Annette Geiger / Stefanie Hennecke / Christin Kempf (Hgg.): Imaginäre Architekturen. Raum und Stadt als Vorstellung, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2006, 271 S., 134 Abb., ISBN 978-3-496-01345-7, EUR 39,00
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Offenbar wurden im Jahr 2003 mit der vom Rezensenten konzipierten Sektion "Bau als Bild - Visualisierungen von Architektur" auf dem XXVII. Deutschen Kunsthistorikertag in Leipzig erfreulich lebhafte Forschungsaktivitäten angestoßen. Sie setzen sich seither unter denkbar unterschiedlichen Blickwinkeln mit visuellen, ikonischen und imaginären Repräsentationen von Architektur auseinander. Nur wenige Beispiele dafür aus jüngster Zeit sollen das aktuelle wissenschaftliche Interesse belegen, das sich in diesem Spannungsfeld zwischen verwirklichter und medial oder mental projizierter Architektur erstreckt: So hinterfragte die Tagung "Symbolic Constructions of the City" des transatlantischen Graduiertenkollegs am "Center for Metropolitan Studies" im Jahr 2005 in Berlin die symbolischen Bildproduktionen von Architektur und urbanem Raum. Im Jahr 2007 veranstaltete der Nationale Forschungsschwerpunkt "Bildkritik" an der Universität Basel ein Symposion mit dem Thema "Das Auge der Architektur. Zur Frage der Bildlichkeit in der Baukunst". Es orientierte sich in seiner Konzeption und in einigen Vortragstiteln an der Leipziger Kongress-Sektion. Gegen Ende desselben Jahres organisierten der Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich und die Fakultät Architektur, Städtebau und Bauingenieurwesen der Universität Dortmund gemeinsam ein Symposion über "Die Medien der Architektur". 2007/2008 folgte an der Universität Basel eine Vortragsreihe zum Thema "Zur Bildlichkeit der Architektur in Moderne und Gegenwart". Im März 2008 diskutierte in Würzburg das "Neue Forum Kunstgeschichte Italiens" unter Beteiligung der Bibliotheca Hertziana und des Florentiner Kunsthistorischen Instituts die "Malerei in der Architektur". Schließlich findet aktuell - um ein letztes Beispiel zu nennen - im Sommersemester 2008 an der RWTH Aachen eine Vortragsreihe zum Thema "Architekturfotografie" statt. Alle diese Veranstaltungen und die daraus hervorgehenden Publikationen befassen sich mit den unterschiedlichsten Repräsentationen von Architektur. Und bisher sieht es nicht so aus, als sei das Themenspektrum des Problemkomplexes schon ein- für allemal ausgeleuchtet.
In diesen sich weit öffnenden Forschungsraum gehört nun der von Annette Geiger, Stefanie Hannecke und Christin Kempf herausgegebene und für den Reimer Verlag ansprechend gestaltete Paperbackband aus dem Jahr 2006. Das Buch publiziert die Beiträge einer Tagung, die 2004 an der Berliner Universität der Künste unter dem davon leicht abweichenden Titel "Imaginäre Architekturen - Raum und Fiktion in Kunst und Gestaltung" stattfand. Obgleich es sich in den skizzierten Erkenntnisrahmen einfügt, gibt es doch einige theoretische Ansätze und auch hochinteressante thematische Perspektiven, welche die Publikation nicht nur wissenschaftlich legitimieren, sondern durchaus auch alleinstellen. Sie werden durch ihre Gliederung in vier etwa gleichwertige Gruppen verdeutlicht: Nach der Einführung von Annette Geiger, die Eckpunkte der theoretischen Überlegungen des Buches markiert (9-25), folgen die Teile zur "Stadt als Vorstellung", zum "Entwurf als imaginärem Diskurs", zu "fiktionalen Orten" sowie zu "Raum und Metapher". Die Themenbereiche zeigen deutlich die Stoßrichtung an, um die es den Autorinnen und Autoren geht. Sie wollen Architekturen und Stadtstrukturen erhellen und diskutieren, wie sie in unserer individuellen wie kollektiven Erinnerung existieren. Darüber hinaus fragt das Buch dann auch nach den Folgen dieser "imaginierten Welten" der Architektur, nach den Prägungen unserer Wahrnehmung durch diese Vorstellungen und schließlich als Ergebnis davon nach deren Auswirkungen auf gebaute Verwirklichungen von Architektur. Dieser Zirkel von, sagen wir, Erlebtem oder Erfahrenem, Eingebildetem und wieder Errichtetem, das seinerseits wieder erlebt wird, formt den vielversprechenden Reflexionsrahmen der Aufsätze. Dabei bildet die Erkenntnis, wonach gerade die Örtlichkeit von Psyche und die räumliche Konstituierung alles Gedachten eine der Grundvoraussetzungen gesellschaftlicher und kultureller Existenz des Menschen sei, eine der Kernthesen des Buches (Geiger, 22, 25). Wenn man darüber jedoch noch hinausgehen wollte, wäre zu ergänzen, dass gerade das menschliche Verstehen als Zuordnung, besser Ver-Ort-ung von Erfahrenem zu betrachten ist. Damit ist denn auch die Zuordnung eines Zusammenhanges zu einem anderen oder die Trennung von diesem gemeint, was wiederum Räumlichkeit impliziert. Somit gehören räumliche Vorstellungen zu den Bedingungen allen Denkens.
Wollte man Kritik üben, müsste wohl als Erstes an der nicht immer schlüssigen, manchmal etwas unklaren Theoretisierung des Problemkomplexes angesetzt werden. Dies beginnt mit Geigers mutig als "Behauptung" (9) dargestellter These, wonach Architektur ihrerseits auf einen fiktionalen Anteil reagiert. Diese These allerdings erscheint nun wirklich nicht allzu gewagt, bedenkt man, dass jede Form von Architektur auf Ideen, Vorüberlegungen und Planungen, mithin fiktionalen Komponenten beruht. Auch das Ziel des Buches, nämlich "Wege und Methoden aufzuzeigen, die es ermöglichen, die Idee einer um den Alltag erweiterten Ästhetik anzugehen" (11) ist ebenfalls nicht neu. Dies verdeutlicht sich an dem Punkt, an dem Geiger über die zunehmende Ästhetisierung des Alltags spricht - ein Thema, das seit 30 Jahren diskutiert wird, beispielsweise in mehreren Publikationen von Wolfgang Welsch im Nachklang auf Jean-François Lyotard. Und schließlich schleicht sich auch ein impliziter Widerspruch in den grundlegenden Einführungsbeitrag ein. Geiger argumentiert mit den anfänglichen Sequenzen des Films "Citizen Kane" von Orson Welles, die das riesenhafte Fantasieschloss Xanadu des Zeitungsmoguls Charles Foster Kane zeigen. Die Autorin vergleicht diese Imagination mit der tatsächlich gebauten schlossartigen Anlage von William Randolph Hearst sowie der weitläufigen Villa von Bill Gates. Gerade bei diesen Vergleichen zeigt sich aber, dass sowohl Hearst als auch Gates diesen Film sogar explizit ablehnten, zumindest aber ignorierten bei ihren Planungen. Dies wird schon aufgrund der negativen Anspielungen auf den vereinsamenden Größenwahn des Medienzaren Kane im Film verständlich. Das Beispiel belegt deshalb gerade nicht die Grundthese des Buches, wonach sich Imagination auf Architektur auswirkt. Vielmehr drängt sich die Vermutung auf, als wolle die Herausgeberin hier nachträglich Parallelen konstruieren.
Auch wenn dieser Vergleich ungeschickt gewählt wurde, so sind doch die einzelnen Analysen äußerst lesenswert. Dabei werden beispielsweise die Städtebilder - im Sinne von Vorstellungen - analysiert, wie sie sich auf die Konstituierung von Städten selbst auswirken. Seien dies neue Architekturen, wie es Laura Bieger und Annika Reich in "Venedig als Vorstellung - von Italien bis Las Vegas" zeigen, oder aber wie sie selbst auf die existierende Stadt zurückwirken, was Irene Nierhaus in "Stadt/Statt - Zur Medialität von Stadt, Raum und Bild" am Beispiel der Stadt Rom nachvollzieht und theoretisiert. Gernot Weckherlin rückt Architekturhandbücher als Medien im künstlerischen Prozess in den Mittelpunkt der Diskussion. Karsten Wittke analysiert die Architekturfantasien im Science-Fiction-Film und Elisabeth Lack reflektiert die metaphorische Organisation des Raumes in Werken Franz Kafkas und anderer - um nur ganz wenige der fünfzehn recht eigenständigen Beiträge zu nennen.
Insgesamt wird hier eine beeindruckende Themenvielfalt eröffnet, die zudem einen Fächer von methodischen und perspektivischen Zugängen eröffnet. Diese große Stärke des Buches wird dem jungen Forschungsschwerpunkt zum Thema "Bau als Bild" damit sicher weitere wichtige Anstöße geben. Und das ist nicht das Schlechteste, was über die Publikation eines Tagungsbandes gesagt werden kann.
Ernst Seidl