Heimo Reinitzer: Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, Hamburg: Christians 2006, 2 Bde., 535 S. + 415 S., 384 Abb., ISBN 978-3-939969-00-6, EUR 128,00
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Mit seiner zweibändigen Studie errichtet Reinitzer ein monumentales Bildmuseum auf kunsthistorisch höchst gefragtem Baugrund. Haben es doch der zwischen 'Humanismus' und 'Theologie' pendelnden Cranach-Beschäftigung der letzten Jahre [1] zumal dessen Rechtfertigungsbilder angetan. Erst unlängst war es Absicht gleich mehrerer Veröffentlichungen, die Anfänge dieses paulinischen Bildsujets von Wittenberg in einen reformkatholischen, französisch-oberrheinischen Kontext zu verlegen. Was Cranach und Luther von der Bildfindung nachhaltig entlastet, lässt die Suche nach einem 'Urbild' und dessen Ideator indes nur weiter offen. [2]
Sind diese Fragen der Urheberschaft und Zuständlichkeit letztlich Ausdruck einer verlängerten Perspektive auf das 'Ereignis Reformation', so betrachtet auch Reinitzer auf Kontinuitäten hin, indem er die Rechtfertigungsikonografie vom späten Mittelalter bis ins Konfessionelle Zeitalter hinauf verfolgt. Wenn er auf einem "genuin evangelischen" Rang des Motivgesamten dennoch insistiert (95, 119), so zielt dies auf die mannigfache Adaption des Themas für eine neu sich formierende Andachts-, Lese- und Erinnerungskultur. Deren Zeugnisse versammelt, geordnet und großzügig abgebildet zu haben, darin liegt der außerordentliche Stellenwert der Arbeit. Ihren 860 (!) Nummern starken Katalog nimmt man - gerade der edierten Beischriften wegen - dankbar entgegen (141-491).
Der seinem Gegenstand gemäß ebenso fundamentale wie integrative, bis zur Alltagskultur hinab steigende Ansatz des Buches wäre frömmigkeitsgeschichtlich zu nennen. Von Hause aus ist Reinitzer, der lange Jahre das Deutsche Bibel-Archiv in Hamburg leitete, indes Germanist. So sichert eine gesprächsweise Auffassung des Bildtypus (11) nicht nur dessen konstellative Einschreibung in die Wittenberger Universitätskultur - wobei es den Ideator eben nicht (41) und einen bestimmbaren Auftraggeber nur in einem Fall (52) gibt -, sondern auch den grundsätzlichen Gang der Darstellung, der vom Pastoralgehalt der versammelten Werke nicht absehen kann (49).
Methodisch ordnet sich das Bildmaterial zu sieben Abschnitten, die Theologie und Sachkultur im steten Wechselspiel halten: Zunächst zeichnet Reinitzer in straffen Zügen und hinzielend auf die Predigt die theologische Relation von Gesetz und Gnade nach (13-17). Den kunstgeschichtlichen Einsprung markiert die ausführliche Diskussion des für den christlich-humanistischen Status der Ikonografie zentralen, mal mehr mal weniger mit Geoffroy Tory in Verbindung gebrachten Pariser Holzschnitts (17-36). Reinitzer unterzieht das unikale Blatt einer Strukturanalyse, die die Bildtradition der wesentlichen Motive herausarbeitet. In der Datierungsdiskussion neigt er einer Entstehung des Blattes um 1522/23 zu, was einer mittelbaren Autorisierung durch Luther Raum lässt (17 f.). Wiewohl für die Akzeptanz dieses "Lehrbildes" besonders der Anteil Hans Holbeins d.J. zu würdigen bleibt, der das zwar inhaltsreiche, indes recht verwirrende Geflecht aus Beischriften und innovativen Motiven überhaupt erst ästhetisch plausibel machte (39 f.).
Der Aspekt der Wissenspopularisierung fädelt nun Cranachs Hauptexemplare in Prag und Gotha ein. Reinitzer charakterisiert sie als "Predigtbilder" (41-57), deren zeitliche Reihenfolge als kompositorische Straffung erscheint: So werden am Prager Exemplar bestehende Unsicherheiten der Motivdisposition im Verhältnis zur Textauswahl aufgezeigt, die Cranach offenbar zu einer didaktischen Redaktion veranlassten. Das Gothaer Bild von 1529 ist nun antithetisch klar sortiert. Vor allem arbeiten Bild und Schrift besser daraufhin zusammen, das Rechtfertigungsgeschehen als Bilderzählung vorzustellen; wird Luthers Anthropologie dramaturgisch sinnfällig (49-51). Sollten die Folgebilder in Nürnberg, Weimar und Königsberg noch an Verteilungsdetails feilen (53), deuten sich im Schneeberger Altar von 1539 bereits die Vermittlungsgrenzen an: Indem das Thema hier die gesamte erste Schauseite besetzt und von der Schreinrückseite noch sekundiert wird, drohte sich die Ikonografie an der Vielheit ihrer Ansprüche zu überheben. Dieses "Ende des Predigtbildes" (55-57) mag indirekt die unbeschadete Karriere des im Prager Typus zentralen, freilich durch Cranach entlehnten Motivs vom bangend-verwiesenen Menschen erklären (Abb. 55-66, 83-120, 122-150 u.ö.): Darin höchst epitaphgeeignet, fokussiert es einfühlsam-glaubwürdig Anfechtung und Gewissheit in einer Person. Setzt die Rechtfertigungserkenntnis eine heilsblinde Kraftlosigkeit des gleichwohl manisch sich sorgenden Menschen voraus, führen nachgerade theologische Betrachtungen den Prager Typus näher an Luther heran. [3] Reinitzer indes schließt eine Breitenwirkung just dieses Bildes aus, sieht vielmehr die Titelblätter der Deutschen Bibeln als Multiplikatoren (70).
Diese unterschiedlichen Zeitdauern und Reichweiten der Rezeption lassen Reinitzer nachfolgend zwischen Lehr-, Andachts-, Epitaph- und Bekenntnisbildern unterscheiden (70-94). Arbeitspragmatisch wird dafür je eine Hauptfunktion unterstellt. Wie Elemente des (französischen) 'Lehrbilds' zur dialektischen Abarbeitung an einer mittlerweile evangelisch vereinnahmten Ikonografie dienten, greift das vierte Kapitel im Sinne einer beginnenden Konfessionalisierung der Bildkulturen auf (95-109). Das Defilee von Beispielen wird angeführt von einem Holzrelief des Riemenschneiderschülers Peter Dell d.Ä. von 1540/41 (95 f.). Reinitzer sieht hier Harmonisierungsbestrebungen am Werk, die Elemente der katholischen Heilslehre in das Bildschema einschleusten. Wenn Maria allerdings auf der Gnadenseite erscheint und mit der Figur des gesetzesempfangenden Moses verschmilzt, so liegt die eigentliche Pointe der Ikonografie vielleicht doch darin, dass Luthers christozentrische Bewertung Mariens, ihrer Exempelfunktion und ihrer vormaligen Verehrung analog den neu formulierten Bildaufgaben ausfiel - sollte Luthers Bildtheologie auch verstreut nur existieren. [4] Möglicherweise waren eben solche Umstellungen im Bildformular dazu angetan, das für Luther in der Einheit von Gesetz und Evangelium so wichtige 'rechte Unterscheiden' zu üben? Die Schwierigkeiten einer Adaption führt jedenfalls das herrschaftliche Epitaph aus der Pappenheimer Schlosskirche von 1567 vor Augen (97-102). Wird hier die Entscheidungsikonografie vor ein Heilspanorama Jerusalems gelegt, zertrennt der konfessionelle Umbruch die Gedächtnisaufgabe, Familien- und Bekenntniszeugnis zugleich zu sein. Die jeweiligen Bildformulare bleiben disparat.
Rezeptionsproblemen in Form von Problemen der Anschaulichkeit wenden sich die abschließenden beiden Kapitel zu. Sie verfolgen die Rechtfertigungsikonografie im räumlich-relationalen Horizont von motivischer Zuspitzung (110-119) und systemischer Vernetzung (119-135). Führt Reinitzer die unterschiedlichen Bildorte und -ansprüche hier nochmals vor, was von der Buchillustration über die Kanzelikonografie bis zu den ausführlichen Deckenprogrammen der Schlosskapellen in Neuburg und Strechau reicht, zeugt die bisweilen recht kurze, faktenorientierte Herangehensweise (113: Annaberg) auch von Kontextüberschüssen, die die vorgenannten vier Funktionskategorien nicht auffangen konnten. Illustriert wird abermals v.a. die vielfache Anschlussfähigkeit der Bildfindung.
Diese Beobachtung zielt womöglich auf den Kern dessen, wie das Bildmaterial hier im intermedialen Horizont operationalisiert wird: Denn aus Reinitzers Zusammenschau spricht eine ikonologische Aufmerksamkeit für die Grundbegriffe und Belange von Kunstgeschichte und Theologie. Sie strebt aber weder nach einem übergreifenden Zeitindex der Ikonografie - anknüpfend etwa am bildorganisatorischen Verhältnis von thematischer Christozentrik und figurativer Komplexität [5] -, noch liegt eine Bildtheologie als poetische Bildkunde vor (wie sie katholischerseits Alex Stock betreibt). Herausgekommen ist vielmehr eine historisch gewichtende, ebenso archäologische wie ausdrücklich (136) inspirierende Typusstudie. Wobei seine auch biografisch tief reichende Forschungsgeschichte (9) dem Projekt argumentativ wie ausstattungsmäßig eine gewisse Gelassenheit aufprägt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Verschlagwortung der Forschungsliteratur durch Thomas Schauerte: Erst die Schrift - dann das Bild? Kunstgeschichte zwischen Humanismus und Theologie in der neueren "Altdeutschen"-Literatur, in: Kunstchronik 59 (2006), 374-387.
[2] Dieter Koepplin: Zu Holbeins paulinischem Glaubensbild von Gesetz und Gnade, in: Hans Holbein d.J. Die Jahre in Basel 1525-1532, Ausst.Kat. Basel 2006, 79-95; Matthias Weniger: "Durch und durch lutherisch"? Neues zum Ursprung der Bilder von Gesetz und Gnade, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 3. Folge LV (2004), 115-134; s. auch Gunther Wenz: Lukas Cranach d.Ä. als Maler der Wittenberger Reformation, in: Una Sancta 61 (2006), 54-68 und Miriam Hübner: Lukas Cranach d.Ä. und der Bildtypus "Gesetz und Gnade" in der dänischen Reformation, in: Lucas Cranach d.Ä. Zum 450. Todesjahr, hg. v. Andreas Tacke, Leipzig 2007, 343-358. Hübners 2007 abgeschlossene Berliner Dissertation widmet sich den Rechtfertigungsbildern.
[3] Siehe die Nachweise bei Weniger (wie Anm. 2), 120.
[4] Eindringlich dazu Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Martin Luthers und seiner Erben. Communicatio - Imago - Figura - Maria - Exempla, Leiden u.a. 2002, 219-249, bes. 240.
[5] Vgl. Dieter Koepplin: Ein Cranach-Prinzip, in: Lucas Cranach. Glaube, Mythologie und Moderne. Ausst.Kat. Bucerius-Kunstforum Hamburg 2003, 144-165, bes. 145, 150 und Berndt Hamm: Normative Zentrierung - eine gemeinsame Vision von Malern und Literaten im Zeitalter der Renaissance, in: Künstler und Literaten. Schrift- und Buchkultur in der europäischen Renaissance, hg. v. Dems. / Bodo Guthmüller / Andreas Tönnesmann, Wiesbaden 2006, 47-74, hier 49.
Thomas Packeiser