Ursula Braasch-Schwersmann / Axel Halle (Hgg.): Wigand Gerstenberg von Frankenberg 1457-1522. Die Bilder aus seinen Chroniken (= Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte; Bd. 23), Marburg: Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde 2007, XVI + 391 S., ISBN 978-3-921254-86-8, 29,00
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Wigand Gerstenbergs "Landeschronik von Thüringen und Hessen" und seine "Stadtchronik Frankenbergs" gehörten 1939 zu den wenigen Stücken, die man kriegsbedingt aus Kassel auslagerte. Diese Entscheidung macht deutlich, dass Gerstenbergs Werke schon damals als herausragende Zeugnisse für die Geschichts- und Erinnerungskultur der beiden heutigen Bundesländer galten. Editorisch erschlossen waren sie zu dieser Zeit bereits durch die bis heute vorbildliche Edition des Marburger Historikers Hermann Diemar von 1909, der nicht nur eine Textwiedergabe, sondern eine akribische Recherche der lateinischen wie volkssprachlichen Vorlagen für Gerstenbergs Kompilationen bot.
Umso mehr überrascht, dass die umfangreichen Bilderzyklen, mit denen beide Werke unter Gerstenbergs Ägide ausgestattet wurden, bislang nur in wenigen Auszügen veröffentlicht wurden. Der anzuzeigende Band stößt in diese Publikations- und Forschungslücke: Großformatig und in hervorragender Qualität präsentiert er alle 60 erhaltenen Federzeichnungen aus beiden Chroniken. Doppelter Anlass für dieses Unternehmen waren der 550. Geburtstag Gerstenbergs 2007 wie auch eine Restaurierung der Handschriften 2005, sodass die ausgebundenen Originale in einer Ausstellung gezeigt werden konnten. Der Katalogteil des Bandes präsentiert die Illustrationen als ganzseitige Abbildungen, denen ausführliche Beschreibungen der Bildinhalte wie der historischen Kontexte beigefügt sind.
Dem Katalog vorangestellt sind 15 Aufsätze, die aus interdisziplinärer Perspektive den aktuellen Forschungsstand zum Autor Gerstenberg, zu seinen Werken und zu den Illustrationen zusammentragen. Vier Beiträge sind Gerstenbergs Vita gewidmet: Heinrich Meyer zu Ermgassen sammelt die Zeugnisse zu Gerstenbergs Studium in Erfurt und seiner Laufbahn als Kleriker bis zur Ernennung zum landgräflichen Kaplan an der Marburger Schlosskirche. Otto Volks Beitrag über das Verhältnis zwischen Gerstenberg und dem Marburger Hof des Landgrafen Wilhelm III. zielt auf die Frage, wer als Initiator der als Fürstenspiegel verfassten Landeschronik anzusprechen ist. Statt in Wilhelm III. vermutet Volk den Auftraggeber im Hofmeister Hans von Dörnberg, der - schon unter den Zeitgenossen als "heimlicher Landgraf" berühmt - Oberhessen über Jahrzehnte hinweg faktisch regierte. Ulrich Ritzerfeld zeichnet ein Bild von Gerstenbergs Geburtsort Frankenberg an der Eder, einer im 13. Jahrhundert durch die Landgrafen gegründeten Stadt mittlerer Größe mit einer über die Region hinausstrahlenden Lateinschule, die eine Generation nach Gerstenberg auch der humanistische Dichter Eobanus Hessus besuchte und besang.
Der Beitrag von Mathias Kälble über Gerstenberg und die Landgrafschaft Thüringen ist eigentlich schon in das zweite Kapitel über seine Werke zu rechnen. Zwei Drittel der "Landeschronik", so Kälbles Ausgangspunkt, sind der Zeitspanne gewidmet, in der Thüringen und Hessen nach der Ansicht Gerstenbergs "einherig und ein land gewest" seien (43). Indem der Autor die Anfänge Hessens über die etablierte Herleitung von der heiligen Elisabeth als Landesmutter weit hinaus in die Völkerwanderungszeit des 6. Jahrhunderts vorverlegte, folgte er der zwischen 1407 und 1418 in Eisenach entstandenen Thüringischen Landeschronik des Johannes Rothe, auf den er sich auch 142 Mal ausdrücklich berief (45). Hessen spielte zwar in Rothes Chronik keine Rolle, Gerstenberg erklärte das Land jedoch kurzerhand zu "Westdoringen". Er konnte damit postulieren, dass der hessische Landgraf als eigentlicher Erbe, die Wettiner dagegen als spätere Usurpatoren der Herrschaft anzusprechen seien.
Der zweite Schwerpunkt des Aufsatzteiles setzt mit einem (schlecht redigierten) Bericht des Restaurators Konrad Wiedemann über die Rekonstruktion des ursprünglichen Lagenaufbaus in der Landeschronik ein. An ihn schließt sich eine stilkritische Analyse der Illustrationen beider Chroniken von Harald Wolter-von dem Knesebeck an, die jedoch ebenfalls hauptsächlich auf die Landeschronik referiert. Für Technik, Komposition und das begrenzte Formelrepertoire macht er sich auf die Suche nach möglichen Vorlagen. Jürgen Schulz-Grobert dagegen richtet den Fokus seines Beitrags auf das Verhältnis von Bild und Text in beiden Handschriften. Wie er zeigt, verwandte nicht nur der Autor große Sorgfalt auf die Bebilderung, indem er die Bildinhalte in Maleranweisungen am Rand der Handschriften detailliert vorgab. Auch der unbekannte Illustrator nahm auf die Chroniktexte selbst Bezug, deren Ereignisketten er zum Teil in Simultandarstellungen ins Bild setzte (102).
Der Beitrag von Klaus Niehr behandelt, welche Episoden der Autor überhaupt einer Illustration für wert befand. Für den mit den Chroniken unvertrauten Leser macht sich allerdings negativ bemerkbar, dass die Herausgeber in der Konzeption des Bandes auf eine zusammenfassende Einführung in den Inhalt der beiden Texte verzichteten. Nur zum Teil kann dies durch den Beitrag von Joachim Schneider geleistet werden, der die Werke, allen voran wiederum die Landeschronik, in die dynastisch-territoriale Geschichtsschreibung der Zeit einordnet. Schneiders zentraler Aufsatz liefert damit nicht nur eine kenntnisreiche Typologie der vorreformatorischen Landes- und Dynastiechroniken im Reich, die im Gegensatz zu entsprechenden Überblicksdarstellungen zu städtischen Chroniken in der Forschung bislang ausstand. Er schafft damit zugleich eine Folie, vor der er Gerstenbergs Werk als "geschlossenes und zugleich elaboriertes, auch Einschnitte und Dynastiewechsel, ja sogar eine lange währende 'Doppel-Herrschaft' Hessen-Thüringen postulierendes 'landesgeschichtliches Programm'" würdigt (110).
Der dritte Schwerpunkt des Aufsatzteiles beleuchtet den Gehalt der Bilder unter Einzelaspekten. Jochen Ebert und Stephan Hagenbusch widmen sich dem Themenbereich Umwelt, Landschaft und Natur, Holger Th. Gräf den Burg- und Stadtansichten, Birgitt Borkopp-Restle und Barbara Welzel den Kostümen und Rüstungen, Siegfried Becker den Realien und Interieurs, Heinrich Meyer zu Ermgassen den Wappendarstellungen auf den sechzig Federzeichnungen. Ohne ihre Erkenntnisse zu schmälern, stehen alle Autoren vor dem Problem, dass sich die von ihnen untersuchten Bildaussagen nicht mit den Darstellungsabsichten des Illustrators treffen. So etwa setzte er Jahreszeiten oder Unwetter, wiewohl im Chroniktext beschrieben, im Bild nicht um: Eine von Gerstenberg beschriebene Niederlage der Frankenberger vor Brilon 1473 im Schneetreiben etwa inszenierte er auf frühlingsgrüner Wiese (318). Insofern stellte sich Steffen Kriebs Themenauftrag "Bilder des Krieges" in den Chroniken als Glücksfall heraus. Zwar bezwecken die Illustrationen auch hier vorrangig die Umsetzung der Erzählungen ins Bild und keine "realistische" Darstellung der mehr aus Plünderungszügen denn aus Schlachten bestehenden Gewaltakte. Das große Interesse des Illustrators an aktuellem militärischem Gerät, dessen Darstellung als mögliche Vorlage zeitgenössische Büchsenmeisterbücher vermuten lässt, bietet jedoch reicheres Material für diesen als für die übrigen genannten Aspekte.
Als Manko des gesamten Aufsatzteiles fällt ins Auge, dass die Bebilderung der Aufsätze, selbst wenn sie nicht in den Anhang (375-391) verbannt wurde, durch ein fehlendes Verweissystem nur mühsam den entsprechenden Textpassagen zuzuordnen ist. Die Katalogartikel wurden nicht namentlich gekennzeichnet, obwohl die teilweise sehr unterschiedlichen Blickwinkel auf die Bilder verschiedene Autoren - angesichts wiederkehrender Informationen aus dem Aufsatzteil eventuell die vorn genannten Verfasser - vermuten lassen. Aus inhaltlicher Sicht ist schade, dass die Mehrzahl der Beiträge den Fokus auf die Landeschronik richtet, obwohl die Frankenberger Stadtchronik die sorgfältigeren und im Gegensatz zur Landeschronik kolorierten Bilder und eventuell auch Gerstenbergs ambitioniertere "Meistererzählung" im Sinn historischer Identitätsstiftung bietet. Diese Kritik an der Konzeption des Bandes soll und kann jedoch nicht das Verdienst schmälern, die bislang nur wenig bekannten Bildzyklen beider Chroniken nicht nur zugänglich gemacht, sondern sie auch kunst- und kulturhistorisch umfassend erschlossen zu haben.
Carla Meyer