John G. Zumbrunnen: Silence and Democracy. Athenian Politics in Thucydides' History, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2008, viii + 200 S., ISBN 978-0-271-03357-0, GBP 29,23
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Der Verfasser analysiert die Funktionsweisen der athenischen Demokratie in der Epoche des Perikles aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers. Sein Ausgangspunkt ist das bekannte Thukydides-Zitat (2,65,10), dass Athen in der perikleischen Ära dem Namen nach eine Demokratie gewesen sei, in Wirklichkeit aber unter der Leitung des ersten Mannes gestanden habe. Zumbrunnens Transkription des griechischen Wortlautes enthält leider einen peinlichen Druckfehler, und in der Übersetzung des Textes folgt der Verfasser einer oft wiederholten Fehlinterpretation, indem er den Begriff arché mit "rule" wiedergibt und hierunter eine "Herrschaft" versteht. Diese Form der Machtausübung kann aber Thukydides nicht gemeint haben, da er in demselben Kapitel betont (2,65,5), dass Perikles die Polis Athen maßvoll geführt habe. In diesem Kontext kann arché nur "Leitung" oder "Führung" bedeuten. Hierfür spricht auch der Tenor der Darstellung der letzten Friedensjahre vor 431 v. Chr. im Werk des Thukydides, der von erheblichen Kontroversen in der athenischen Volksversammlung berichtet (1,44; 1,139), bevor die Ekklesia über das Hilfegesuch der Kerkyraier im Jahre 433 und über die letzten Forderungen der Spartaner vor Beginn des Krieges 431 abstimmte.
Zumbrunnen beruft sich demgegenüber vor allem auf die Nachricht des Thukydides (1,145), dass nach der großen Rede des Perikles, in der er die Athener zur Ablehnung des spartanischen Ultimatums 431 aufrief, keine weitere Diskussion stattfand und die Bürger nach Hause gingen. Selbst wenn dies der Fall war, kann entgegen der Auffassung Zumbrunnens hieraus nicht gefolgert werden, dass in der Zeit des Perikles der Demokratiebegriff eine inhaltsleere Bezeichnung für die politische Entscheidungsfindung in Athen war. Zumbrunnen differenziert sowohl zwischen der athenischen Verfassung in der perikleischen Ära und der demokratischen Praxis der Athener in anderen Epochen der klassischen Zeit als auch zwischen dem "Schweigen der politischen Konkurrenten des Perikles" und dem "kollektiven Schweigen des Demos". Beide Wertungen enthalten Pauschalurteile, die der athenischen Demokratie nicht gerecht werden. Sicherlich konnte nicht jeder beliebige Bürger gut formulierte Anträge in der Ekklesia stellen und wortreich begründen. Aber der Demos in der Volksversammlung bestand nicht aus lauter politischen Ignoranten. Da die Mitgliedschaft im Rat der 500 nicht kontinuiert und nur einmal iteriert werden durfte, kamen immer wieder zahlreiche Bürger in die Boulé, die auch mit den Verhältnissen im Seebund vertraut waren und dementsprechend wussten, welche Abstimmungen für die Sicherung der Machtposition ihrer Polisgemeinschaft bedeutsam waren. Der Demos ist Perikles keineswegs begeistert in den Peloponnesischen Krieg gefolgt. Zudem zeigt ein Vergleich des athenischen Samosdekretes (Inscriptiones Graecae I3 48) aus dem Jahr 439 mit dem Erythraidekret (Inscriptiones Graecae I3 14) um 453, dass in der perikleischen Ära weiterhin konventionelle Formulierungen in athenischen Regelungen nach der Niederwerfung von Erhebungen der Symmachoi der Athener benutzt wurden und dementsprechend gewissermaßen vorgegeben waren. Übrigens wurden in der Zeit des Perikles auch Volksbeschlüsse von Bürgern beantragt, die nicht unbedingt einer "elitären Gruppe" zuzuordnen sind (Inscriptiones Graecae I3 48 bis). Aufschlussreich ist auch der Bericht Plutarchs (Perikles 14-15), wonach Perikles bis zur Ostrakisierung des Politikers Thukydides Melesiou gegebenenfalls erheblichen Widerstand in der Ekklesia zu überwinden hatte, aber offensichtlich auch in der Folgezeit bisweilen den Zorn des Demos zu spüren bekam. Zumbrunnens Deutung der Demokratie im perikleischen Athen erfasst nicht die gesamte Bandbreite des Themas, wenn er eine gleichsam autoritäre Position des Perikles postuliert. "Der erste Mann" in Athen besaß nicht die Kontrolle über alle Institutionen der Polis. Er war vielmehr selbst rechenschaftspflichtig.
Einen hohen Quellenwert misst Zumbrunnen dem positiven Urteil des Thukydides (8,97,2) über die sogenannte Verfassung der 5000 in Athen bei. Thukydides bemerkt hier, dass seine Polis unter den Fünftausend nach seiner Meinung die beste Verfassung hatte. Zumbrunnen schließt hieraus, dass Thukydides dieses Regime der perikleischen Demokratie vorgezogen habe (41). Es bleibt indes offen, ob die Verfassung der 5000 überhaupt regulär konstituiert wurde. Im Übrigen wissen wir nicht, ob Thukydides eventuell dieses Urteil revidiert hätte, wenn sein 8. Buch von ihm noch überarbeitet worden wäre. [1] Thukydides' Wertung bezieht sich wohl kaum auf Formalitäten der Verfassung, sondern auf Entscheidungen, die in Athen unmittelbar nach dem Sturz der "Vierhundert" getroffen wurden.
Zumbrunnen ist offenbar davon überzeugt, dass Thukydides Alternativen für die gängige politische Praxis in Massendemokratien liefert und zeigen könnte, wie in der Gegenwart geeignete Führungspersonen zu finden sind (185). Er sucht diese Einschätzung auch durch umfangreiche Interpretationen des Melierdialogs, der Mytilenäischen Debatte und des Verhaltens der Athener während der Belagerung Plataiais durch peloponnesische Streitkräfte zu begründen. Es ist indes illusorisch, die athenische Direktdemokratie gewissermaßen als Paradigma für die Bewältigung von Krisensituationen in der Gegenwart zu verstehen.
Zumbrunnens Anspielungen auf die Bush-Administration deuten darauf hin, dass Diskussionen über den Irak-Krieg nicht ohne Einfluss auf seine politischen Theorien geblieben sind.
Anmerkung:
[1] Vgl. W. Will: Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held, Bonn 2003, 226.
Karl-Wilhelm Welwei