Robert Aldrich (Hg.): Ein Platz an der Sonne. Die Geschichte der Kolonialreiche, Stuttgart: Theiss 2008, 320 S., 250 Abb., ISBN 978-3-8062-2111-4, EUR 34,90
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Das von dem australischen Historiker Robert Aldrich herausgegebene großformatige Buch stellt ein gewagtes Unternehmen dar, beansprucht es doch nicht weniger, als die Grundlagen der kolonialen Herrschaft von 13 Staaten auf knappstem Raum vorzustellen. An einem solchen Projekt sind schon einige renommierte Historiker gescheitert und haben dem Versuch, eine allgemeinverständliche und dennoch nicht trivialwissenschaftliche Darstellung zu bieten, nicht selten die wissenschaftliche Exaktheit geopfert. Nicht so dieses sehr empfehlenswerte Überblickswerk.
Der enzyklopädisch angelegte Sammelband überzeugt zunächst durch sein großes Format und die gediegene Ausstattung. So wird bereits die Einführung des Herausgebers immer wieder von doppelseitigen Kartenabbildungen unterbrochen, die nicht nur die historische Situation der vergangenen Jahrhunderte vorstellen, sondern auch beispielsweise die aktuelle Militärpräsenz der Vereinigten Staaten in vielen Teilen der Welt abbilden (22f.). Die Karten sind farbig gehalten und gut beschriftet. Die zentralen Orte kolonialen Geschehens und kolonialer Verwaltungsorganisation sind eingezeichnet. Zu jeder Karte findet sich eine aussagekräftige Legende.
Einen großen Pluspunkt des Buches stellt die Vielfalt des gebotenen Bildmaterials dar. Neben den bis zu doppelseitengroßen Abbildungen finden sich viele halbseitige Beispiele kolonialer Fotographie, Karikaturen, verschiedenste Portraitdarstellungen kolonialer Protagonisten und Beispiele aus dem Bereich des künstlerischen Orientalismus. Dieses unbestreitbare Plus des Buches macht es nicht nur zu einem willkommenen Nachschlagewerk, sondern auch zu einem beeindruckenden 'Bilderbuch' für den kolonialhistorisch Interessierten.
Statistiken zu den jeweiligen Kolonialgebieten fehlen fast völlig, was aber nicht weiter ins Gewicht fällt, denn die zentralen und wichtigsten Angaben finden sich in der Regel in den zumeist flüssig und allgemein verständlich geschriebenen Texten. Diesen Mangel hätte man durch einen statistischen Anhang am Ende des Buches noch wettmachen können. Den Abschluss des Buches bilden die nach Kapiteln aufgeteilten Anmerkungen (mit vielen bibliographischen Hinweisen zum Weiterlesen) und ein leider nicht sehr detailliertes Gesamtregister.
Was weiterhin sehr positiv zu bewerten ist, ist die Tatsache, dass in diesem Sammelband die imperialistischen Initiativen von Nationen vorgestellt werden, die ansonsten in anderen Überblickdarstellungen vergleichbarer Art keine oder nur eine marginale Rolle spielen. So wird auch der oft übersehene skandinavische, vor allem dänische Kolonialismus, zwar als "Außenseiter", aber dennoch in die Schar der Kolonialnationen eingereiht. Ebenso positiv ist der Seitenblick auf das koloniale Gebaren der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zu bewerten. Artikel zu außereuropäischen Mächten wie China oder Japan fehlen, was vom Herausgeber mit dem beschränkten Rahmen einer solchen Publikation begründet wird. Aldrich legitimiert seine Auswahl damit, dass bei allen behandelten Nationen als Gemeinsamkeit ein "grundsätzlich europäisches Gedankengut und europäische Kultur, das ökonomische System des Merkantilismus und späteren [...] Kapitalismus, die Entwicklung von bestimmten Technologien [...] und die Ideologie des Konflikts der Großmächte" (25) zu erkennen sei.
Die einzelnen Artikel sind relativ knapp gehalten und werden dem Anspruch des Buches gerecht, einen ersten Überblick bieten zu wollen. Der längste Artikel von Frank Schumacher über den Imperialismus der USA ist 26 Seiten lang; am kürzesten sind die Artikel über die reichsdeutschen Kolonialbestrebungen und die Darstellung skandinavischen Kolonialengagements mit jeweils 16 Seiten. Die Artikel sind durchweg flüssig geschrieben, ohne auf die historische Schärfe und Genauigkeit zu verzichten. Die Autoren werden also in diesem Punkt durchweg dem selbst gesteckten Ziel des Herausgebers, eine fachlich einwandfreie und dennoch allgemeinverständliche Überblickdarstellung zu bieten, voll gerecht.
Dabei müssen die jeweiligen Autoren teilweise größere Zeiträume in ihrer Darstellung abdecken. So versucht der Artikel von Nicholas Doumanis über das Osmanische Reich den Zeitraum vom Fall Konstantinopels 1453 bis zur formalen Auflösung des Reiches durch Mustafa Kemal im Jahre 1922 in den Blick zu nehmen. Was ebenfalls in manchen Artikeln dieser Publikation positiv auffällt und in der Einleitung bereits angedeutet wird (9) ist der kritische Umgang mit der überkommenen Terminologie historischer Forschung. Exemplarisch sei hier der Artikel von Josep Fradera über das spanische Kolonialreich genannt. Solche Beispiele wissenschaftlicher Selbstreflexion zeigen eben, dass es sich bei dem hier besprochenen Werk gerade um keine populärwissenschaftlich-verkürzende Darstellung handelt, sondern auch einen wissenschaftlich geschulten Leserkreis ansprechen soll. Diesen Eindruck bestätigt wiederum die Einforderung 'neuer historischer Blicke' auf das alte Themenfeld 'Kolonialismus/ Imperialismus' (12f.). Die beiden Autoren Esther Captain und Guno Jones bieten etwa einen dezidiert postkolonialen Blick auf die imperialen Niederlande. In diesem abwägenden Beitrag werden konsequent Parallelen zu heutigen Problemen einer multiethnischen Gesellschaft gezogen. Besonders dieser Artikel wird der einleitend formulierten Vorgabe gerecht, "ohne unangebrachte Nostalgie und ohne zornige und polemische Verurteilung der imperialen Ziele [...] nicht so sehr autoritative Schlussfolgerungen" (25) herbeizuführen, sondern darüber hinaus gehende Fragen aufzuwerfen. Ähnlich erfreulich nah an dieser Vorgabe bewegt sich der Artikel von Schumacher über den "Imperialismus als Way of Life?" am Beispiel der Vereinigten Staaten.
Die Artikel über die britischen und französischen Kolonialimperien legen neben der historischen Betrachtung des Aufbaus und der Aufrechterhaltung kolonialer Herrschaft ein größeres Augenmerk auf die Phase der Entkolonialisierung und den daraus entstandenen aktuellen Problemen. Der Artikel von Frémeaux endet dann auch mit der ernüchternden Feststellung, dass es "noch lange dauern [wird], bis die französische Kolonialgeschichte zu einem rein akademischen Thema wird" (175). Auch den Beiträgen über den russischen bzw. sowjetischen, den belgischen und den amerikanischen Imperialismus ist das Bemühen der jeweiligen Autoren eigen, die imperiale Tradition der jeweiligen Staaten bis in die Zeit der Dekolonisation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bzw. bis in die Gegenwart zu verfolgen. Bezeichnenderweise zeigt das letzte Bild des Bandes in diesem Sammelband die brennenden Türme des 11. September 2001.
Insgesamt wird der Sammelband den in der Einleitung vorgestellten Absichten im weitesten Sinne gerecht. Den Fachleuten im Bereich der historischen Imperialismus- bzw. Kolonialismusforschung bietet er sicherlich keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse. Für alle anderen historisch Interessierten, denen es vor allem um einen schnellen, lesbaren und doch wissenschaftlich fundierten Überblick über diese historische Epoche geht, ist das Werk sehr empfehlenswert.
Michael Weidert