Mark Goldie / Robert Wokler (eds.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought, Cambridge: Cambridge University Press 2006, xvi + 919 S., ISBN 978-0-521-37422-4, GBP 110,00
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Wie kaum eine zweite Epoche hat das 18. Jahrhundert an die Macht von Ideen geglaubt, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Der Graf Mirabeau sprach eine von vielen für richtig gehaltene Überzeugung aus, als er 1791 die Französische Revolution als das Werk der Gelehrsamkeit und der Philosophie bezeichnete. Nicht zuletzt wegen dieses behaupteten Zusammenhangs ist dieses Jahrhundert von je her ein bevorzugter Tummelplatz der Geistes- und Ideengeschichte. Zu Aufklärung, politischer Ökonomie, Menschenrechten, Öffentlichkeit, Fortschritt und Zivilisationskritik und weiteren mit dem siècle des lumières assoziierten Grundlagen der Moderne entstehen jährlich zahllose Arbeiten. Das zu besprechende Handbuch, zugleich der vorletzte Band der renommierten Reihe "Cambridge History of Political Thought", bietet hier nicht nur einen unverzichtbaren Überblick, sondern auch zum Teil höchst originelle Studien zu wesentlichen Debatten des Zeitraums zwischen der Glorious Revolution von 1688/89 und dem Konsulat Napoleons.
Die Konzeption des Handbuchs versucht, die methodischen Vorgaben der mit dem Namen Cambridge verbundenen "Ideas in Context" konsequent umzusetzen. Dies eröffnet neue Perspektiven, hat aber auch Kosten. An die Stelle intellektueller Biografien, die etwa in "Pipers Handbuch der politischen Ideen" oder "Ueberwegs Geschichte der Philosophie" einen wesentlichen Teil der Darstellung ausmachen, treten verstärkt themenorientierte Diskurse. Damit finden auch weniger bekannte Texte häufiger Berücksichtigung. Sie spiegeln oft Konventionen und Probleme der Zeitgenossen präziser wider als die Autoren des politiktheoretischen Höhenkamms. Ideengeschichte wird konsequent historisiert und enthierarchisiert. Dies gilt naturgemäß besonders für Kapitel, die sich unter dem Obertitel "Enlightenment and Revolution" (Teil VI) den Zusammenhängen zwischen den revolutionären Ereignissen und Diskussionen in Nordamerika, Großbritannien und Frankreich widmen. Über weite Strecken gelingt es den 24 Beiträgern so, einen dicht geknüpften Teppich von Debatten im nationalen Kontext wie in der république des lettres zu rekonstruieren.
Die Schattenseite dieses Verfahrens ist freilich eine neue Unübersichtlichkeit. Zum einen dissoziieren nun Autoren wie Diderot, Hume, Voltaire, Montesquieu und Kant in die verschiedensten Kontexte - in die sie ja auch hineingehören. Andererseits kommt es dabei immer wieder zu Überschneidungen und Redundanzen (vgl. z.B. für Montesquieu 9ff. u. 151ff.; für Diderot: 165ff., 518f. u. 579ff.; für Hume: 302ff. u. 355ff.). Ohne Vorkenntnisse wird es schnell kompliziert, sich einen Überblick zu zentralen Figuren, über die Entwicklung ihres Werks und ihrer Argumente zu verschaffen.
Einen Testfall für die Vorgaben der Herausgeber bilden deren eigene Beiträge. In einem glänzenden Kapitel zeichnet Mark Goldie (Kap. 2) den vielstimmigen politischen Diskurs in England zwischen der Glorious Revolution und dem Ende der Ära Robert Walpole 1742 nach. Goldie zeigt den Eklektizismus unterschiedlicher politischer Idiome (Naturrecht, ancient constitution, Klassischer Republikanismus), dessen sich besonders die Opposition, Country-Whigs, Tories u.a., bediente, um Korruption, Oligarchie und die Bedrohung der englischen Freiheit anzuprangern. Autoren wie Locke werden so zwar vom Sockel alles überragender Bedeutung gestürzt, ihr unmittelbarer Einfluss wird aber auch präziser bestimmbar. Eine besondere Pointe ist, dass Goldie mit den Publizisten des ungeliebten Premierministers Walpole das "English system of liberty" nicht durch die oft beschworene Gewaltenteilung, sondern durch eine enge Kopplung von Exekutive und Legislative charakterisiert sieht. Walpoles Publizisten verteidigten den tatsächlichen Einfluss königlicher Minister auf Ober- und Unterhaus als politisch effizient und machten sich über Konzeptionen einer auf Angelsachsen und Antike zurückgehenden ancient liberty lustig. Ironischerweise waren es jedoch genau diese oppositionellen Entwürfe einer scharfen Gewaltenteilung, die in der Folge durch ihre Rezeption bei Montesquieu ungeheuer erfolgreich wurden. (Vgl. Kap. 11, 317ff.)
Neben der klassischen verfassungstheoretischen Diskussion ist es auffällig, wie stark andere Bereiche, nämlich Religion, Ökonomie, (Natur-)Recht und Geschichtsdenken Berücksichtigung finden. Lediglich das Nachdenken über internationale Beziehungen, Krieg, Frieden und Völkerrecht bleibt ein Desiderat. Richard Popkin, Mark Goldie und Dale Van Kley (Kap. 3 u. 4) behandeln die Unterminierung konfessioneller Orthodoxien durch das Zusammenspiel gelehrter Bibelkritik, philosophischer Skepsis und neuer Frömmigkeitsbewegungen (Pietismus, Jansenismus) und diskutieren die theoretischen und praktischen Grenzen von Toleranz. Die Folgen der anthropologischen Wende der Aufklärung untersuchen Haydn Mason und Wolfgang Pross (Kap. 7 u. 8) für Konzeptionen von Fortschritt, Natur- und Menschheitsgeschichte bei Voltaire, Gibbon, Herder und Vico. Knud Haakonssen und James Moore (Kap. 9 u. 10) führen kompetent durch die deutschen und schottischen Naturrechtsdebatten zwischen der - im Deutschen wenig unterscheidbaren - Differenz von natural law (lex) und natural rights (ius). Haakonssen übergeht allerdings leider die Affinität Christian Wolffs zu republikanischen und demokratischen Politikmodellen, wie sie von Horst Dreitzel wiederholt betont wurde. Dies hätte auch die eingangs behauptete, auf Thomasius gewiss zutreffende Nähe zwischen deutschem Naturrecht um 1700 und Absolutismus (256) weiter relativiert.
Der politischen Ökonomie mit ihren sozialen Implikationen widmet sich der gesamte Teil IV. In einer beeindruckenden tour de force rekonstruiert etwa Istvan Hont (Kap. 13), wie sich Autoren von Fénelon über Mandeville, Shaftesbury zu Voltaire mit den moralphilosophischen Folgen von ökonomischem Wachstum und Luxus auseinandersetzten. Ausgangspunkt war die Debatte zwischen den traditionellen christlichen und klassisch-republikanischen Gegnern und den modernen Befürwortern des Luxus. Diese wurde freilich zunehmend ersetzt durch eine Diskussion unter den "Modernen" über die Frage, ob ökonomisches Wachstum in irgendeiner Weise reguliert werden müsse, um es in den Dienst von gesellschaftlicher und moralischer Verbesserung zu stellen. Teil V stellt öffentliche Wohlfahrt und staatliche Planung ins Zentrum, die großen neuen Fragen für aufgeklärte Politiktheoretiker und Herrschaftspraktiker. Derek Beales untersucht die Verbindung zwischen der Idee des Philosophenkönigs und dem aufgeklärten Despotismus, Keith Tribe den Kameralismus und Frederick Rosen die Kriminalrechtsreform (Kap. 17-19).
Vieles davon lässt uns das 18. Jahrhundert aktuell erscheinen. Doch wie modern waren die "philosophes" und ihre räsonierenden Zeitgenossen? Die vielleicht etwas altmodisch gewordene Frage nach dem Gesamtphänomen Aufklärung geht gerade in der neugewonnenen Komplexität der Einzelaspekte verloren. Robert Woklers abschließender, auf Frankreich fokussierter wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag fordert in seinen Implikationen hier zur Diskussion heraus. Er zeigt die Überwindung der politischen Theorie der Aufklärung durch die an der Naturwissenschaft orientierte Wissenschaft des Sozialen. Die idéologues versetzten nach der Terreur dem Paradigma einer aufklärerischen "science of legislation for the promotion of public happiness" (706) den Todesstoß. Sie waren vor allem an den physiologischen Ursachen moralischer und kognitiver Phänomene interessiert und vernachlässigten dagegen Vorstellungen natürlicher Menschenrechte und politische Beglückungsideen. Einer Übertragung dieser Schlussfolgerungen auf ganz Europa mag man mit guten Argumenten widersprechen. Ob man nun freilich die Aufklärung als Beginn oder bloßes Präludium der Moderne einordnen will, die "Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought" stellt die Diskussion über das 18. Jahrhundert auf jeden Fall auf neue Grundlagen.
Alexander Schmidt