strategien man mehr zu verstehen lernt als aus seinen öffentlichen Bekundungen - bis hin zu rücksichtslosem Opfermut in dem Geständnis, "dass die Meinen betteln müssen, mich nicht einen Augenblick abhalten würde, mein Leben einer großen Sache oder meinem Vaterlande zu weihen" (96). Nicht ohne Erschütterung liest man das drastische persönliche Zeugnis, was es im Jahre 1841 heißen konnte, ein Kind zu gebären (152).
Aber es verwundert letztlich doch, dass diese von einem gestandenen Historiker geschriebene Biografie nahezu forschungsfern daherkommt, was nicht heißen soll: in Unkenntnis der historischen Forschung. Aber sind denn Leser und Leserin bereits überfordert, wenn sie mit unterschiedlichen Deutungen der Revolution und ihres Protagonisten konfrontiert werden? Gehört es nicht zu einer modernen Biografie, auch die Standortbezogenheit der geschichtlichen Auseinandersetzung seither und des Autors selbst zu reflektieren und mitzuteilen? Schließlich ist nicht ganz nachzuvollziehen, warum der Verfasser dem Nachleben Blums so wenige Worte gönnt. Der Blum-Mythos ebenso wie der Streit der Erben um das kollektive Gedächtnis gehören auch in eine solche Darstellung. Damit hätte sie keineswegs weniger lesbar ausfallen müssen.
Diese Einschränkungen hindern freilich nicht daran, diese Studie insgesamt als eine herausragende Leistung zu würdigen, die allen vergleichbaren Versuchen zur Darstellung Blums weit überlegen ist und auch für die weitere Forschung maßgeblich bleiben wird. Wer weiß, wie Bücher entstehen, wird ein besonderes Lob für die mehr als fünfzig qualitativ hochwertigen und darunter vielen farbigen Illustrationen bereithalten.
Anmerkungen:
[1] Siegfried Schmidt: Robert Blum. Vom Leipziger Liberalen zum Märtyrer der deutschen Demokratie, Weimar 1971.
[2] Martina Jesse / Wolfgang Michalka (Bearb.): "Für Freiheit und Fortschritt gab ich alles hin." Robert Blum (1807-1848). Visionär, Demokrat, Revolutionär, [Begleitbuch zur Ausstellung des Bundesarchivs], Berlin 2006.
[3] Rezension von Klaus Seidl, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 5; URL: http://www.sehepunkte.de/2008/05/13409.html
Post scriptum: Die in der Rezension erwähnte Jucho-Quellensammlung steht im Literaturverzeichnis auf S. 343. Wolfram Siemann [20.05.2008]
Wolfram Siemann