Tim Geiger: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958-1969 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 20), München: Oldenbourg 2008, 568 S., ISBN 978-3-486-58586-5, EUR 74,80
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Über die Kontroverse zwischen den Atlantikern und Gaullisten wurde bereits zeitgenössisch, in den 1960er Jahren, in der Memoirenliteratur und auch in der Forschung viel geschrieben. Keiner hat dieses Thema aber so gründlich und quellengesättigt untersucht wie nun Tim Geiger in seiner umfangreichen Dissertation, die das Hauptaugenmerk auf den Streit um die deutsch-französischen Beziehungen während der Endphase der Ära Adenauer und der Regierungszeit von Ludwig Erhard legt. Dabei kann Geiger auch immer wieder einzelne Urteile der Forschung revidieren und neue Akzente setzen.
Die Kontroverse unterscheidet sich von anderen Debatten um die Außenpolitik dadurch, dass sie innerhalb einer Partei respektive Parteienfamilie, der Union, ablief und sich aus mehreren Konfliktfeldern speiste, die der Autor klar herausarbeitet: konfessionelle, ideologische, regionale und macht- bzw. personalpolitische Aspekte bildeten die Quellen des Konfliktes und sorgten dafür, dass er über ein Jahrzehnt nicht versiegte. Tendenziell standen rheinische oder bayrische, politisch konservative Katholiken fränkischen und norddeutschen liberalen Protestanten gegenüber. Während die erste Gruppe um Konrad Adenauer, Heinrich Krone und Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg relativ eng zusammenarbeitete, waren ihre Rivalen um Gerhard Schröder, Kai-Uwe von Hassel und Ludwig Erhard eher locker verbunden. Franz Josef Strauß als permanenter gaullistischer Störenfried war wiederum mit Guttenberg über Kreuz und positionierte sich im Konflikt eher machtpolitisch instrumentell, vor allem gegen Erhard und gegen seinen Hauptfeind Schröder. Wie alle Personalia sind gerade die Passagen des Buches unterhaltsam, welche die zahlreichen Intrigen und Ränkespiele der Protagonisten nachzeichnen.
Der Konflikt begann mit dem dilatorischen Verhalten der Amerikaner in der zweiten Berlin-Krise (1958-1962), also nach Chruschtschows Ultimatum, und gewann an Schärfe mit dem Politikwechsel der neuen Präsidenten Charles de Gaulles und John F. Kennedy 1958/59 und 1960. Verschärft wurde die Lage durch das von Adenauer verzweifelt bekämpfte Einrücken der Atlantiker Erhard, Schröder, von Hassel in Kanzleramt, Außenamt und Verteidigungsministerium. Der als Aufpasser ins Kabinett entsandte Adenauer-Intimus Krone konnte mangels Kompetenzen die zunehmende, von Schröder provozierte Zerrüttung des deutsch-französischen Verhältnisses nicht verhindern. Das paradoxe Ergebnis der "Herrschaft der Atlantiker" war aber die ernsthafte Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen, welche zu Erhards Sturz 1966 beitrug, von den Gaullisten aber als Ausweis der Sinnlosigkeit einer atlantischen Politik aufgefasst wurde. Doch erging es ihnen nicht besser, denn de Gaulle machte alle Bemühungen um eine Revitalisierung der deutsch-französischen Freundschaft unter der Ägide der Großen Koalition, die von Geiger eher kursorisch behandelt wird, zunichte und gab der Bundesregierung 1968 gar die Mitschuld an der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei. Weitgehend beseitigt wurde der atlantisch-gaullistische Konflikt erst durch den Tod (Adenauer) oder Rückzug (de Gaulle, Schröder) der entscheidenden Protagonisten einerseits, durch das Aufkommen neuer Konfliktlinien in der Ostpolitik andererseits. Der Streit um die Ostpolitik verlief nun wieder vornehmlich entlang parteipolitischer Fronten, wenn auch die Union hier nicht zur früheren Geschlossenheit zurückfand, wie Geiger treffend hervorhebt. Am Ende hatten sich die Atlantiker durchgesetzt, als Garant der westdeutschen Sicherheit und letztlich auch der Option für die Wiedervereinigung, wie wir heute wissen, blieben die USA als Hauptverbündeter unverzichtbar. Zwar wollten auch die Gaullisten keinen Bruch mit Amerika, aber doch ein "europäisches Europa" mit einer - unrealistischen - deutschen Teilhabe an der französischen Force de frappe. Die Atlantiker wollten kein Zerwürfnis mit Frankreich, hielten jedoch de Gaulle für nicht ernsthaft bündnisfähig, wie es am deutlichsten ein Tagebucheintrag des Außenpolitikers Ernst Majonica zum Ausdruck bringt: "Hitler und de Gaulle sind zuviel für meine Generation." (505)
Mit seiner historiographischen Verzahnung von Partei- und Außenpolitik, von Weltanschauung und politischem Personal gelingt Geiger ein Beitrag zu einer modernen Geschichtsschreibung der internationalen Beziehungen. Dabei bezieht er auch partiell die Medien mit ein, die sich parallel zu den oben dargestellten Konfliktlinien aufstellten, so dass die Springer-Blätter, der Rheinische[r] Merkur und die katholische Bildpost gegen Spiegel, Stern, Zeit, Sonntagsblatt und Christ und Welt standen.
Eine offene Frage bleibt, ob die thematisierte Kontroverse der Vergangenheit angehört oder untergründig fortlebt und bisweilen erneut ausbricht, wie Geiger mit Verweis auf den Wahlkampf 2002 und die deutsche Achsenbildung mit Frankreich und Russland gegen den amerikanischen Irakkrieg andeutet. Die konfessionellen Motive sind heute verblasst und der Streit verlief anders als in den 1960er Jahren entlang der Parteigrenzen. Indes spielten Motive wie die nationale und europäische Behauptung gegen die USA einerseits und die Beschwörung atlantischer Positionen andererseits ja durchaus eine Rolle (auch in der Historiographie zu den 1960er Jahren). Insofern besitzt Geigers Studie auch politische Relevanz.
Peter Hoeres