Olaf Jessen: "Preußens Napoleon"? Ernst von Rüchel 1754-1823. Krieg im Zeitalter der Vernunft, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, 490 S., ISBN 978-3-506-75699-2, EUR 39,90
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Biografien zu verfassen, galt lange Zeit als methodischer Irrweg oder jedenfalls als Beitrag zu einem Genre, das nicht mehr an der Spitze des historiographischen Fortschritts zu verorten war. Dass damit eine wesentliche Dimension der Geschichte ausgeblendet und der Blick unnötig verengt wurde, zeigt neben anderen Olaf Jessen mit seiner Potsdamer Dissertation zu Ernst von Rüchel. Dieser gehörte zu einer Generation preußischer Militärs, die in ihrer Jugend noch stark von Friedrich II. geprägt wurden und in späteren Jahren die vernichtende Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt (1806) erlitten. Entsprechend waren die Wertungen ihrer Handlungen und ihrer Haltungen in der älteren und jüngeren Literatur, die häufig vom Fakt der Niederlage ausgehend die "Schuld" in persönlichem oder kollektivem Versagen oder in einem Verpassen der durch die Französische Revolution angestoßenen Modernisierung, ganz allgemein auch in einem geistig-politischen Erstarren des nachfriderizianischen Preußen sahen. Das relativ hohe Durchschnittsalter des preußischen Offizierskorps von 1806 und seine adelig-konservative Prägung wurden als zusätzliche Argumente für deren politische und militärische Unfähigkeit herangezogen. All dies diente bereits aufbauend auf zeitgenössischen Diskussionen der borussischen Geschichtsschreibung dazu, zwischen Friedrich II. und dem nationalen Aufbruch der Befreiungskriege eine Schattenperiode zu verorten, die Vorläufer und Nachfolger nur umso heller erstrahlen ließ.
Vielfach wurde hier indes mit Klischees und dem bloßen Augenschein gearbeitet, und die Unwilligkeit der meisten Nachkriegshistoriker, sich mit militärischen Fragen zu befassen, hat eine Neubewertung der überkommenen Vorstellungen lange Zeit behindert. Um so verdienstvoller ist in dieser Hinsicht Jessens Arbeit, die wenigstens für einen Vertreter dieser Generation eine differenzierte und auf den Quellen fußende Untersuchung vorlegt, ohne in das Gegenteil einer überzogenen Total-Revision früherer Wertungen zu verfallen.
Der 1754 geborene Rüchel war Spross einer pommerschen Adelsfamilie, deren wirtschaftliche Basis eher schmal war. Das mag mit zu seiner festen Überzeugung geführt haben, dass nur Adelige zum Offizier taugten, denn durch den Ausschluss von Bürgerlichen konnte sich der Adel im Offizierkorps ein privilegiertes und seinen Stand erhaltendes Betätigungsfeld sichern. Da Rüchel zeitweise als Inspekteur sämtlicher Militärbildungsanstalten Verantwortung für die preußische Offiziersausbildung trug, konnte er dieser Auffassung eine relativ große Wirksamkeit sichern. Diese Grundeinstellung war natürlich unvereinbar mit den vorherrschenden politischen Entwicklungen und Ideen der Zeit und hat ihm später den Ruf eingetragen, einer der konservativen Bremser zu sein, die die Niederlage von Jena und Auerstedt verursacht hätten. Jessen kann demgegenüber jedoch zeigen, dass von dem Konservativismus Rüchels nicht unbedingt auf eine grundsätzliche Abwehrhaltung gegen Reformen geschlossen werden kann.
Tatsächlich erkannte er den Reformbedarf von Staat und Armee, weshalb er sich intensiv mit zahlreichen Projekten auf allen möglichen Ebenen befasste, angefangen von der Struktur der Regierung bis hin zu militärisch-taktischen Detailfragen. Bedeutsam, weil mit einer langen Nachwirkung versehen, war sein Engagement für eine bessere Versorgung von Invaliden, Offizierswitwen und Soldatenkindern. Rüchel kann so gesehen durchaus als ein Reformer bezeichnet werden, allerdings konnte er sich weder stets durchsetzen, noch waren alle seine Vorstellungen wirklich zukunftsweisend, etwa wenn er die Divisionsgliederung ablehnte, die seit dem 19. Jahrhundert zum Standard der operativen militärischen Organisation wurde.
Ein Anliegen Rüchels war es, die Diskussion über all diese Fragen zu fördern, wozu er u.a. Mitbegründer der "Militärischen Gesellschaft" in Berlin wurde. Fest im Gedankengut der Aufklärung verwurzelt, ebnete er auch diesem den Weg in die Armee, obgleich es im ausgehenden 18. Jahrhundert angesichts neuer Ideen, die u.a. mit der Französischen Revolution sowie der nunmehr als Gegenbewegung zur vernunftgeleiteten Aufklärung einsetzenden Romantik verbunden waren, schon nicht mehr in jeder Hinsicht modern war.
Seine Verehrung für Friedrich II., als dessen letzter Schüler er galt, lässt Rüchel zunächst als rückwärtsgewandt und militärisch dem obsoleten Denken des Siebenjährigen Krieges verhaftet erscheinen. Indes kann Jessen auch hier belegen, dass die Verehrung von Friedrichs militärischen Prinzipien in der Praxis der Operationen und Gefechte, an denen Rüchel in verschiedenen Positionen teilnahm, nicht unbedingt zu einem Versagen führen musste. Zwar ist kein großer Sieg mit seiner Person verbunden, aber er bewährte sich während des Ersten Koalitionskriegs insoweit, dass er relativ schnell zum General aufsteigen konnte und ihm bedeutende Posten übertragen wurden. Tatsächlich handelt es sich bei der häufig so stark betonten Überlegenheit der revolutionären Neuerungen wie Bürgergeist, Kolonnentaktik und zerstreutem Gefecht nach den praktischen Erfahrungen Rüchels nicht um den klar erkennbaren Königsweg der Modernisierung. Er sah nicht völlig zu Unrecht Probleme eher in der Logistik und der Kommandostruktur, die es zu lösen galt, während er die Magazinversorgung und die Lineartaktik als erhaltenswerte Elemente des traditionellen militärischen Denkens ansah - und hierin später auch von Napoleon ungewollt bestätigt wurde, kehrte doch auch dieser zu beidem zurück, wo es möglich oder erforderlich war. Überdies zeigt der gescheiterte und letztlich aussichtslose Angriff seines Korps auf Kapellendorf in der Schlussphase der Schlacht von Jena im Stil eines napoleonischen Generals, dass er sich in der Praxis nicht immer an die eigenen theoretischen Schriften hielt - eine Untersuchung bloß seiner Schriften also keineswegs zur Beurteilung Rüchels als General ausreichen würde.
Tatsächlich geht daher jede Interpretation fehl, die holzschnittartig mit Jena und Auerstedt den Sieg des Modernen über das Unmoderne verbindet, jedenfalls soweit Rüchel betroffen ist. Jessens Untersuchung des Feldzuges zeigt vielmehr, dass vor allem Führungsprobleme auf Seiten der Preußen und viel mehr noch eine kollektive Vorstellung ursächlich für die Niederlage waren, nach der der Krieg von Anfang an nicht zu gewinnen gewesen sei. Rüchel wehrte sich überdies nicht gegen eine Modernisierung an sich, sondern gegen eine Modernisierung, die mit einer rücksichtlosen Bedrückung der Bevölkerung im Krieg einherging. Zu zeigen ist dies anhand der Magazinversorgung der Armee, durch die man eine Schonung der Bevölkerung zu erreichen glaubte, während die vorgeblich moderne Versorgung aus dem Land durch Napoleon letztlich einer Plünderung gleichkam. Es ist daher nicht unbedingt als negativ zu werten, wenn Rüchel sich einem derartigen Fortschritt widersetzte. Indes entwickelte auch er nach 1806 unter dem Druck des Krieges zumindest rhetorisch die Radikalität einer nationalen Erhebung gegen Napoleon, die wenig mit dem Geist des 18. Jahrhunderts gemein hatte. Er konnte sich also seiner Zeit nicht entziehen, was ihn zu einem guten Untersuchungsobjekt für das Studium der damaligen mentalen Umbrüche macht.
Ein Problem beim Verfassen von Biografien stellt das Finden eines geeigneten Aufbaus dar, der die Erfordernisse des Erzählens des Lebenslaufes mit strukturellen oder übergreifenden Überlegungen in Einklang bringen kann. Jessen hat hier eine grundsätzlich chronologische Herangehensweise gewählt, wobei er Rüchels Lebensphasen jeweils in die allgemeinen Entwicklungen einordnet. Das hat Vorteile, soweit es um das Nachvollziehen seines Lebensweges geht, erschwert aber auch die Rezeption des Buches hinsichtlich allgemeiner Fragen. Aus den Kapitelüberschriften geht nicht immer im ausreichenden Maße hervor, um was genau es jeweils geht, so dass das gezielte Auffinden der Ausführungen zu bestimmten Themenkomplexen zum Teil nicht einfach ist. Es hätte sich daher empfohlen, bestimmte Grundfragen über Exkurse oder strukturelle Kapitel zu behandeln sowie das Inhaltsverzeichnis deutlich differenzierter und aussagekräftiger zu gestalten. Auch hätte es die Auseinandersetzung mit den Thesen Jessens wesentlich erleichtert, wenn sich der Verlag nicht dazu entschlossen hätte, die Anmerkungen als Endnoten in den Anhang zu verbannen.
Die Arbeit fußt auf umfassenden Archivrecherchen (ausgewertet wurden nach dem Quellenverzeichnis Bestände in 24 Institutionen im In- und Ausland) sowie auf zahlreichen gedruckten Quellen (die auf 13 Seiten verzeichnet sind). Berücksichtigung fanden so unter anderem private und amtliche Korrespondenzen, interne Berichte, Gutachten und Planungen, Lebenserinnerungen sowie nicht zuletzt die publizistisch ausgetragenen militärtheoretischen Debatten der Zeit. Damit wurde vermutlich alles relevante noch greifbare Material zu Rüchels Lebenslauf aufgespürt, und die Anmerkungen zeugen von dem reichlichen Gebrauch, den Jessen davon gemacht hat. Tatsächlich steht teilweise die Auseinandersetzung mit der Forschung hinter dem unmittelbaren Rückgriff auf die Quellen zurück, weshalb der Wert der Arbeit sich vor allem auf der Quellennähe gründet. Gerade deshalb wäre eine umfassende Auseinandersetzung mit quellenkritischen und methodischen Fragen wünschenswert gewesen, die leider ebenso fehlt wie eine konzentrierte Auseinandersetzung mit den Thesen der älteren und neueren Forschung. Gerade in einem so intensiv beackerten Feld, wie es das Preußen in der Umbruchszeit um 1800 darstellt, wäre das für die Positionierung der aus den Quellenstudien gewonnenen Erkenntnisse im historiographischen Kontext notwendig gewesen.
Es steht zu hoffen, dass Jessen Nachahmer findet, die Rüchels Zeitgenossen ebenfalls quellengesättigte biografische Studien widmen, um auf diese Weise unsere Kenntnisse der Epoche grundlegend zu vertiefen und in einem zweiten Schritt eine neue Synthese der auf den Quellen beruhenden Einzelstudien zu ermöglichen. Dass dies angesichts der für diese Periode fundamentalen Bedeutung des Krieges auch die militärische Praxis umfassen muss, demonstriert die Arbeit trefflich.
Max Plassmann