Rezension über:

Christoph Brachmann: Memoria - Fama - Historia. Schlachtengedenken und Identitätsstiftung am lothringischen Hof (1477-1525) nach dem Sieg über Karl den Kühnen, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2006, 391 S., 260 Abb., ISBN 978-3-7861-2533-4, EUR 98,00
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Rezension von:
Eberhard König
Kunsthistorisches Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Eberhard König: Rezension von: Christoph Brachmann: Memoria - Fama - Historia. Schlachtengedenken und Identitätsstiftung am lothringischen Hof (1477-1525) nach dem Sieg über Karl den Kühnen, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/09/12079.html


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Christoph Brachmann: Memoria - Fama - Historia

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Angesichts des Ansehens, das die burgundische Hofkultur genießt, hat man den Sieger René II. von Lothringen (1451-1508), der sich des Leichnams bemächtigte, um ihn in einer Art Mahnmal in Nancy beizusetzen, kaum beachtet. Zwar hat Nicole Reynaud inzwischen Leistung und Œuvre von Renés herausragendem Buchmaler Georges Trubert wieder definieren können. Doch blieb es Christoph Brachmann überlassen, der an der TU Berlin mit dem hier anzuzeigenden Buch habilitiert wurde, über lokalhistorisch interessierte Untersuchungen hinauszugehen und das zu sichten, was entstanden ist, nachdem die Lothringer den Burgunder 1477 bei Nancy besiegen und töten konnten.

In einem inhaltsreichen Buch, das auf intensivem Quellenstudium beruht, versucht der Autor zunächst, sich dem Konflikt zwischen Karl dem Kühnen und René II. historisch anzunähern und die lothringische Hofkunst und -kultur bis 1500 zu charakterisieren. Dann gelingt es ihm, mit den herzoglichen Stiftungen, die nach dem Sieg von 1477 auf den Weg gebracht wurden, eine erste Phase des Gedenkens an die Schlacht zu umreißen, ehe er auf die historische und poetische Literatur eingeht, die noch unter dem Sieger entstanden ist. Doch damit endet die Untersuchung keineswegs; in einem weiteren großen Schritt widmet sie sich dem "Ausbau des Gedenkens" unter Antoine le Bon, der von 1508 bis 1544 regierte. Dieser zweite wichtige Mäzen hat für René II. das Grabmal errichtet und tritt in Glasfenstern neben ihm auf.

Von den figürlichen Monumenten gibt eher Gaignières noch eine Anschauung. Die Kirchen stehen noch, bilden aber keine geschlossene Einheit und stellen sich deshalb eher als archäologisch und antiquarisch interessante Forschungsgegenstände dar (charakteristisch ist da Abbildung 42, die einen Ausschnitt der leeren Fassade von Toul "mit den Überresten der Darstellung Herzog Renés II." zeigen soll). Um die Bauten kennenzulernen, ist man in Brachmanns Buch auf kleine Schwarzweißabbildungen angewiesen, gemischt mit Plänen und grafischen Ansichten, sodass über lange Strecken der Eindruck einer in erster Linie historischen Studie entsteht, zumal sich die Glasfenster, so mühevoll die Beschaffung der neun großen Farbabbildungen auch gewesen sein mag, der Wiedergabe widersetzen.

Nur ein Objekt hebt sich von diesem sorgsam sortierten und mit viel Sachverstand erläutertem Material ab: Le Songe du Pastourel, eine späte Bilderhandschrift von ausgefeiltem Layout: In Bastarda geschrieben, die Strophen aber auf renaissancehaften Tabulae ansatae, illustriert mit lavierten Federzeichnungen von bestechender Qualität. Unter René II. hatte Jean du Prier den Text bereits um 1485/90 gedichtet; cod. 2556 der Wiener Nationalbibliothek entstand aber erst unter Anton dem Guten gegen 1520. Die poetische Verarbeitung des Burgunderkriegs und deren bildliche Umsetzung bilden das Ziel des Buches, das mit elf schönen Farbabbildungen aufwartet.

Im letzten Kapitel geht es um Intentionen, Medien, Adressaten und Vorbilder, damit erst eigentlich um die schönen lateinischen Begriffe "Memoria, Fama, Historia", die dem ohnehin schon umständlichen Titel eine gelehrte Note geben, den das Buch gar nicht nötig hat. Das Gedenken an die Schlacht durch die Lothringer bildet für Brachmann eine Form des kulturellen Gedächtnisses - Memoria. Schriftsteller wie Jean du Prier, Schreiber, Buchdrucker und der geniale Illuminator des Songe du Pastourel arbeiten für fürstlichen Ruhm und politische Propaganda - Fama. Sie zielt auf Öffentlichkeit und auf die Schaffung einer Art überzeitlicher Autorität - nun ja, da passt Historia nicht ganz so gut.

Ob man dafür in Zeiten schwindenden Schullateins wirklich solche Worte bemühen muss, scheint mir zweifelhaft, zumal sich unter René II. und Anton dem Guten auch die schreibende Zunft schon lange vom Lateinischen zur Volkssprache gewandt hatte. Zudem verbinden Kunsthistoriker in ihrer Kunstsprache mit diesen Begriffen heute andere als die damaligen Konnotationen. Falsch werden die Worte dadurch nicht unbedingt: Für Memoria mag man darauf insistieren, dass damit jede Stiftung zu fassen ist, Grabanlage, Votivkirche, Kapelle oder Messe, also das von René II. für Karl den Kühnen eingerichtete Monument in der Stiftskirche Saint-Georges ebenso und das von Anton dem Guten für René II. errichtete Grab in der Observantenkirche von Nancy. Der Memoria dienen neben der Marienkirche beim Massengrab der Burgunder, die erst Notre-Dame de la Victoire hieß und heute als Notre-Dame de Bonsecours bekannt ist, auch die beiden Hofkirchen in Nancy und die neu errichtete Wallfahrtskirche Saint-Nicolas-du-Port. Zudem reicht der Begriff Memoria in ganz anderem Wortsinn über das kollektive Gedächtnis hinüber zur Fama.

Alles in Brachmanns Buch hat mit Historia zu tun, wenn das Wort denn Geschichte meint; bei der Wendung zur Buchmalerei, die in diesem Buch vollzogen wird, meint man damit aber das Bild, die "histoire" der "historieurs", und landet zu schlicht für den intellektuellen Höhenflug, den der Titel anstrebt. Solche Schelte trifft eher eine modische Tendenz, der sich das Buch mehr im Titel als in seiner Substanz unterwirft. Dass sich begabte Nachwuchskräfte herausgefordert fühlen, auf solche Weise für ihre Arbeit zu werben, wirft ein Licht auf mögliche Rezipienten, denen eine Latte von Schlagwörtern den Zugriff auf ein solches Buch erleichtert.

Im Kern zeigt Brachmann, wie weit eine historisch fundierte, interdisziplinär arbeitende Geschichtswissenschaft kommen kann, wenn sie einen historischen Moment größter Bedeutung und seine künstlerische und propagandistische Verarbeitung ins Auge fasst und in bis dahin nicht geahnter Breite erörtert. Der Autor kennt sich in den Nachbarwissenschaften so gut aus, dass man über bestimmte Strecken vergisst, dass man es mit einem deutschen Kunsthistoriker zu tun hat. Die ersten hundert Seiten könnten von einem breit gebildeten Historiker verfasst sein und auch im Folgenden greift das Historische oft weiter als die Betrachtung von Kunst.

Die Medien, die dem Gedenken an die Schlacht von Nancy dienten, zwingen zu einem methodisch differenzierten Vorgehen, das den Autor in verschiedenen Disziplinen des Fachs zeigt: Er muss sich vor der Architektur mit den weitgehend verstümmelten Skulpturen und den Glasfenstern bewähren, um dann auf über hundert Seiten eine späte Form der mittelalterlichen Hirtendichtung zu erschließen. Da im Songe du Pastourel jene Geschichte poetisch umgesetzt ist, der Brachmanns historische Annäherung gilt, bekommt sein Text zugleich eine bemerkenswerte Abrundung schon allein dadurch, dass die Zeitläufte anlässlich des Wiener Kodex noch einmal reflektiert werden.

In seiner methodischen Ausrichtung schließt sich das Buch an Werke wie Françoise Robins Bücher über den Guten König René an (zuletzt: La cour d'Anjou-Provence. La vie artistique sous le règne de René, Paris 1985). Das heißt auch, dass sich der Autor in Einzelfragen ein letztes Wort selbst verbietet. Im Falle des Songe du Pastourel referiert er, dass Reynaud auf Hugues de la Faye, seit 1513 Hofmaler Antons des Guten, hingewiesen hat, bringt aber Gabriel Salmon für die Miniaturen ins Spiel. Er füttert seine Behandlung des Manuskripts, die auch der Tradition von Buchmalerei unter König René nachgeht, mit schönen Beobachtungen aus der Grafik, versäumt aber den Blick nach Osten auf das Elsass und die Schweiz, wo Federzeichnung eine viel größere Rolle im Buch als in Frankreich hatte. Bei der Meisterfrage kommt er auf Seite 328 dann zur enttäuschenden Formel "wird sich an dieser Stelle nicht lösen lassen." Darin steckt Klugheit, Vorsicht, zugleich aber auch ein Zögern, das derjenige, den es noch interessiert, wer die Dinge geschaffen hat, für eine Spur von Desinteresse halten könnte. Das erklärt vielleicht auch, warum die Frage fehlt, ob der Wiener Kodex mit seiner sehr unausgeglichenen Malweise nicht über weite Strecken unvollendet geblieben ist. Doch im interdisziplinären Wettstreit um die Relevanz des eigenen Gegenstandes schlägt sich Brachmann hervorragend. Die Kunst wird von ihm in ein Geflecht historischer Interpretation gestellt. Das große Ereignis des Sieges von 1477 gibt dem Buch seinen Angelpunkt; die hohe Qualität des Songe du Pastourel versöhnt jene, die in der Kunst noch anderes sehen als Machtdokumentation und propagandistische Erziehung.

Dieses vom Verlag ordentlich ausgestattete Buch kommt der heute wieder lauthals erhobenen Forderung, man solle die Grenzen des eigenen Faches überwinden, sogar mit einer in Einzelheiten eigenständigen Transkription des Songe du Pastourel entgegen. Spezialisierung wird keineswegs vermieden, vielmehr zeigt sich der Autor in verschiedenen Kompetenzen jeweils auf der Höhe der methodischen Möglichkeiten. Damit bietet das Buch zugleich in altmodischem Sinn eine gelungene Bearbeitung eines in seinen Dimensionen bisher übersehenen Themas, das der Autor aufgespürt, nach den Regeln verschiedener Künste ausgekundschaftet und in einem angemessenen Ton dargestellt hat.

Eberhard König