Rezension über:

Natasha Glaisyer: The Culture of Commerce in England. 1660 - 1720 (= Royal Historical Society Studies in History New Series; Vol. 50), Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2006, X + 220 S., ISBN 978-0-86193-281-8, GBP 40,00
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Rezension von:
Andrea Weindl
Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Weindl: Rezension von: Natasha Glaisyer: The Culture of Commerce in England. 1660 - 1720, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 11 [15.11.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/11/14730.html


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Natasha Glaisyer: The Culture of Commerce in England

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Auf die Suche nach der Kultur des Handels in dem sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur wichtigsten Handelsnation entwickelnden England macht sich Natasha Glaisyer in ihrer an der Universität Cambridge bei Mark Goldie eingereichten Doktorarbeit. Sie wählt dabei einen kulturhistorischen Ansatz und will vor allem Kommunikationswege der britischen Geschäftswelt freilegen sowie Aufbau und Verbreitung des Wissens um Handelszusammenhänge nachvollziehen, um, wie sie sagt, die Wirtschaftsgeschichte mit dem weiteren Ansatz allgemeiner Geschichtsschreibung wiederzuvereinen (12). Mit dem zeitlichen Rahmen zwischen Restauration und dem ersten großen Börsenkrach Großbritanniens, dem so genannten South Sea Bubble, legt die Autorin das Augenmerk auf die Jahrzehnte der Revolutionierung der britischen Finanzwelt. Immer mehr, zum Teil im Interesse der Handelsexpansion ausgefochtene Kriege trieben die Staatsausgaben in die Höhe, so dass der Ausbau Londons als europäisches Finanzzentrum und erste Anlaufstelle im Reexporthandel zur nationalen Aufgabe avancierte.

Allerdings stehen nicht Quantität, Wechselwirkungen und Institutionalisierung dieser Entwicklungen im Mittelpunkt der Untersuchung, wenngleich sie den historischen Kontext bilden. Gefragt wird vielmehr danach, inwieweit der Handel in dieser Periode legitimiert, vorangetrieben und verstanden wurde und mit welchen Mitteln das Wissen um Handel und wirtschaftliche Zusammenhänge verbreitet und erklärt wurde. Der tiefgehende Wandel der wirtschaftlichen Grundlagen einer Gesellschaft muss begleitet werden von der Umformung ihrer Leitbilder, so dass es nahe liegt, zum einen nach dem Verhältnis zwischen dem Träger alter Wirtschaftsformen, dem Adel, und dem Protagonisten der neuen Entwicklungen, dem Kaufmann, zu fragen. Gleichzeitig verbreiterte sich in England die Kaufmannsschicht, so dass es folgerichtig erscheint, der Vermittlung von Handelswissen für ein breiteres Publikum nachzugehen.

Die Autorin wählt zur Untersuchung dieser Fragen vier Fallstudien. Eingedenk der Schwierigkeiten wohl jedes frühneuzeitlichen Wirtschaftshistorikers, dass sich aufgrund widersprüchlicher Aussagen über eine bestimmte Quellenauswahl fast jede Hypothese über Ansehen und Achtbarkeit von Handel und Kaufleuten belegen lässt, wird der Auswahl der Fallbeispiele ein weiter Rahmen gesetzt: Die Königliche Börse, Predigten vor der Levante-Kompanie, Kaufmannshand- und -lehrbücher sowie Zeitungen aus London und der Provinz.

Die Königliche Börse diente nicht nur als sichtbares Zentrum der Handelswelt, gleichzeitig übernahm sie mehrere soziale Funktionen, förderte den Informationsaustausch, entwickelte sich zum Ort der Politisierung und stand für Gewinn oder Verlust von Ansehen und Glaubwürdigkeit der einzelnen Kaufleute. Diesen Facettenreichtum arbeitet die Autorin anhand eines weiten Quellenspektrums heraus. Pläne und Reiseführer werden ebenso herangezogen wie zeitgenössische Berichte und Illustrationen. So wird die Börse vor dem geistigen Auge des Lesers nicht nur als zentraler Ort für den Austausch von Waren, Preisbildung und Handelskommunikation abgebildet, sondern auch als ein bunter Mikrokosmos, in dem sexuelle Ausschreitungen ebenso an der Tagesordnung gewesen zu sein scheinen wie das Zusammentreffen verschiedener Gesellschaftsschichten und Klassen. Inmitten des Druckerei- und Verlagsviertels gelegen, fungierte die Börse als Sprachrohr der Kaufleute und half bei der Verankerung kaufmännischer Werte in Bevölkerungsschichten, die über die eigentlichen Kaufmannskreise hinausreichten.

Weitaus unbekannter dürften die vor der Levante-Kompanie gehaltenen Predigten sein. Für die Besetzung ihrer geistlichen Stellen im Nahen Osten lobte die Kompanie Predigtwettbewerbe aus und ließ viele Predigten der erfolgreichen Bewerber drucken. Gemäß dem Diktum von Ferrell and McCullough, dass Predigten der Frühen Neuzeit politische Instrumente darstellten und Zeugnis religiösen und gesellschaftlichen Wandels sind, erläutert Glaisyer den Kontext der Berufung, Aufstiegs- und Einkunftsmöglichkeiten der Berufenen, das Verhältnis zwischen gedruckter und gesprochener Predigt, um sich abschließend mit der Inhaltsanalyse des Gesagten zu befassen. Zwar wird auch in diesem Kapitel versucht, ein umfassendes Bild über Funktion und Wirkung der Predigten zu geben, doch leidet die Analyse ein wenig an der Einseitigkeit der Quellen. Die Veröffentlichung lediglich der Reden der angenommenen Geistlichen verweist die Antwort auf die Frage nach den Auswahlkriterien ins Reich der Spekulation, so dass das gewählte Beispiel zwar viel über Ablauf und Kontext der Stellenbesetzungen der Levantekompanie aussagt, die Funktion der Predigten innerhalb einer gesellschaftlichen Kommunikation über Handel aber etwas im Dunkeln bleibt.

Die letzten beiden Abschnitte ihrer Untersuchung widmet die Autorin zeitgenössischen Druckwerken. Die Verbreitung von Kaufmannslehr- und -handbüchern wird in den Kontext des allgemeinen Buchmarktes der Zeit eingeordnet, um anschließend auf die Motive für das Verfassen derartiger Bücher, auf die Zielgruppe, den Inhalt und die Erwartungen und Zusammensetzung der Leserschaft einzugehen. Naturgemäß können nicht alle Fragen allein anhand des Studiums dieses Quellenkorpus beantwortet werden, und folglich bleibt die Autorin gelegentlich im Aufwerfen von Fragen stecken. Für den deutschen Leser amüsant sind im Zusammenhang der auch hierzulande bisweilen vehement geführten Diskussion um die Übernahme fremdländischer Ausdrücke in der Finanzwelt die Erklärungen und Glossare für Ausdrücke wie cash, funds, stock etc., damals vor allem aus dem Italienischen ins Englische übernommene Fachtermini, die hierzulande als Zeugnis für die Vorherrschaft des Angelsächsischen in der Finanzwelt gelten (120-122).

Schließlich werden Hauptstadt- und Provinzzeitungen, die sich nicht ausschließlich der Welt der Wirtschaft widmeten, aber sich die Verbreitung des Wissens um die Wirtschaft zum Ziel gesetzt hatten, auf ähnliche Fragen hin untersucht: Neben einer Analyse des Inhalts wird auch danach gefragt, wie und in welchem Zusammenhang die Zeitungstexte entstanden, wie sie verbreitet wurden und welche Leserschaft sie fanden.

Alle vier Fallbeispiele der Untersuchung sind gut gewählt, um die Vielschichtigkeit der Kommunikationswege mit dem Ziel gesellschaftlicher Umgestaltung zu illustrieren. Da mag es der unterschiedlichen Dichte der Überlieferung geschuldet sein, dass gegen die Untersuchung zur Börse die anderen Kapitel an Anschaulichkeit etwas abfallen. Ein dichtes Sittengemälde der Zeit, das Kommunikationswege nachvollziehbar macht, entsteht auf diese Weise nur gelegentlich. Ein großes Verdienst der Untersuchung ist es aber sicherlich, verschiedene Quellengattungen umfassend recherchiert und für die Kulturgeschichte nutzbar gemacht zu haben.

Andrea Weindl