Emanuela Scarpellini: L'Italia dei consumi. Dalla Belle Époque al nuovo millennio, Bari / Roma: Editori Laterza 2008, 316 S., ISBN 978-88-420-8599-7, EUR 24,00
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Ein bitterarmes Land verändert innerhalb von etwa 100 Jahren seine Physiognomie - und zwar grundlegend: Es verwandelt sich von einer Agrar- in eine Industrie- und schließlich in eine moderne Dienstleistungsgesellschaft, wobei der Konsum eine immer größere Rolle spielt. Was heißt das genau? Und was heißt das vor allem für die Menschen, die solchen Umwälzungsprozessen ausgesetzt sind und mit ihnen fertig werden müssen? Wie lebten sie, was aßen sie, wie wohnten sie, wie kleideten sie sich und was taten sie in ihrer Freizeit, wenn sie überhaupt eine hatten?
Emanuela Scarpellini, Historikerin an der Universität Mailand, geht diesen und vielen anderen Fragen verwandter Natur am Beispiel Italiens nach, das im 20. Jahrhundert zu einer führenden Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist. Herausgekommen ist ein ungemein interessantes, aspektreiches und methodisch anregendes Buch, das niemand ignorieren darf, der über Italien forscht oder mehr über das Land südlich der Alpen wissen will.
Der Aufbau der Studie orientiert sich an den großen politischen Zäsuren der Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. Der erste Teil ist dem liberalen Italien bis 1922, der zweite dem faschistischen bis 1945 und der dritte und vierte Teil dem demokratisch-republikanischen nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet, wobei hier zwischen den Jahren des Wirtschaftswunders und der Überflussgesellschaft unterschieden wird, die in den siebziger Jahren begann.
Im Vordergrund der Betrachtung steht dabei zunächst der private Konsum, der nicht nur von Schicht zu Schicht stark variierte; auch Geschlecht und Alter spielten eine Rolle, nicht zu vergessen die Region und der Umstand, dass sich in den Städten ganz andere Konsummöglichkeiten eröffneten als auf dem Land. Man denke nur an die großen Konsumtempel, die um 1900 entstanden, an die Supermärkte, die Messen und Kaufhäuser, die natürlich nur in den Metropolen anzutreffen waren, während der Konsument auf dem Land mit schlecht bestückten kleinen Läden und fahrenden Händlern vorliebnehmen musste. Generell aber gilt mit Blick auf den privaten Konsum, dass die Italiener zumal in den Jahrzehnten nach 1945 eine rasante Aufwärtsentwicklung erlebten, die nach Waschmaschine und Kühlschrank rasch auch den ersten Fernsehapparat und das erste Auto in den Bereich des Möglichen rücken ließ, während in den Jahrzehnten zuvor zumal bei den weniger begüterten Schichten fast das gesamte Familieneinkommen für Lebensmittel und Wohnung aufgewendet werden musste.
Fast gleichgewichtig behandelt Emanuela Scarpellini außerdem den öffentlichen und kollektiven Konsum, wobei sie hier ihr Augenmerk vor allem auf das Bildungswesen, das Gesundheitssystem und die Sozialversicherung und andere Varianten allgemeiner Daseinsfürsorge richtet - auf staatliche Leistungen und Angebote mithin, die im Laufe der Zeit kontinuierlich ausgeweitet und für politische Ziele instrumentalisiert wurden, wie sich am Beispiel des Faschismus, aber auch für die Zeit nach 1945 zeigen lässt, als die Democrazia Cristiana als dominierende Regierungspartei alle Register der öffentlichen Konsumpolitik zog, um ihre Wähler und Mitglieder bei der Stange zu halten.
Transferleistungen dieser Art, die Millionen zugutekamen, waren es nicht zuletzt, die auch Italien in eine formierte Mittelstandsgesellschaft verwandelten, in der Stand und Klasse nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen sind. Emanuela Scarpellini warnt allerdings davor, sich zu sehr auf den Augenschein zu verlassen. Unterschiede (und zwar nicht nur feine) blieben hinter der Fassade einer allgegenwärtigen Massenkonsumgesellschaft bestehen und sie wurden in den 1990er Jahren nach Jahrzehnten einer stetigen Angleichung sogar wieder größer, wobei die gegenläufige Bewegung in Italien ausgeprägter zu sein scheint als in vielen anderen europäischen Ländern.
Schließlich lenkt die Autorin unsere Aufmerksamkeit auf die Produzenten der konsumierten Güter, auf die Bedingungen, unter denen diese hergestellt wurden und auf die einheimischen und fremden Rohstoffe, aus denen sie bestanden. Auch die "Mittler", die Händler, die Kaufhausketten und die Spediteure und ihre engmaschigen Vertriebsnetze werden nicht vergessen, ganz zu schweigen von der immer raffinierteren Werbung, die in ihrer ganzen manipulativen und innovativen Ambivalenz zur Darstellung gelangt.
Besonderen Reiz gewinnt die Studie dadurch, dass die Autorin immer wieder auf Ergebnisse von Nachbardisziplinen rekurriert, um ihre historischen Befunde einzuordnen und in neuem Licht erscheinen zu lassen. Sie beweist in der dosierten Nutzung dieser Kunstgriffe ebenso große Umsicht wie beim Einsatz erzählerischer Mittel, die der Studie eine so stupende Anschaulichkeit und Frische verleihen, wie sie in wissenschaftlichen Abhandlungen ansonsten selten zu finden ist - so etwa, wenn sie Inhalt und Beschaffenheit einer Speisekammer schildert, den Leser in das imaginierte Zimmer eines Jugendlichen entführt oder einer Familie auf ihren Alltagswegen folgt. Reportage und Analyse fließen hier so glücklich ineinander wie in anderen Teilen dieses Buches, das bald den Rang eines Standardwerks haben wird.
Hans Woller