Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München: C.H.Beck 2008, 439 S., 17 Abb., ISBN 978-3-406-57074-2, EUR 38,00
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Barbara Stollberg-Rilinger / Matthias Puhle / Jutta Götzmann / Gerd Althoff (Hgg.): Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800-1800, Darmstadt: Primus Verlag 2008, 256 S., ISBN 978-3-89678-634-0, EUR 29,90
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Dieses FORUM ist zwei Neuerscheinungen gewidmet, die in kürzester Zeit nacheinander erschienen sind und nicht nur die Autorin bzw. Hauptherausgeberin, Barbara Stollberg-Rilinger, gemeinsam haben, sondern auch demselben Forschungsansatz folgen, nämlich den Stellenwert von Zeremoniell und Ritual in Politik und Verfassung in Alteuropa auszuloten und diesem von der traditionellen Politik- und Verfassungsgeschichte wenig beachteten Aspekt den Platz einzuräumen, der ihm nach Meinung Stollberg-Rilingers in der historischen Forschung gebührt. Die beiden zu besprechenden Werke sind nicht die ersten Publikationen der Autorin zu diesem Themenkreis, sondern stehen in einer mittlerweile recht stattlichen Reihe eigener Veröffentlichungen sowie von Qualifikationsarbeiten ihrer Schülerinnen und Schülern, die diesem besonderen Ansatz der neuen Kulturgeschichte folgen. [1] Sie besitzen jedoch einen besonderen Rang, insofern der eine Band die erste monographische Umsetzung des Forschungskonzepts durch Barbara Stollberg-Rilinger selbst darstellt und der andere den Versuch markiert, die Ritualforschung der Münsteraner Schule einem breiteren Publikum durch eine Ausstellung bzw. den dazugehörigen Katalog nahe zu bringen.
"Des Kaisers alte Kleider" ist zweifelsohne eine der wichtigsten Neuerscheinungen zur Geschichte des Alten Reiches in den letzten Jahren. Barbara Stollberg-Rilinger positioniert sich hier nicht zum ersten Mal auf einem der vornehmsten Arbeitsfelder der deutschen Frühneuzeitforschung seit dem Zweiten Weltkrieg. Wesentlich akzentuierter und zugleich umfassender, als es ihr in ihrer kleinen Überblicksdarstellung bzw. diversen Aufsätzen möglich war, [2] kann sie das in diesem monographischen Rahmen tun. Ohne die Ergebnisse der 'neuen' Reichsverfassungsgeschichte gering zu schätzen, die vielmehr selbstverständlich Eingang in ihre Darstellung gefunden haben, wendet sie sich dabei entschieden gegen Tendenzen zu einer Glorifizierung des Alten Reiches in gegenwartslegitimierender Absicht. [3]
Positiv fällt bei dem Band von Anfang an die gepflegte, gut verständliche Sprache auf, die sich gerade dann bewährt, wenn es der Autorin gelingt, in einfachen, klaren Worten die aus der Kultursoziologie (Rehberg, Luhmann, Bourdieu u.a.) entlehnten theoretischen Prämissen konzis darzulegen, dass nämlich "jede soziale Ordnung auf sozialer Konstruktion und kollektiver Sinnzuschreibung beruht" (9). Im Alten Reich war es "vor allem die gemeinsame Teilnahme an öffentlichen symbolisch-rituellen Akten [...], worauf institutionelle Fiktionen errichtet waren" (11). Dieser Prämisse entspricht ein modifizierter Verfassungsbegriff: Statt des modernen, auf schriftlich fixierte Normen konzentrierten und nach Stollberg-Rilingers Verständnis für die Frühe Neuzeit weithin anachronistischen Verfassungsbegriffs konzentriert sie sich auf die "politische Praxis", und zwar ausdrücklich unter Einbeziehung der von früheren Historikergenerationen als äußerlich oder irrational qualifizierten Herrschaftsrituale, denn: "Die Exaktheit, auf die die Zeitgenossen selbst bis ins 17. Jahrhundert hinein Wert legten, war die Exaktheit der konkreten, symbolisch-rituellen 'Äußerlichkeiten', nicht die Exaktheit der abstrakten Begriffe" (15).
Der Band ist keine Gesamtdarstellung der Rituale im römisch-deutschen Reich der Frühen Neuzeit und beinhaltet auch keine chronologisch durchgehende Erzählung. Vielmehr konzentriert sich Stollberg-Rilinger inhaltlich auf "die zentralen feierlichen Akte und Verfahren, in denen 'das Reich' als Ganzes handelnd in Erscheinung trat" (19), wie Reichstage, Kaiser- bzw. Königswahlen und -krönungen sowie Thronbelehnungen, und zeitlich auf vier für die Entwicklung der Reichsverfassung bedeutende Schnittstellen, den Reichstag von Worms 1495, den Reichstag von Augsburg 1530, den Regensburger Reichstag 1653/54 und die Jahre um den Wechsel auf dem Kaiserthron 1764/65 [4] - eine durchaus nachvollziehbare Auswahl, die manche Parallelen zu den gängigen Periodisierungen der Reichsverfassungsgeschichte aufweist. Zwischenresümees helfen dabei, die Übersicht zu behalten.
Neben zahlreichen spannenden Einzelbeobachtungen steuert Barbara Stollberg-Rilinger etliche grundsätzlich neue Argumente und Erklärungsansätze zur Forschungsdiskussion über die Bewertung des Alten Reichs und seiner Verfassung bei. Wichtige Ergebnisse betreffen etwa den zeremoniellen Niederschlag der konfessionellen Spaltung durch den partiellen Rückzug der Protestanten von katholischen Solennitäten bzw. konfessionell aufgeladene Inszenierungen (97-123, 131-136, 165-172) sowie die Bedeutung des Lehnswesens und -zeremoniells. Eine wichtige Position in der Darstellung nimmt der Kaiser ein, der physisch immer seltener im Reich präsent war und stattdessen seine Herrschaftsrituale bevorzugt in seiner Residenz inszenierte. Dort konnte er das Zeremoniell anders als im Reich der eigenen Regie unterwerfen, bezahlte dies jedoch mit einem Verlust an Reichsöffentlichkeit. Der in der Forschung lange bekannte schleichende Rückzug des Hauses Österreich aus dem Reich hatte also auch seine zeremonielle Komponente.
Eine zentrale Bedeutung für die Reichsverfassung misst Barbara Stollberg-Rilinger der Präsenzkultur bei und erblickt in deren Verlust eine der gravierendsten Verfallserscheinungen der Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit. Sie verlängert die Tradition der mittelalterlichen Hoftage bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts, die erst mit dem endgültigen Verschwinden leibhaftiger Kaiser und Fürsten aus Regensburg 1664 völlig abbrach. Unter ihrer Untersuchungsperspektive sieht sie daher auch den Immerwährenden Reichstag nicht als zukunftsweisendes 'Parlament des Alten Reiches', sondern bewertet ihn, ohne seine Bedeutung als Informationsbörse zu verschweigen, als defizitär, nicht nur, weil er im 18. Jahrhundert eben nicht, wie im Westfälischen Frieden vorgesehen, als gemeinsames Beschlussorgan von Kaiser und Reichsständen in allen wichtigen politischen Materien fungieren konnte - die wichtigsten Entscheidungen fielen längst an den großen Höfen -, sondern auch, weil die Versammlung weniger, geburtsständisch und von ihren Fähigkeiten oftmals eher unbedeutender Reichstagsgesandter kaum dazu geeignet war, die Majestät von Kaiser und Reich wirklich darzustellen. Ein Grundproblem war der sich im Verlauf der Frühen Neuzeit immer weiter verschärfende Gegensatz zwischen dem Anspruch, "die Einheit des Ganzen unter der kaiserlichen Autorität" zu repräsentieren, und der "Freiheit der (großen) Glieder", welche "der Einheit des Ganzen beständig zuwiderlief und sie gefährdete" (280) [5]. Dieses Dilemma verlangte den Reichstagsgesandten und allen Beteiligten ein doppelbödiges Agieren ab. Ob der Begriff der "organisierten Heuchelei" (274 und öfter) hierfür allerdings besonders glücklich gewählt ist, wäre zu hinterfragen. Könnte nicht der zudem moralisch weniger aufgeladene Terminus "Dissimulation" besser verdeutlichen, dass eine solche Doppelbödigkeit in der Frühen Neuzeit durchaus nichts Ungewöhnliches war?
Nicht nur in Regensburg, sondern auch bei den für die Reichsgeschichte zentralen Ereignissen der Königs- bzw. Kaiserwahl und -krönung glänzten die Großen des Reichs zunehmend durch Abwesenheit, sodass an dem von der Autorin als "gespenstisch" charakterisierten zeremoniellen Krönungsmahl von 1764 neben Franz I. und dem frisch gewählten Joseph II. nur noch die geistlichen Kurfürsten teilnahmen, was nicht verhinderte, dass auch für die abwesenden weltlichen die Plätze gedeckt waren und die Speisen serviert wurden (242). Erschwerend kam hinzu, dass sich im Zeitalter der Aufklärung die Einstellung zu Symbolen und Zeremoniell änderte und dass 1765 mit Joseph II. der unzeremoniellste Kaiser der Frühen Neuzeit überhaupt die Regierung antrat.
Barbara Stollberg-Rilinger kann anhand zahlreicher Quellen, angefangen mit den bekannten, dem Buch seinen Namen gebenden Hegel-Zitat über die Krönungsgewänder des Kaisers (7), nachweisen, dass den Zeitgenossen dieser Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit bewusst war. Daher war es am Ende, 1806, "leicht, mit einem Federstrich die institutionelle Fiktion des Reiches zu zerstören, denn seine kollektive Handlungsfähigkeit war schon vorher zerstört" (317). Das schloss freilich nicht aus, dass die Zeitgenossen über sein Ende bestürzt waren. Leider wird die Endphase des Reiches nicht in einem eigenen Kapitel thematisiert, was wegen des Fehlens herausragender solenner Akte im Rahmen des selbst gestellten Untersuchungsprogramms zwar konsequent, aber dennoch zu bedauern ist, denn so fehlt ein Blick auf die zeremonielle Seite der finalen Erschütterungen des Reichskörpers. Überhaupt hätte ein enger geknüpftes Netz von Stichjahren mutmaßlich noch differenziertere Ergebnisse erbracht. Spannend wäre beispielsweise die Frage, ob der Wiederaufstieg des Kaisertums im Zeitalter Leopolds I. auch seine zeremonielle Seite hatte - etwa im Kontext der Kaiserinnenkrönung Eleonore Magdalenas von Pfalz-Neuburg sowie der Römischen Königswahl und -krönung Josephs I. 1689/90 - und ob damit die Entwicklung hin zu der Zeremonialkrise des Reiches in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weniger geradlinig erscheinen würde.
Zweifellos könnte man eine ganze Reihe von Fragen nach der Einordnung und der Bewertung der Ergebnisse stellen: Verstellt die Konzentration auf die Mächtigsten und deren zunehmende Distanzierung von der Reichshierarchie und ihren Ritualen nicht den Blick darauf, dass die kleinen Stände das Reich mitsamt seiner hierarchischen Ordnung in ganz anderer Weise mittrugen, und erhebt sie damit nicht letztlich die Sichtweise der Großen mit Österreich und Preußen an der Spitze zur Norm? Hatte nicht die Zeremonialkrise des Reichs ihre europäischen Parallelen und müsste sie nicht stärker in den Kontext eines allgemeinen Ritualverlusts oder -wandels im Zeitalter der Aufklärung eingeordnet werden? Schließlich wäre zu untersuchen, ob und inwieweit die Reichssymbolik unterhalb der Ebene der zentralen, solennen Akte (Stichwort: Kaisersäle, Kirchengebet für den Kaiser etc.) in Verbindung mit der blühenden Reichspublizistik partiell das zu kompensieren vermochte, was auf der Ebene der Präsenzkultur in Regensburg und Frankfurt verlorenging. Eine ausführliche Antwort auf diese und vergleichbare Fragen zu verlangen, hieße allerdings, zuviel von einer Pionierstudie zu verlangen, wie sie "Des Kaisers alte Kleider" darstellt.
Wenn sich auf den ersten Blick Barbara Stollberg-Rilinger mit ihrer neuen Sicht des Alten Reichs früheren Verdikten der borussisch-kleindeutschen Historiographie annähert, tut sie das freilich unter ganz anderen Voraussetzungen - von ihrem gegenwartslegitimierenden Ansatz her stehen manche der heutigen Reichsapologeten Treitschke näher als sie. Und wichtige Ergebnisse der neuen Reichsgeschichtsforschung, wie die Bedeutung der Reichsgerichte, bleiben von ihren Forschungen unberührt, denn: "Dieses Buch soll keine alternative Verfassungsgeschichte sein; es soll nur eine neue Perspektive dafür eröffnen" (18). Das Ziel ist ohne Zweifel erreicht worden, und mehr als das: Neben Reichsgrundgesetzen, Institutionen, Reichspersonal etc. ist nun auch das politische Ritual als ein konstitutiver Bestandteil der frühneuzeitlichen Verfassung so nachdrücklich ins Bewusstsein gerufen worden, dass er in Forschungsarbeiten und Synthesen der kommenden Jahre gebührende Berücksichtigung finden dürfte. Wie hoch man seinen Stellenwert im Einzelnen einstuft, dürfte vom konkreten Untersuchungsgegenstand und -zeitraum sowie Erkenntnisinteresse abhängen. Man darf gespannt sein auf eine fruchtbare und die Kenntnis vom Alten Reich und seiner Verfassung voranbringende Forschungsdiskussion, die hoffentlich dazu führen wird, den zeremonial- und ritualgeschichtlichen Ansatz in die traditionelle Reichsverfassungsgeschichte zu integrieren. Die politischen Rituale des Reiches als belanglos abzutun, sollte nach dieser Studie jedenfalls unmöglich geworden sein.
Ein Sammelband, zumal ein Ausstellungskatalog, folgt anderen Gesetzmäßigkeiten als eine Monographie. Gleichwohl oder gerade deshalb ergänzen sich die beiden hier vorzustellenden Publikationen gut, indem sie von denselben theoretisch-methodischen Prämissen ausgehen und der Katalog zudem thematische Anknüpfungspunkte zu "Des Kaisers alte Kleider" aufweist. Zugleich greift er aber über dessen Untersuchungsgegenstand in zeitlicher, geographischer und inhaltlicher Hinsicht hinaus. Wenn Katalog und Ausstellung das "alte Europa" in den tausend Jahren von 800 bis 1800 als Untersuchungsraum definieren, knüpfen sie nicht nur an das Alteuropa-Konzept an, das der (von Barbara Stollberg-Rilinger herausgegebenen) Zeitschrift für Historische Forschung zugrunde liegt und für eine Relativierung der Epochengrenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit eintritt. Vielmehr spiegeln sie auch die epochenübergreifende Zusammensetzung des Münsteraner Sonderforschungsbereiches 496 "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution" (http://www.uni-muenster.de/SFB496/) wider, der in Kooperation mit dem Kulturhistorischen Museum Magdeburg für die Ausstellung verantwortlich zeichnet. Dieser Ansatz, die Forschungsergebnisse eines laufenden SFBs einer größeren Öffentlichkeit nahezubringen, darf als beispielhaft bezeichnet werden, zumal Katalog und Ausstellung erkennbar von der in Münster gegebenen engen Kooperation zwischen Mediävistinnen und Mediävisten sowie Frühneuzeithistorikerinnen und -historikern profitieren.
Die Ausstellung ist kein mehr oder weniger willkürliches Sammelsurium hochrangiger Einzelobjekte, die einen durch ihre schiere Menge erschlagen, sondern die einzelnen Stücke ordnen sich strikt der Gesamtkonzeption unter. Auch so hochrangige Exponate wie das Borghorster Stiftskreuz (Katalog, 154f.) und das Krönungsbuch Karls V. von Frankreich (Katalog, 174) stehen nicht für sich, sondern transportieren gemeinsam mit den weniger spektakulären Ausstellungsstücken die Botschaft, dass die vormodernen Rituale keine leeren Hülsen, sondern konstitutive Bestandteile der politischen und sozialen Ordnung in Alteuropa waren. Zugleich zeigt jedes für sich und in seinen spezifischen Kontexten, auf wie vielfältige, jedoch zugleich durchaus vergleichbare Weise Rituale wirkten: Insbesondere die vormodernen "Spektakel der Macht" waren, wie Gerd Althoff und Barbara Stollberg-Rilinger in ihrer Einleitung darlegen, "feierliche öffentliche Akte, die die politische und soziale Ordnung der Gesellschaft darstellten und zugleich immer wieder aufs Neue herstellten" (15).
Der Schwerpunkt in Katalog und Ausstellung liegt auf den Einsetzungsritualen für weltliche Fürsten, insbesondere den Kaiser, geistliche Würdenträger, städtische Räte sowie im akademischen Bereich (Doktorpromotion und Einsetzung des Rektors). Zu jedem dieser vier Bereiche, die in der Ausstellung durch eine Art Farbleitsystem gekennzeichnet sind, enthält der Katalog einen einführenden Essay, daneben Kurzbeiträge zur Ritualität in den bildenden Künsten und in der Musik, dem Verhältnis von Ritualen und Schriftlichkeit, zur Rolle von Ritualen in Konflikten bzw. zu Konflikten um Rituale sowie zu Ritualen in der Moderne. Die Essays verzichten auf einen Anmerkungsapparat, regen aber durch Literaturhinweise zum vertiefenden Studium an und erschließen bereits einzelne, ausgewählte Exponate. Ergänzt werden sie durch den umfangreicheren eigentlichen Katalogteil, der nach einer thematischen Einführung in die einzelnen Abteilungen der Ausstellung die Mehrzahl der Exponate unter Anführung spezifischer weiterführender Literatur in vorbildlicher Weise beschreibt und einordnet.
Den größten Raum nehmen, wie gesagt, die Einsetzungsrituale ein (Abteilungen 1-10, Katalog 68-148). Hier zeigt sich der große Nutzen des erwähnten Farbleitsystems, das zu Vergleichen zwischen fürstlicher (rot), geistlicher (violett) und städtischer Herrschaft (grün) sowie Universitäten (blau) anregt. Parallelen und Unterschiede zwischen den Einsetzungsritualen in diesen Bereichen werden den Betrachtenden somit deutlich vor Augen geführt. Besonders gefallen hat dem Rezensenten die Darstellung des Krönungsmahls Kaiser Josephs II., in der sich die Besucherinnen und Besucher sozusagen in die Szene hineinnehmen lassen und frühneuzeitliche Ritualität geradezu sinnlich erfahren können (Abteilung 10). Das gilt auch für die Abteilung zur Ritualität in der Musik, die selbstverständlich auch akustische Eindrücke zu bieten hat (Abteilung 9).
Ein hoher Stellenwert kommt der Abteilung 11 zu, die das heutigen Menschen zumeist nicht mehr vertraute Grundvokabular frühmoderner Rituale, wie Küssen, Knien, Be- und Entkleiden vermittelt (Katalog 149-180). Gerade hier und in der Abteilung 14 zur Ordnungsfunktion von Ritualen (Katalog 199-215) wird deutlich, dass es sich in der Tat um ein europäisches Vokabular handelte, das auf den britischen Inseln ebenso verstanden wurde wie in den Niederlanden, Deutschland oder Italien - dieser Befund einer gemeinsamen europäischen Ritualsprache ist natürlich nicht ohne Bedeutung für das Bild vom vormodernen Europa! Noch wichtiger als diese Nebenbotschaft ist die Erkenntnis, dass die europäische Ritualsprache und ihre Bedeutung von der Karolingerzeit bis zum 18. Jahrhundert zwar modifiziert wurden, sich jedoch nicht grundsätzlich veränderten. Einen wirklichen Bruch zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit gab es unter ritual- und zeremonialgeschichtlichen Gesichtspunkten nicht. Eine deutlichere Zäsur stellte die Französische Revolution dar, in deren Gefolge zahlreiche alte Rituale ausgemerzt, umgedeutet oder durch neue ersetzt wurden (Abteilung 14, Katalog 216-243). Anders als die in Alteuropa verbreitete Praxis der Delegitimierung durch "verkehrte Rituale" (Abteilung 13, Katalog 181-198), wie den "Bohnenkönig" am Dreikönigstag, Tierfabeln oder Entkleidungen als Gegenbilder zu Einkleidungen, die nichts Grundsätzliches an den geltenden Ritualen änderte, war dies eine unumkehrbare Entwicklung. Auch unsere Gegenwart ist nicht frei von Ritualen, wie im letzten, aus der eigentlichen Ausstellung herausgenommenen Raum anhand einer Videoinstallation ("denn Rituale verfolgt man heute am Fernsehen oder im Internet", Katalog 19) nachzuvollziehen ist. Diese besitzen jedoch nur noch in wenigen Bereichen (zum Beispiel der römisch-katholischen Kirche) konstitutive Bedeutung und werden auch nur von einem Teil der Menschen überhaupt noch verstanden.
Kleinere Kritikpunkte seien nicht verschwiegen: Bei einer Abbildung des Krönungsmahls Wilhelms III. und Marias II. nach der Glorious Revolution ist in der Beschriftung des Exponats Königin Maria unterschlagen worden (ebenso im Katalog, 208). Andererseits ist der Fall der 1755 auf königlichen Druck in Halle promovierten Dorothea Christiana von Erxleben zwar unter gendergeschichtlichem Aspekt hochinteressant und zudem eine Verbeugung vor dem gastgebenden Land Sachsen-Anhalt, aber eben keine typische Promotion der Frühen Neuzeit (Katalog 82). Solche Monita sind letztlich aber Petitessen und ändern nichts an dem Befund, dass Katalog und Ausstellung ausgesprochen gelungen sind: Sie vermitteln auf gut verständliche Weise komplexe, aktuelle Forschungsergebnisse einem breiteren Publikum, sind zugleich aber auch für den Fachwissenschaftler von erheblichem Interesse. Es wird lange Zeit vergehen, bis man die konstitutive Bedeutung von Zeremoniell und Ritualen für die vormoderne politische Ordnung wieder so handgreiflich wird nachvollziehen können. Der Besuch der noch bis zum 4. Januar 2009 geöffneten Ausstellung sei daher allen Interessierten nachdrücklich empfohlen. Wem dies nicht möglich ist, der kann sich immerhin mit der Lektüre des Katalogs trösten.
Wer die Ausstellung besuchen will, sollte dies besser auf eigene Faust tun, als sich einer Führung anzuschließen. Nicht allen Führerinnen und Führern gelingt es, sich die These der Ausstellung zu eigen zu machen und diese dem Publikum zu vermitteln, wie der Rezensent aus eigener, leidvoller Erfahrung weiß. Besser als mit einer Führung dürfte man daher im Allgemeinen bedient sein, wenn man die vorzüglichen komprimierten Einführungstexte zu den einzelnen Abschnitten liest und um die Audio-Guide-Kommentaren zu ausgewählten Exponaten ergänzt.
Monographie, Katalog und Ausstellung sind überzeugende Belege für die Fruchtbarkeit des von Barbara Stollberg-Rilinger und dem Münsteraner SFB vertretenen Forschungsansatzes. Wen an der Frühen Neuzeit nur die modernisierungstheoretisch oder gegenwartslegitimierend verwertbaren Aspekte interessieren, wird mit diesem Ansatz tendenziell weniger anfangen können, als der, den auch oder gerade das Fremde dieser Epoche fasziniert. Wenn man so will, kann man zu dem vielleicht überraschenden Schluss kommen, dass der "ethonologische Blick" (16) Stollberg-Rilingers im Ergebnis zu einer ähnlichen Sicht auf die Vergangenheit führen kann wie ein im besten Sinne verstandener Historismus. Teilen beide doch das Grundanliegen, jeder Epoche ein eigenes Gewicht zuzubilligen und an sie nicht (nur) die Maßstäbe der jeweiligen Gegenwart anzulegen - insofern ist es vielleicht kein Zufall, dass Stollberg-Rilinger in der Einleitung zu "Des Kaisers Alte Kleider" Leopold von Ranke zitiert (20). Jedenfalls haben sie, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Kooperationspartner einen bislang von der historischen Forschung völlig vernachlässigten Bereich der Geschichte Alteuropas neu erschlossen, und zugleich den Nachweis geführt, dass es sich hierbei um ein zentrales, ja konstitutives Element vormoderner Politik und Verfassung handelt.
Anmerkungen:
[1] Ich möchte hier nur die wichtigen einschlägigen Sammelbände der Autorin anführen: Vormoderne politische Verfahren (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 25), Berlin 2001; dies. (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 35), Berlin 2005.
[2] Neben der Überblicksdarstellung Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806 (Beck'sche Reihe; 2399), München 2006 seien beispielhaft genannt Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 19), Berlin 1997, 91-132; dies.: Die zeremonielle Inszenierung des Reiches oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte?, in: Matthias Schnettger (Hg.): Imperium Romanum - Irregulare Corpus - Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte; Beiheft 57: Abt. für Universalgeschichte), Mainz 2002, 233-246; dies.: Das Reich als Lehnssystem, in: Heinz Schilling / Werner Heun / Jutta Götzmann (Hgg.): Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. 29. Ausstellung des Europarates im Deutschen Historischen Museum Berlin, 28. August bis 10. Dezember 2006, Dresden 2006, 54-67.
[3] Knapp zusammenfassend Matthias Schnettger: Von der "Kleinstaaterei" zum "komplementären Reichs-Staat". Die Reichsverfassungsgeschichtsschreibung seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Hans-Christof Kraus / Thomas Nicklas (Hgg.): Geschichte der Politik. Alte und neue Wege (Historische Zeitschrift; Beiheft N.F. 44), München 2007, 129-154.
[4] Dieses Vorgehen erinnert an Heinz Duchhardt: Deutsche Verfassungsgeschichte 1495-1806 (Urban-Taschenbücher; 417). Stuttgart 1991.
[5] Diese These ist durchaus mit etablierten Forschungsmeinungen kompatibel. So entspricht die zeremonielle Komponente der schleichenden Krise der Reichsverfassung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durch das Vordringen des tendenziell egalitären Souveränitätskonzepts in das ursprünglich hierarchisch verfasste Reich den Beobachtungen Karl Otmar Freiherr von Aretins bezüglich des Eindringens der europäischen Mächtepolitik in das Reich und deren letztlich letalen Folgen für seine Verfassung. Karl Otmar Freiherr von Aretin: Das Alte Reich 1648-1806. Bd. 3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745-1806), Stuttgart 1997.
Matthias Schnettger