Michael Schwab / Stadt Fulda (Hgg.): Alfred Dregger für Fulda und Deutschland. Stationen eines charismatischen Politikers (= Dokumentationen zur Stadtgeschichte; Nr. 26), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2008, 160 S., ISBN 978-3-86568-291-8, EUR 19,95
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"Kritische Sympathie" zwischen Bürger und Staat [1] - das war das Motto der Rede von Bundespräsident Walter Scheel zur 500-Jahr-Feier der Universität Tübingen am 8. Oktober 1977. Kritische Sympathie - das scheint auch eine gute Richtlinie für den Biografen zu sein, der sich mit demokratischen Politikern beschäftigt. Einem solchen Anspruch wird der vorliegende Band - zu dem unter anderem Walter Wallmann, Holger Börner, Franz Josef Jung, Edmund Stoiber, Hans-Dietrich Genscher und Erika Steinbach Beiträge lieferten - nur stellenweise gerecht. Eine löbliche Ausnahme stellt Hans-Jochen Vogel dar, der deutlich macht, dass Dregger bisweilen "an den Rand des konservativen Spektrums" geriet (104). Die politischen Ziele, die Dregger verfolgte, könne er, Vogel, "nicht loben". Der ehemalige SPD-Vorsitzende wollte ihm jedoch seinen "persönlichen Respekt" nicht versagen (105).
Ohne Zweifel ist eine biografische Abhandlung über Alfred Dregger (1920-2002), einen der profiliertesten Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker Westdeutschlands, wünschenswert. Insoweit ist das Vorhaben des Magistrats der Stadt Fulda zu begrüßen, die Stationen seiner politischen Karriere Revue passieren zu lassen. Doch es sind nicht nur die hagiografischen Züge einzelner Beiträge, die störend wirken. Was darüber hinaus teilweise fehlt, ist eine Klärung der Voraussetzungen für Dreggers politische Karriere.
Besonders deutlich wird dieses Defizit im Beitrag von Dreggers Nachfolger im Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Fulda, Wolfgang Hamberger. Er zeigt die Schwierigkeiten, die der Kandidat Dregger bei seiner Bewerbung 1956 als gebürtiger Münsteraner hatte. Aus welchen Gründen er dieses Amt dann doch antreten konnte, bleibt im Dunkeln. Mehrfach wird in dem Band auch darauf hingewiesen, dass Dregger damals, mit 36 Jahren, der jüngste Oberbürgermeister in der Bundesrepublik gewesen sei. Erst 1953 hatte er sein Großes Juristisches Staatsexamen abgelegt. Was qualifizierte ihn für seinen Einstieg in die Kommunalpolitik? Die vorherige kurze Referententätigkeit beim Deutschen Städtetag allein wird es wohl nicht gewesen sein.
Deutlich mehr Substanz weist der Aufsatz des Journalisten Bernd Heptner über den Landespolitiker Dregger auf. Als Dregger 1967 den Vorsitz der hessischen CDU übernahm, befand sich diese in einem ziemlich kläglichen Zustand. Innerhalb weniger Jahre formte er sie zu einer starken politischen Kraft. Nach den Landtagswahlen 1974 und 1978 stellte die CDU jeweils die größte Fraktion im hessischen Landtag. Angesichts des Fortbestehens der sozialliberalen Koalition blieb ihr die Regierungsübernahme allerdings verwehrt. Es war die Tragik der politischen Laufbahn Dreggers, dass die hessischen Landtagswahlen am 26. September 1982 in den Sog der Bundespolitik gerieten. Als die sozialliberale Koalition im Bund zerbrach, konnte die hessische SPD mit ihrer höchst eingängigen Formel "Verrat in Bonn" so viele Wähler mobilisieren, dass die CDU die absolute Mehrheit verfehlte.
Heptner kann zeigen, dass es ein Bündel an Ursachen für den Erfolg der hessischen Christdemokraten gab. Dregger, der "Wertkonservative" (Börner, 66), war durchaus ein Reformer, als er daran ging, für seine Partei einen schlagkräftigen hauptamtlichen Apparat aufzubauen und ihren Status als Honoratiorenverein zu beenden. Die Frage der programmatischen Erneuerung wird dagegen nicht angeschnitten. Nicht zuletzt waren es die Flügelkämpfe in der hessischen SPD, die der CDU einen unvorhersehbaren Wählerzulauf bescherten. Das Erstarken des linken Flügels der hessischen Sozialdemokratie nach dem Rücktritt von Georg-August Zinn als Ministerpräsident 1969 führte zu hochgradig polarisierten Wahlkämpfen, die in Fragen der Bildungspolitik kulminierten. So boten beispielsweise die hessischen Rahmenrichtlinien für die Unterrichtsfächer Deutsch und Gesellschaftslehre der CDU einen geeigneten Ansatzpunkt, um gegen die Unterminierung der freiheitlich-demokratischen Ordnung und die marxistische Unterwanderung der Bundesrepublik zu Felde ziehen zu können.
Schwächer erscheinen wiederum die Abschnitte über Dreggers Zeit als langjähriger Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Vor allem bleibt unklar, welche Funktion Dregger der Fraktion zugewiesen hat. Markus Berger, früher Referent des Fraktionsvorsitzenden, weist nur generell darauf hin, dass Dregger dem politischen Willen der Fraktion im Kabinett Gehör zu verschaffen wusste. Es entsteht gleichwohl der Eindruck, als habe er sie und sich selbst als treue Erfüllungsgehilfen der Regierung Kohl/Genscher verstanden. Doch es ist im Grunde kaum zu glauben, dass ein Mann mit dem Willen und der Kraft zur politischen Gestaltung wie Dregger seiner Fraktion die Aufgabe, ja Pflicht zur autonomen Entscheidung entzogen haben könnte. Dieses Problem hätte vertieft diskutiert werden müssen, gerade auch vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90.
Dreggers besonderes Augenmerk galt zeitlebens den Vertriebenen und den - ehrenhaften - Angehörigen der Wehrmacht. Dabei vertrat er entschieden seine Position, etwa zum 50. Jahrestag der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs: "Was den Ausgleich im Osten schwieriger macht als im Westen, ist die Tatsache, dass im Osten nicht nur Grenzen verschoben, sondern auch Millionen Menschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben wurden. Hier wurde schweres Unrecht, das vorausgegangen war, mit schwerem Unrecht vergolten." [2] Vor dem Hintergrund solcher Aussagen kritisiert Erika Steinbach scharf die Rede Richard von Weizsäckers anlässlich des 40. Jahrestags der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1985, insbesondere dessen "Floskel" (117) von der "erzwungenen Wanderschaft" Millionen Deutscher. [3] Man kann diesen Ausdruck durchaus als nicht angemessen ansehen. In jedem Fall hatte Weizsäcker zuvor ausgeführt, dass den Vertriebenen "noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres Unrecht widerfahren" sei - also auch vor dem 8. Mai 1945. Es ist nicht zuviel verlangt, eine Rede in ihrer Gesamtheit zu betrachten.
Gerade die Lesart des 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung - wie sie Weizsäcker in seiner Rede 1985 zum Ausdruck brachte - war es, die Dregger immer wieder angriff. So unterzeichnete er 1995 einen Aufruf "gegen das Vergessen", in dem es hieß, es drohe in Vergessenheit zu geraten, "dass dieser Tag nicht nur das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bedeutete, sondern zugleich auch den Beginn von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten und den Beginn der Teilung unseres Landes." [4] Das war eine legitime Sicht der Dinge, aber Dregger tat sich und seinem Anliegen mit der Unterschrift unter diesen Aufruf keinen Gefallen, gehörten zu den Unterzeichnern doch auch Klaus Rainer Röhl, Ulrich Schacht, Heimo Schwilk und Rainer Zitelmann. Sah er sich wirklich in geistiger Nähe zu ihnen? Eine Antwort auf diese Frage fehlt.
Der Band bietet zahlreiche Ansatzpunkte für eine ausführlichere, wissenschaftliche Beschäftigung mit Alfred Dregger. Bisweilen hat das Buch allerdings einen netten, älteren Herrn aus ihm gemacht. Das mag Dregger auch gewesen sein, aber als Politiker war er kämpferisch, leidenschaftlich und umstritten. Dies hätte noch besser eingefangen werden müssen. Um es mit wenigen Worten zu sagen: Die Beiträge leiden zumeist an zu viel Sympathie und zu wenig Kritik.
Anmerkungen:
[1] Walter Scheel: Reden und Interviews (4). 1. Juli 1977 - 30. Juni 1978, Bonn 1978, 69.
[2] Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenografische Berichte, 1. September 1989, 11640.
[3] Rede Weizsäckers am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag in: Richard von Weizsäcker: Reden und Interviews (1). 1. Juli 1984 - 30. Juni 1985, Bonn 1986, 288; das Folgende nach ebd. und 280.
[4] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.1995, 3.
Tim Szatkowski