A. Dirk Moses (ed.): Empire, Colony, Genocide. Conquest, Occupation, and Subaltern Resistance in World History (= Studies on War and Genocide; Vol. 12), New York / Oxford: Berghahn Books 2008, x + 491 S., ISBN 978-1-84545-452-4, GBP 47,50
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In der 1948 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Genozid-Konvention wurden in Artikel 2, 7 Handlungen genozidal genannt und verboten, welche darauf zielten, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe zu zerstören. Mittlerweile ist in den Kulturwissenschaften deutlicher geworden, dass es sich bei diesen Kategorien um Konstrukte handelt, keine gleichsam "objektiven" Merkmale. Darüber hinaus ist die Absicht ("intent") eine schwierige Frage, wie zumal die Diskussion zwischen Intentionalisten und Funktionalisten bei der Interpretation der NS-Politik deutlich gemacht hat. Juristische Kategorien für Verbrechen, somit normative und moralisch aufgeladene Kriterien, sind das eine, wissenschaftlich-analytische Erklärungsversuche das andere. A. Dirk Moses hat bereits 2004 einen der bisher gründlichsten Versuche unternommen, dieses neuere Forschungsfeld der Gewaltforschung zu bündeln; allerdings bezog sich dieser Band nur auf australische Ereignisse. Mit dem hier vorzustellenden neuen Band wird ein weltweiter Anspruch erhoben. Ein internationaler Kongress in Sheffield Mitte Januar 2009 dürfte diesen Ansatz nochmals zumindest quantitativ übertreffen: http://fp.paceprojects.f9.co.uk/genocide2009_programme.htm
Wie vage auch immer der Genozid-Begriff der UN-Konvention ist, die im Moses-Band versammelten Genozidforscher orientieren sich an einer weiteren Definition, die Raphael Lemkin, der wichtigste Lobbyist und Erfinder des Begriff Genozid, geprägt hatte. Für ihn war nämlich der kulturelle Genozid der wichtigste Bestandteil einer Deutung. Physischem oder biologischem Genozid sei dieser jeweils vorangegangen, also die Auslöschung der Identität einer Gruppe. Das ist sehr weit gefasst und wird von Moses als "total social practice" (13, nach Paul Wolfe) modern übersetzt. Wo aber der Angriff auf die die kulturelle Identität einer Gruppe beginnt und wo die an sich nicht zu beanstandende Assimilation, der Wandel kultureller Identitäten durch Aufnahme oder wechselseitigen Austausch beginne, ist weniger leicht zu beantworten. Lemkin sah in der Gewalthaftigkeit und der Absicht ein wichtiges Kriterium der Unterscheidung. Einige Autoren des Bandes sehen gleichfalls die Problematik dieser Übergänge von Kategorien und plädieren für eine Fall-zu-Fall-Zuordnung. Jedenfalls sorgt der Rückgriff auf Lemkin dafür, dass ein weiter, potenziell analytischer Begriff und ein völkerrechtlicher neben einander stehen, dennoch ist die richtige Anwendung des Etiketts "Genozid" allen Autoren wichtig.
Mit diesem weiten Feld der Genozidforschung ist ein noch wichtigeres Thema benannt, dem dieser Band vor allem gewidmet ist: der Beziehung von Siedlerkolonien und Genozid. Wenn sich in der Neuzeit irgendwo Siedler oft unter der Doktrin oder Überzeugung, dass es sich um herrenloses Land (res nullius) handelte, neuer Gebiete bemächtigten, dann waren Konflikte mit den dort Wohnenden ("first nations" wird dies heute benannt) unvermeidlich. Eine solche Situation war, das wiederholen viele Autoren, "inherently genocidal". Allerdings kam nicht nur die mörderische Variante infrage, sondern auch die, dass die neuen Herren billige, versklavte Arbeitskräfte brauchten, also keinen physischen (dann aber möglicherweise kulturellen) Genozid begangen. Hier zeigen sich Unschärfen der Begriffe erneut an den Rändern und Übergängen.
Der große Vorteil des Zusammendenkens von Siedlerkolonien und Genozid liegt aber darin, dass damit Gewaltverhältnisse unter Einbeziehung des NS-Genozids in komparativer Perspektive besser und vielleicht sogar mit einem übergreifenden Ansatz analysiert werden können. Wenn in diesem Band vor allem Beiträge zum 19. und 20. Jahrhundert versammelt sind, so geraten doch auch vielfach andere Genozide, von der Antike angefangen, in den diskursiven Blickpunkt. Vor allem aber sind das Fälle aus Nordamerika und Australien, daneben Afrika und Lateinamerika. Zu Recht betonen viele Autoren, dass es zur Siedlungskolonie keiner Fahrt nach Übersee bedurfte, sondern dass gerade in angrenzenden Gebieten gewalthafte Expansion stattfand. Genozide konnten als einmalige Akte stattfinden, aber auch nach gewaltsamen Akten gleichsam in der Zeit angehalten werden und nach Jahrzehnten der Pause über lange Zeit immer aufgenommen werden. Ein Genozid bestand nicht nur in Gewaltakten von Siedlerkolonisten, die sich in ihrem Ethnozentrismus bedroht fühlten, sondern wurden zu ganzheitlichen Akten, an denen auch die (entstehenden) staatlichen Bürokratien und ihre Gewaltverwalter, also vor allem Polizei und Militär, aktiv mitwirkten, wie vor allem Norbert Finzsch in seinem Vergleich von Nordamerika und Australien im 19. Jahrhundert (aber auch Mark Levene u.a.) heraus arbeitet.
Einige Autoren heben Eskalationsspiralen der Gewalt zwischen Indigenen und Siedlern hervor, die meisten sehen aber in den von Siedlern geschaffenen Gewaltverhältnissen die Grundkomponente für Genozid. Die Verallgemeinerung genozidaler Bedingungen wird von Dan Stone bis auf die Biomacht moderner Herrschaft und Genozid vorangetrieben. Foucault, Agamben sind darüber hinaus häufig zitierte Gewährsleute, weniger Zygmunt Bauman, der doch die mörderische Seite der Moderne heraus gearbeitet hatte. In der Tat betonen einige Autoren, man könne und solle nicht zwischen einem gleichsam archaischen und einem eher modernen Genozid unterscheiden.
Der Band zeichnet sich insgesamt durch eine Verbindung von konzeptuell-analytischen Beiträgen und oft innovativen empirischen Studien aus. A. Dirk Moses als spiritus rector des Unternehmens, der immer wieder zitiert wird, gibt auf fast 50 einleitenden Seiten einen gelungenen und behutsamen Aufriss des Forschungsrahmens, aber auch mindestens ein halbes Dutzend von ausgewiesenen Protagonisten der Debatte argumentieren in diesem Band analytisch und zum Teil skeptisch. Das eingangs genannte Kriterium der Intention für einen Genozid sucht etwa Paul Wolfe mit einer übergreifenden Einheit von Struktur und Ereignis zu begegnen, während Lorenzo Veracini ein mentales "settler archive" rekonstruiert, eine Mentalität also, die sich zeitgebunden unterschiedlich äußerte.
Unter den wichtigsten Genoziden im 20. Jahrhundert tauchen immer wieder der deutsche in Südwestafrika auf, den Dominik J. Schaller behandelt und zugleich mit dem in Deutsch-Ostafrika im Rahmen des Maji-Maji-Aufstandes, der gleichfalls mit dem Verdikt Genozid bedacht wird, abhandelt. Donald Bloxham, ein Spezialist für das Osmanische Reich und Armenien, bündelt vorzüglich die unterschiedlichen strukturellen und situativen Bedingungen für den Genozid an den Armeniern von 1915/16. Genozidale Phantasien im kaiserlichen Russland arbeitet Robert Geraci heraus - zu Massenmorden bedurfte es nicht erst der Bolschewiki oder Stalin.
Besonders schwierig erscheint es, den herausragenden deutschen Genozid im Zweiten Weltkrieg mit dem Koloniebegriff in Verbindung zu bringen. David Furber und Wendy Lower betonen, dass der Antisemitismus die wichtigste treibende Kraft gewesen sei, stoßen aber auch auf das Dilemma, dass nicht Juden, sondern unterschiedlichen slawischen Nationen Land weg genommen werden sollte und wurde, um den Siedler-Lebensraum zu schaffen. Sie sprechen daher auch von zwei miteinander verbundenen Genoziden.
Schließlich ist eine Sektion mit drei Beiträgen dem "subaltern genocide" gewidmet, also von "unten" ausgehenden Völkermorden, die sich nicht unbedingt der Hilfsmittel von Staatlichkeit bedienen mussten. Ob dabei der "kurze Genozid" an Eurasiern in Indonesien im Jahr 1945 (Robert Cribb), als die Japaner abzogen und eine neue Staatsmacht der Indonesier noch nicht etabliert war, nicht besser unter Massakern einzuordnen wäre, steht dahin. Dagegen ist die "great rebellion" in den südlichen Anden Ende des 18. Jahrhunderts (David Cahill) hierorts weitgehend unbekannt.
Was bleibt von den 19 Aufsätzen? Es ist ein ungemein anregender Band entstanden, der empirisch jedoch nur Tupfer setzen kann - markante Tupfer sind das allemal. Er stellt sich der Aufgabe, diese Art der Massengewalt mit tendenziell globalhistorischem Anspruch zum Thema zu machen. Das gelegentlich so bezeichnete "Verbrechen ohne Namen", das seit 1948 Genozid heißt, wird hier mit dem Siedlerkolonialismus innovativ zusammen gebracht. Das Zusammendenken bisher disparater Forschungsfelder wird somit im Ansatz eingelöst. Ohne den bei Lemkin und in der UN-Konvention vor Augen stehenden Völkermord an den europäischen Juden zu relativieren, werden doch neue Bezugsgrößen erprobt. Die Gefahr, dass dieser Allgemeinbegriff ausfranst, ist allerdings nicht zu verkennen.
Johan Galtung hat vor Jahrzehnten mit dem Begriff des positiven Friedens und dem Setzen struktureller Gewalt ein Beispiel geschaffen, wie ein Begriff durch inflationäre Verwendung und damit auch Entgrenzung in der Folgezeit, in der wissenschaftlichen und politischen Umsetzung, seine analytische Schärfe verlieren kann. Gerade das Bestreben, Genozid nicht nur als Makro-Massaker zu verstehen, sondern auch Bedingungen oder Voraussetzungen seiner Entstehung zu erkennen, zu benennen und damit letztlich in Zukunft zu verhindern, könnte die Erkenntnis über die umfassende Praktik namens Genozid eher verdunkeln.
Jost Dülffer