Joke Brouwer / Arjen Mulder (eds.): Interact or Die! 'There is drama in the networks.', Rotterdam: NAi Uitgevers 2007, 220 S., ISBN 978-90-5662-577-1, EUR 27,50
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Die Katalogpublikation "Interact or Die!" erschien anlässlich des Dutch Electronic Art Festival 2007. Das DEAF wird in Zweijahres-Turnus von der in den Niederlanden im Bereich der Medienkunst führenden Institution V2_Institute for the Unstable Media in Rotterdam veranstaltet. Die beiden Herausgeber - die Kuratorin und Autorin Joke Brouwer und der Essayist, Medientheoretiker und studierte Biologe Arjen Mulder - gehören seit Beginn zu den zentralen Akteuren von V2. Sie veröffentlichten bereits eine Reihe von Aufsätzen für das Institut sowie die Festivalkataloge der vorangegangenen DEAF-Veranstaltungen. Die aktuelle Publikation umfasst Aufsätze und Interviews der Konferenzteilnehmer sowie Werkbeschreibungen zu den Ausstellungsbeiträgen des DEAF 2007. Das Buch untermauert dabei die im Titel des Festivals bereits anklingende Intention des Themas.
"Interact or Die!" beschäftigt sich mit Interaktivität als einem Lebensprinzip. Zwei Thesen sind für die Herausgeber wesentlich: Erstens wird der Begriff der Interaktivität nicht länger als Aktions-Reaktionsfolge verstanden, sondern als ein Prinzip, das maßgeblich für die Entstehung von Formen, Netzwerken und Organismen und ihre Evolution ist. Im Vorwort wird die Intention der Publikation wie folgt beschrieben: "'Interact or Die!' explores how interaction both forms and selects the effective, functioning parts of networks and leaves the noneffective parts to die." (4) Zweitens wird das Resultat von Interaktivität - seien es Formen, Organismen oder das Verhalten in Systemen - als im Vorfeld nicht absehbar beschrieben; die entstandenen vorübergehenden Verhältnisse erfordern erneute Interaktion. Damit ist das Umfeld von Individuen ein sich stetig veränderndes, in welchem sie sich orientieren indem sie sich (im Sinne von "exploratory behavior") wie Forscher darin bewegen. Jedes Kunstwerk wird entsprechend diesem Konzept der gegenseitigen Beeinflussung von Form und Rezeptionsverhalten als interaktiv betrachtet. Dazu heisst es: "Interactivity is, on the one hand, a method of bringing something into being - whether a form, a structure, an organization, a body, an institute, or a work of art - and, on the other, a way of dealing with it." (5) Die beschriebene Stimulation, die vom Kunstwerk aus- und an das Publikum übergeht, legt Parallelen zu rezeptionsästhetischen Überlegungen nahe, die jedoch im Weiteren nicht eingehender thematisiert werden.
Den Auftakt des Katalogs bilden Interviews mit dem Biogenetiker Sean B. Carroll und der Wissenschaftsphilosophin Eva Jablonka. Das bereits erwähnte Konzept von Interaktivität als Lebensprinzip wird systembiologisch unter Aspekten der genetischen Informationsweitergabe veranschaulicht. Sean B. Caroll konzentriert sich dabei auf den Begriff "evolutionary developmental biology" und erläutert den Zusammenhang zwischen biogenetischen Veränderungen in Organismen und Umwelteinflüssen. Eva Jablonka beschäftigt sich mit der Epigenetik und somit mit der Frage, wie Veränderungen, die nicht in der DNA-Sequenz codiert sind, dennoch von einem Organismus zu einem der nächsten Generation übertragen werden. Die Gespräche konzentrieren sich auf den jeweiligen wissenschaftlichen Diskurs, ohne Querverbindungen zur Kunst zu öffnen.
In den beiden folgenden Beiträgen zu den Besonderheiten interaktiver Kunst differenzieren Arjen Mulder und Brian Massumi die Rolle der Betrachtenden. Im Unterschied zu der weithin verbreiteten Auffassung, sie seien - angesichts ihrer aktiven Haltung - selbst ein Bestandteil des Kunstwerks, behandeln die Aufsätze hier das interaktive Kunstwerk als eine fortdauernde, auf das Publikum übertragene schöpferische Auseinandersetzung zwischen Künstler und Werk. Es nimmt demzufolge nicht bloß teil und vervollständigt das Werk, vielmehr übernimmt es die Schöpfungsleistung des Künstlers, führt sie fort und ist im Moment der Rezeption gleichzeitig Entwickler und Ausführender der künstlerischen Intention. Unter dem Titel "The Exercise of Interactive Art" erläutert Arjen Mulder seine Beobachtungen zur interaktiven Kunst an konkreten Werken. Fünf Aspekte finden darin Beachtung: die Feststellung und Definition von Interaktivität von Kunstwerken anhand ihrer formalen Beschaffenheit; ihre Verortung und Verteidigung im Feld der Kunst; die Beschreibung verschiedener Interaktionsformate (z.B. symbolische Interaktion, physikalische Interaktion); die symbolische Ebene, wobei die Bedeutung nicht semiotisch fixiert ist sondern erfahrbar wird durch die Interaktion zwischen Betrachter und Werk; und die Vermittlung und Präsentation des Werkes als Herausforderung.
Brian Massumi gelangt in seinem Gesprächsbeitrag "The Thinking-Feeling of What Happens" zu einer Beschreibung des ästhetischen Moments (aesthetic effect) des interaktiven Kunstwerks. Seine Forderung an das interaktive Werk schließt an seine Aussagen zur Funktion des Kunstwerks als Membran zwischen Wirklichkeit und Abstraktion an, wobei die erzeugte Form selbst auch immer Teil der Wirklichkeit ist. Entsprechend formuliert er sein Anliegen: "I would encourage a rethinking of interactive art - from the premise that its vocation is to construct a situation or go into an existing situation, and open it into a relational architecture [...] What interactive art can do - what its strength is, in my opinion - is to take the situation as its 'object'" (78f.) Das interaktive Kunstwerk stellt laut Massumi im besten Falle eine Situation her, in der die Wahrnehmung der Interaktivität selbst möglich wird. Das ästhetische Moment äußert sich in einem Denken-Fühlen, bei dem der Betrachter gleichzeitig das Verhältnis zwischen sich und anderen Betrachtern als auch sein Verhältnis zur Form, d.h. zur Situation, in Erscheinung treten sieht. Brian Massumi stellt in seinen Ausführungen Parallelen sowohl zur Rezeptionsästhetik als auch zu Gilbert Simondons Theorien der Individuation her. Simondon ist als Technikphilosoph eine wichtige Schlüsselfigur für die französische Phänomenologie der 1950er Jahre. Auf seine Positionen wird in der Publikation mehrfach Bezug genommen, und so ist es schlüssig, dass am Ende des Bandes ein Auszug aus "Technical Individualization" von Simondon sowie eine Einführung in dessen theoretische Ansätze von dem Soziologen Alberto Toscano angefügt sind.
Die weiteren Beiträge beschäftigen sich, vom Standpunkt der Architektur, des Design und der Soziologie aus, mit dem Prozesscharakter der Interaktivität und erläutern, inwieweit dieser die Grundlage für Netzwerke und Netzstrukturen bildet. Ergänzt werden die Autorenbeiträge durch Werkbeschreibungen künstlerischer Projekte, die während des Dutch Electronic Art Festival 2007 in Rotterdam ausgestellt wurden. Unterthemen wie "Growing Networks" oder "Interactive Automata" fassen die Projektbeschreibungen zusammen und vermitteln den Ausstellungskontext und das künstlerisch-kuratorische Konzept, auf das sich der Katalog bezieht.
Die im Titel aufgeworfene Polarisierung von Tod und Interaktion entwirft ein ontogenetisches Konzept der Interaktion als Ursprung aller Dinge. Der somit metaphysisch und phänomenologisch gesetzte Tenor der Publikation umfasst weniger die konkrete Auseinandersetzung mit den materiellen und strukturellen Besonderheiten interaktiver Kunst. Auf Fragestellungen zum Verhältnis von Technologie und künstlerischer Erscheinung bietet zumindest der Ansatz von Gilbert Simondon - für den Natur und Technik keine Gegensätze, sondern lediglich verschiedene Ausformungen aus ein und demselben Ursprung darstellen - einen Reflexionshorizont.
Der Titel "Interact or Die!" des thematisch der interaktiven Kunst zugewandten Festivals mag unter Umständen fälschlich als eine ironische Provokation verstanden werden. Im Bezug auf die interaktive Medienkunst scheint der radikale Imperativ des Titels keinen Ausweg aus dem technischen Rezeptionsentwurf zwischen Betrachter und Kunstwerk zu lassen. Der Katalog entwickelt jenseits davon eine formal wie inhaltlich produktive Erweiterung des Interaktionsprinzips. Aufsätze kunstferner Disziplinen zu einer produktiven Synthese einzubinden, stellt dabei eine besondere Herausforderung dar, welcher die Publikation in weiten Teilen gerecht wird. Anstelle einer Ausstellungsdokumentation leistet der Katalog eine für die Ästhetik interaktiver Kunst wichtige Reflexion, der es sich lohnt, weiter nachzugehen. Die Publikation erhielt den Media.Art.Research Award 2008.
Ingrid Spörl