Enno Bünz (Hg.): Bücher, Drucker, Bibliotheken in Mitteldeutschland. Neue Forschungen zur Kommunikations- und Mediengeschichte um 1500 (= Bd. 5), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2006, 495 S., ISBN 978-3-86583-120-0, EUR 54,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Enno Bünz: Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.-16. Jahrhundert, Tübingen: Mohr Siebeck 2017
Enno Bünz / Stefan Tebruck / Helmut G. Walther (Hgg.): Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007
Heiner Lück / Enno Bünz / Leonhard Helten u.a. (Hgg.): Das ernestinische Wittenberg. Universität und Stadt (1486 - 1547), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2011
Der vorliegende Sammelband spiegelt die Ergebnisse einer von dem Landeshistoriker Enno Bünz initiierten und vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. veranstalteten gleichnamigen Tagung vom 15. bis 17. Mai 2003 in der Universitätsbibliothek Leipzig wider. Die Thematik ist einerseits Teil eines Forschungsschwerpunktes zur Geschichte der Bildungslandschaft Mitteldeutschlands, insbesondere für das Zeitfenster der Vorreformation in Sachsen, andererseits Teil der derzeit beliebten Kommunikations- und Mediengeschichte, die insbesondere in Form der Buch- und Bibliotheksgeschichte laut Bünz stärker im Bewusstsein der Historiker verankert werden sollte.
Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, gliedert sich der vorliegende fast 500 Seiten umfassende Band in drei größere Teile. Nach zwei einleitenden Beiträgen beginnt der erste Teil: "Bücher entstehen - Die neue Druckkunst", mit sechs Beiträgen, die exemplarisch die "Anfänge und die Entfaltung des neuen Mediums im ausgehenden Mittelalter" thematisieren. Im zweiten Teil "Bücher - Bibliotheken - Leser" erhellen vier Fallstudien zu historischen Bibliotheken in Mitteldeutschland eines der bisherigen Forschungsdesiderate, und im dritten und letzten Teil "Wirkungen des neuen Mediums" behandeln fünf Beiträge das, was gedruckte Medien verursachten. Dass hierbei naturgemäß nicht sämtliche Aspekte der Thematik berücksichtigt werden konnten (etwa die Buchbinderei, Papierproduktion oder Lesestoffe und Leseinteresse), ist in Anbetracht der Stofffülle erklärlich (43-47).
Hier kann aufgrund der engen räumlichen Vorgaben nur exemplarisch auf einige der Aufsätze eingegangen werden. Die nicht besprochenen Beiträger mögen dem Rezensenten die subjektive Auswahl verzeihen.
Zunächst sei die einleitende Darstellung von Enno Bünz hervorgehoben (13-47). Bünz legt eine eindrucksvolle, solide belegte Darstellung der frühen Druckgeschichte und wissenschaftliche Einordnung der Buchgeschichtsforschung vor. Zu Recht spricht er sich darin gegen eine zunehmende Theoretisierung der Medien- und Kommunikationsgeschichte aus, wie sie Michael Giesecke und Werner Faulstich betrieben - zu sehr zeigten diese Ausführungen "faktografische Mängel" (28) -, und bricht eine Lanze für mehr "landes-, regional- und lokalgeschichtliche Untersuchungen der Buchproduktion, des Buchmarktes, der Bibliotheksverhältnisse, der Rezeptionswege, des Leseverhaltens" (29). Ob hier aber die Arbeit von Hans Jörg Künast als gutes Beispiel für eine solche Herangehensweise stehen kann, ist zu bezweifeln. Schon Peter Amelung wies in seiner Rezension, die Bünz entgegen seiner sonstigen tiefen Literaturauswertung nicht anführt, auf den streckenweise zweifelhaften Umgang mit archivalischen Quellen hin. Die Einschränkung auf deutschsprachige Drucke, die zugegebenermaßen in Augsburg im Gegensatz zum übrigen Deutschen Reich überproportional dominierten, berücksichtigt zudem einen so wichtigen Drucker wie Erhard Ratdolt nicht gebührend. Bünz ist darin zuzustimmen, dass "isolierte" Betrachtungen einzelner Offizine oder reine Rekonstruktion historischer Buchbestände zu kurz greifen (29, 30). Die derzeit beliebten pauschalierenden Allgemeindarstellungen entbehren jedoch meist einer soliden Faktenbasis. Hoch informativ bezieht Bünz auch in den äußerst lesenswerten Fußnoten Stellung, beispielsweise gegen Kai-Michael Sprengers zweifelhafte Ausführungen zu angeblich bereits von Nicolaus Cusanus 1452 beauftragten gedruckten Ablassbriefen. Weniger Vorsicht lässt Bünz gegenüber den quantitativen Untersuchungen Uwe Neddermeyers walten, deren Neigung zu Pauschalierungen schon an anderer Stelle kritisiert wurde. Auch wenn man also Bünz nicht in allen Einzelheiten folgen möchte, liefert er eine wunderbare Darstellung des derzeitigen Diskurses zum frühen Buchdruck, die man mit großem Gewinn liest.
Kurz erwähnt werden sollte ein Detail zu einem der Beiträge des ersten Teils: Andreas Gössners "Die Anfänge des Buchdrucks für universitäre Zwecke am Beispiel Wittenbergs" (133-152). Essentiell ist zu dieser Thematik, wann der Buchdruck in Wittenberg tatsächlich begann. Gössner sichtet die im VD16 [1] verzeichneten Drucke und löst die römische Datierung der Sphaera von Proclus "Diadochus" (VD16 P4974) aus der Werkstatt des Druckers Nicolaus Marschalk: "Impressum Albiori anno // a natali Christiano // Qui[n]ge[n]tesimo // secundo // supra // Millesimum // Nono Kale[n]das Ianuarias." falsch mit 14.12.1501 auf, richtig muss es aber heißen 14.12.1502, da das Jahr nicht mit zurückgerechnet wird. Für Gössner ergibt sich bis zum nächsten nachweislichen Druck aus der Offizin von Marschalk, der am 27.9.1502 vollendete Bellum Troianum von Dares "Phrygius" (VD16 D120), eine "unerklärliche Ruhezeit" der Offizin von 9 Monaten (137). Ein Blick auf die vorherige Tätigkeit des Druckers zeigt, dass dieser noch bis zum 26.4.1502 in Erfurt druckte, wie das Enchiridion Poetarum Clarissimorum belegt (VD16 ZV10418). Nach bisherigem Kenntnisstand bleibt der Bellum Troianum der erste bekannte Wittenberger Druck.
Beeindruckend ist im zweiten Teil die eigentlich monografische Darstellung von Frank-Joachim Stewing zu "Bibliothek und Buchbesitz einer spätmittelalterlichen Pfarrkirche im mitteldeutschen Raum: Das Beispiel Rudolstadt" (207-303). In einer akribischen Untersuchung gelingt es Stewing, einem Forschungsdesiderat über den Buchbesitz von Pfarrkirchen um 1500 eine weitere Facette hinzuzufügen. Anhand des nahezu geschlossen erhaltenen Bestandes der Rudolstädter Pfarr- bzw. Stadtkirche und erhaltener Inventare, rekonstruiert er den vorreformatorischen Buchbestand. Auch wenn dieser an sich eher unspektakulär ist, so spiegelt er doch "das geistige und geistliche Klima der zu betrachtenden geistlichen Institution" wider (301). Zum einen existierte ein Grundbestand, der vor allem für liturgische Zwecke diente, zum anderen unterstützte die Kirchengemeinde finanziell eine institutionell unabhängige "Handbibliothek" zu Bildungszwecken der Geistlichen. Letztere wurde in Rudolstadt jedoch um 1500 abgelöst durch Privatbibliotheken der Geistlichen, die mittlerweile in der Lage waren, selbst Bücher käuflich zur erwerben.
Plakativ beginnt der dritte Teil mit dem Beitrag "Buchdruck und Reformation - Eine Neubetrachtung" von Andrew Pettegree und Matthew Hall (343-371). Der nur mit wenigen Fußnoten auskommende Beitrag - insbesondere Rückgriffe auf deutschsprachige Literatur sind selten - thematisiert die Rolle des Buchdrucks bei der Reformation in Europa und anhand eines Fallbeispiels konkret in Frankreich. Zur Betrachtung der europäischen Verhältnisse wertet Hall die ersten 10.000 Einträge des Index Aureliensis (IA) aus. Dieses Datenmaterial wird dabei zwar durchaus kritisch betrachtet, aber grundsätzlich als "ein überaus nützliches Hilfsmittel" (350) gewertet. Wie immer bei quantitativen Untersuchungen, folgen im Weiteren exakte Daten, die eine wissenschaftliche Genauigkeit suggerieren. Doch wie präzise ist das Datenmaterial? Der nach über 40 Jahren Erfassung im Jahr 2005 erst bei "Esc" angelangte IA beruht nicht auf Autopsie und eine Auflistung der für das Thema bedeutenden Bibeln sucht man unter "biblia" vergeblich. Auch das im Weiteren untersuchte "Fallbeispiel Frankreich", das auf einen zeitgemäßen per Autopsie erfassten Datenbestand beruht, berücksichtigt nur die französisch(!)sprachigen Drucke des 16. Jahrhunderts. Der europäische Buchmarkt wurde aber, wie die Autoren selbst konstatieren (356), von lateinischsprachigen Drucken dominiert. Der Wert des Datenmaterials ist daher durchaus zweifelhaft. Die Autoren präsentieren im Weiteren ihre "landesspezifischen Ergebnisse", indem sie die Unterschiede der deutschen Buchproduktion gegenüber einigen anderen europäischen Ländern skizzieren. Das ist jedoch keine neue Erkenntnis. Ebenso stellt es keinen "neuen Ansatz" dar (345), das Buch auch als gewerbliches Produkt zu untersuchen - dies ist in der Buchwissenschaft seit Jahrzehnten selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund fragt man sich denn auch, wieso die deutsche Entwicklung von Buchdruck und Reformation paradigmatisch sein sollte - hier sogar als "deutsches Paradigma" bezeichnet wird - und wer die deutsche Entwicklung als "normative Grundlage" für die Untersuchung der Reformation in ganz Europa heranziehen sollte? (349). Dennoch ist der quantitative Weg ein richtiger. Für verlässliche Aussagen ist aber das Datenmaterial auszuweiten und zu aktualisieren. Der VD16 zeigt für den deutschen Sprachbereich die Richtung. Zu ergänzen sind jedoch unbedingt noch die etwa für die Meinungsbildung wichtigen Einblattdrucke.
Gerade hier hat Falk Eisermann für das 15. Jahrhundert 2004 Beeindruckendes geleistet: "Die Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts". Auf dieser soliden Basis fußt denn auch dessen Beitrag im vorliegenden Band: "Leipziger Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts" (373-399), in dem er die spezifischen Charakteristika in Leipzig höchst spannend skizziert. Und auch die auf eine Magisterarbeit von 2004 basierenden Ausführungen von Hendrik Mäkeler "Der Speyerer Druckherr Peter Drach (+ 1504) in Leipzig" (461-480) sind äußerst lesenswert und zeigen, dass es durchaus lohnend ist, bereits untersuchte Quellen, gemeint ist Ferdinand Geldners 1962 publizierte Untersuchung zum Drachschen Rechnungsbuch, einer erneuten Betrachtung zu widmen.
Insgesamt bleibt ein äußerst positiver Eindruck des auch drucktechnisch schönen Sammelbandes. Bünz gelingt hier eine äußerst detailreiche Zusammenstellung hoch interessanter Beiträge, die zur Diskussion anregen. Der von Bünz gewünschte Beginn eines Dialogs zwischen Geschichtswissenschaft, Buch- und Bibliothekswissenschaft und Literaturgeschichte ist nur zu begrüßen und zu unterstreichen.
Anmerkung:
[1] Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16). URL: http://www.vd16.de/.
Christoph Reske