Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008, vii + 246 S., ISBN 978-0-521-72025-0, GBP 15,99
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Bibliotheken sind zu den Ursachen des Nationalsozialismus geschrieben worden. Legion ist die Zahl der Studien zu den langen Wegen nach 1933. Besonders prominent war dabei die These vom deutschen Sonderweg. In der Fassung von Hans-Ulrich Wehler erschwerten antidemokratische Eliten in Gestalt der Rittergutsbesitzer mit ihrem privilegierten Zugang zum Monarchen - nach 1918 zum Reichspräsidenten - die Demokratisierung Deutschlands und erleichterten den Nationalsozialisten so den Weg zur Macht. Schließlich war es einer der ihren, der Generalfeldmarschall und Herr auf Gut Neudeck Paul von Hindenburg, der 1933 die Macht an Hitler auslieferte. Seit den frühen 1980er Jahren ist diese These durch britische und nordamerikanische Historiker in die Kritik geraten. Seit den "Peculiarities of German History" von Geoff Eley und David Blackbourn (1984) richten Historiker ihre Aufmerksamkeit weniger auf die Schwäche des Bürgertums, sondern auf den Mangel an Bürgerlichkeit, was den Akzent von der Sozialgeschichte auf die Kulturgeschichte verschob. Nicht die Revolution von 1848 oder die Reichsgründung 1871, sondern die Jahrzehnte nach 1890 tragen in dieser Lesart die Argumentationslast für das, was nach 1918 geschah.
Der nordamerikanische Historiker Helmut W. Smith, hervorgetreten mit Arbeiten zum Nationalismus, zu Religion und Antisemitismus, geht in seinem neuen Buch davon aus, dass Kritiker wie Geoff Eley und David Blackbourn ihre Kritik am Sonderweg überzogen haben. Das gänzliche Aufgeben der Sonderwegsthese mache blind für die Kontinuitäten in der deutschen Geschichte und für die langen historischen Linien, die die Loyalität so vieler Deutscher zu Hitler und deren implizite oder explizite Mitarbeit am Mord an den europäischen Juden erklären. Smith kehrt jedoch nicht zur älteren Sonderwegsthese, zu 'German peculiarities' oder zum 'German exceptionalism' gegenüber einem demokratischen Normalweg des Westens zurück, sondern er ersetzt sie durch die schwächere Behauptung von Kontinuitäten. Aus peculiarities werden bei ihm continuities.
Diese Kontinuitäten sucht er im komplizierten Beziehungsdreieck von Nation, Religion und Rasse, genauer Antisemitismus. Dazu greift er historisch weit zurück. Seine Überlegungen setzen in der Frühen Neuzeit mit dem Dreißigjährigen Krieg ein. Nationale Identität setzt nach Ernest Renan vor allem Vergessen voraus. Nicht nur das Erinnern, sondern mehr noch das Vergessen ermöglicht die gemeinsame nationale Identität. Ohne das Vergessen des Genozids an den Albigensern und Katharern im 13. Jahrhundert wäre die französische Nation - so Renan - nicht möglich gewesen. Smith wendet diesen Gedanken auf die dramatische Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges an, der Deutschland relativ mehr verwüstete als der Zweite Weltkrieg. Der Westfälische Frieden wollte dieses Kapitel deutscher Geschichte zuschlagen und war damit für mehr als 100 Jahre erfolgreich. Es ist tatsächlich auffällig, wie sehr die Erinnerung an diese Katastrophe in den folgenden Jahrzehnten zurücktrat und dem Beschweigen des Dreißigjährigen Krieges Platz machte. Gleichzeitig wurden antisemitische Pogrome und die Zerstörungen jüdischer Synagogen sehr wohl erinnert. Smith führt anschaulich die Regensburger Synagoge an, an deren Stelle bereits 1519 - wie so oft - eine Kirche errichtet wurde. Im christlichen Gedächtnis hatten antijüdische Gewaltausbrüche immer ihren festen Platz. Folgt man Renan, dann ist dies ein Indiz dafür, dass bereits zu diesem Zeitpunkt Juden nicht Teil einer frühneuzeitlichen deutschen Nation werden konnten. Antijüdische Gewalt wurde anders erinnert als die christlichen Religionskriege. Der Antisemitismus bildete schon früh ein Kennzeichen des deutschen Nationalbewusstseins. Smith wendet hier eine gelungene Formulierung von William Butler Yeats auf den Antisemitismus und den frühen Nationalismus an: "the mirror turn lamp". Der Antisemitismus, auf den sich der nationale Gedanke projizierte, wurde selbst zum Konstruktionsprinzip des nationalen Raumes.
Smith beschränkt diese Kontinuität nicht auf die deutsche Geschichte, sondern sieht im Ausschluss der Juden aus der nationalen Gemeinschaft ein generelles Strukturmerkmal der europäischen Geschichte. Das wird besonders deutlich im vierten Kapitel über das 19. Jahrhundert mit seiner Geschichte gewalttätiger Pogrome gegen Juden zwischen den Hepp-Hepp-Krawallen von 1819 und den Ausschreitungen in Laudenbach in Franken 1866. Detailliert analysiert er die lange Liste der antisemitischen Pogrome. Dabei fällt auf, dass sie sich gegen jüdisches Eigentum richteten und auf die Vertreibung der Juden zielten. Auch wenn es dabei zu Toten kam, so war der Mord an Juden doch nicht das primäre Ziel der Pogrome. Dass dies eine gemeineuropäische Erfahrung ist, zeigt Smith anhand Frankreichs und Osteuropas (Tabelle 4.2, 136). Das ältere Muster der Vertreibung und nur ausnahmsweisen Tötung von Juden galt noch für die Ritualmord-Pogrome von 1900 in Konitz, die Smith in seinem letzten Buch genauestens untersucht hat. [1] Regelmäßig wurde jüdisches Eigentum zerstört, wurden Juden vertrieben, aber nur in wenigen Fällen auch umgebracht. Den Rufen "Mort aux Juifs", "Bringt die Juden um" folgten selten Morde. Smith erklärt dies als sprachpragmatische Reinszenierung früherer Morde, als Erinnerung, nicht als politische Strategie. "'Beat the Jews to death' was not an instruction to kill, or a statement about what would soon happen, but speech annunciated in a 'ritual of denigration', one that asserted supremacy and acted out of a violent drama of Christian-Jewish relations." (151) [2]
Doch begann sich dies bald zu ändern. Die Pogrome von Kishinew 1903 und Odessa 1905 änderten das Bild grundsätzlich. Bis dahin hatte sich der Staat in Deutschland, Russland, Österreich-Ungarn und anderswo als Schutzmacht der Juden erwiesen. In Deutschland war die Tradition staatlichen Schutzes der Juden besonders ausgeprägt. Tote gab es bis dahin nur trotz staatlichen Eingreifens oder Verbots. In Kishinew aber schauten staatliche Instanzen gezielt weg und ermutigten zur Gewalt gegen Juden. Das Ergebnis waren 1903 47 tote Juden, im Oktober 1905 waren es schon 30.000. Darin erkennt Smith ein völlig neues Motiv, nämlich Gewalt gegen Juden nicht nur aus antisemitischen Beweggründen heraus, sondern unter ermutigender Duldung und aktiver Mithilfe des Staates, später dann sogar unter staatlicher Regie. Die Beteiligung staatlicher Stellen stellt für Smith den Wendepunkt in der Geschichte antisemitischer Gewalt dar.
Die Ermordung der Juden wurde jetzt als Konsequenz des Antisemitismus nicht nur denkmöglich, sondern auf breiter Front auch praktisch organisierbar, was sich an der Häufung von tödlicher Gewalt gegen Juden im und nach dem Ersten Weltkrieg zeigte. Antisemitische Gewalt ging von der Vertreibung zum Mord über. Die Schauplätze waren in erster Linie Russland und Osteuropa, kaum dagegen Deutschland. In Deutschland spielten die radikalen antisemitischen Gruppen ebenfalls mit diesem Gedanken, verblieben damit jedoch im Dunstkreis politischer Sekten. Ihnen stand immer noch die Tradition des staatlichen Schutzes der Juden entgegen, verstärkt durch die konstitutionellen Bürgerrechte.
Hier liegt für Helmut W. Smith der analytische Kern. Nicht bereits die Kontinuität des Antisemitismus ist das Alleinstellungsmerkmal deutscher Geschichte, sondern deren Verbindung mit staatlicher Gewaltsamkeit. Erst die Verwendung moderner staatlicher Machtmittel ermöglicht es dem in seinen Zielen radikal antimodernen Antisemitismus, extreme Machtungleichgewichte in Vernichtungspolitik zu überführen. "Comparative consideration, moreover, suggests that genocide requires not 'high technology' but extreme, if momentary, disparities of power." [3] Freilich blieb auch diese Linie nicht auf Deutschland beschränkt, sondern war ein Kennzeichen antisemitischer Gewalt in Osteuropa.
In Deutschland stellte die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 den vorläufigen Höhepunkt dieses Antisemitismus unter staatlicher Trägerschaft dar. Freilich zeigte sich auch hier noch die Zurückhaltung der Bevölkerung gegen die Entrechtung der Juden. Tatsächlich bestand immer noch ein großer Unterschied zwischen den Ereignissen vom November 1938 und dem staatlich betriebenen Massenmord im Laufe des Krieges. Reichen die Kontinuitäten von Nation, Religion und Rasse daher bis 1938 oder bis in den Krieg und zum Holocaust? In Smiths Worten: "Is the November pogrom the end of the story? Has the history of anti-Semitic violence only brought us 'toward but not to the Final Solution'...?" (166) [4]
Der Autor schließt sich explizit nicht den Thesen Daniel Goldhagens an, der im eliminatorischen Antisemitismus die analytisch entscheidende lange Linie der deutschen Geschichte hin zum Holocaust sah. Im Gegenteil: "Genocide remained inconceivable before World War I." (169) Die lange Geschichte antisemitischer Gewalt und Ausgrenzung reicht bis in die Frühe Neuzeit zurück. Hier wurde ethnische Säuberung konfessionell homogener Kollektive denkmöglich, praktiziert und erinnert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbanden deutsche Intellektuelle dieses Programm mit der Nation, die die deutschen Juden nicht umfasste. Der Rassismus des späten 19. Jahrhunderts erschloss dem Antisemitismus neue Möglichkeiten der Ausgrenzung und Eliminierung von Bevölkerungsgruppen. Damit wurde der Mord an den Juden denkmöglich und eine Handlungsoption, was Smith anhand Friedrich Ratzels Lebensraumkonzeption, den Vorschlägen des Vordenkers des deutschen Imperialismus Paul Rohrbach, der Vernichtung der Hereros 1904 und schließlich der antisemitischen Propaganda des Radikalnationalisten Heinrich Claß nachzeichnet. Die Eliminierung einer Bevölkerungsgruppe war bei diesen Autoren argumentativ eingeführt und wurde als Argument auch rezipiert. Dennoch war die Schwelle zum Holocaust noch nicht überschritten. Die Eliminierung bezog sich noch auf das Territorium und besaß noch nicht die spezifisch nationalsozialistische Pointe der Vernichtung einer Gruppe als solcher, egal wo sie sich aufhielt. Wo lagen somit die Kontinuitäten der deutschen Geschichte? Sie lagen nicht in einem Programm des Völkermords, "but in the imagination of expulsion, in the severing of ties to others, and in the violent ideologies, nationalism, anti-Semitism, and racism, that make these things possible to think, support, and enact." (233)
Es ist also die allmählich sich herausbildende possibility to think, die Smith als Kontinuität der deutschen Geschichte herausarbeitet. Sein Buch ist methodisch in erster Linie eine intellectual history des Dreigestirns Nation, Religion und Rasse. Damit ist auch klar, was dieses Buch nicht ist: Es ist keine soziale und politische Vorgeschichte des Holocaust. Nicht die Verantwortung und Kontinuität politischer Träger und Ideologien, sondern die Möglichkeit des Massenmordes an den Juden steht im Zentrum. Die Gelenkstellen der Argumentation betreffen das Verhältnis des Antisemitismus in Osteuropa zu demjenigen in Deutschland, die Frage, inwiefern die Argumentation über 1938 hinausführt und schließlich die methodische Frage nach dem Verhältnis von peculiarities und continuities bzw. dem kausalen Anspruch von Kontinuitäten.
1. Die Betonung der antisemitischen Tradition in Osteuropa und die Einordnung des deutschen Nationalismus in dieses Feld ist ein älterer Topos der Geschichtswissenschaft. Auf Hans Kohn geht eine Tradition der Nationalismusforschung zurück, die den an der Französischen Revolution orientierten Nationalismus in Westeuropa dem gewalttätigen sezessionistischen Nationalismus Osteuropas gegenüberstellte. [5] Hans Kohn entstammte einer Generation von Nationalismusforschern, deren biografischer wie auch analytischer Fluchtpunkt die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war. Danach richteten sich letztlich auch ihre nationalismustheoretischen Grundannahmen eines Unterschieds zwischen West- und Osteuropa. Kohn nimmt eine relativ prominente Rolle in der Argumentation von Smith (18, 19, 27, 28, 40, 47, 55, 57) ein, garantiert er doch den historiografiegeschichtlichen Hintergrund für die Einbettung des deutschen Antisemitismus in denjenigen der osteuropäischen Gesellschaften. So einleuchtend diese Tradition auch auf den ersten Blick ist, so sehr birgt sie doch die Gefahr einer Überdehnung des Arguments in sich. Es entsteht nämlich die Gefahr eines Zirkelschlusses, weil die nationalismusgeschichtlichen Ergebnisse derjenigen Historiker für die Erklärung des Nationalsozialismus herangezogen werden, die sich selbst von der Leitfrage leiten ließen, wie Hitler 1933 an die Macht kommen konnte. Die bei Smith bis auf das Frankreich der Affäre Dreyfus weitgehend durchgehaltene Konzentration auf Osteuropa unter Einschluss Deutschlands bewegt sich zumindest auf zu Kohn parallelen Bahnen. Die heutige Nationalismusforschung hat sich jedoch von einer Typologisierung à la Kohn hin zur Differenzierung der Nationalbewegungen und zur Betonung ihrer Ambivalenzen wegbewegt. [6] Man wird in der Zwischenzeit nicht mehr von einem für Osteuropa gemeinsamen Konzept der Nation und des Nationalstaates reden können. Die zweite Gefahr liegt in der in Osteuropa im Ganzen völlig anderen Rolle des Staates. Die Duldung, wenn nicht Ermutigung zu antijüdischen Pogromen, die seit 1903 in Osteuropa zu beobachten war, hat wenig mit moderner Nationalstaatlichkeit, sondern sehr viel mehr mit konkurrierenden Ansprüchen von Nationalitäten zu tun. Generell wird man die Rolle der Staatlichkeit und die Durchsetzung der gesamtstaatlichen Zentrale in Deutschland und Mitteleuropa von der Staatlichkeit in Osteuropa unterscheiden müssen. Selbst im Preußen des 19. Jahrhunderts fiel auf, wie wenig Polizei in den Rheinlanden und im Saarland im 19. Jahrhundert vorhanden war. [7] Für Osteuropa galt dies erst recht. Hier kam indessen hinzu, dass Gewaltsamkeit als solche in den Reichsstrukturen Russlands und Österreich-Ungarns nur indirekt an die jeweilige Gesamtstaatlichkeit angebunden war, sondern in einem sich überkreuzenden Geflecht von gesamtstaatlichen, regionalen und Nationalitäteninteressen stand. Die Pogrome von Kishinew und Odessa mit der Rolle des Staates zu verbinden, unterscheidet sich daher gründlich von der Rolle des Staates in etablierten Nationalstaaten mit ihrem enormen Ressourcen- und Aufgabenzuwachs. Gerade das moldawische Kishinew lag im Schnittpunkt der gegensätzlichen Ansprüche verschiedener Nationalitäten.
Smith lenkt von diesen Beobachtungen den Blick auf Deutschland, lässt jedoch die weitere Entwicklung in Osteuropa außen vor. Rassengesetze waren aber gerade keine Erfindung der deutschen Nationalsozialisten. Allgemein bekannt sind die Rassengesetze von 1938 in Italien, die in der Zwischenzeit nicht nur dem Einfluss Deutschlands, sondern mindestens so sehr dem italienischen Rassismus zugeschrieben werden. [8] Bereits 1934 - und damit ein Jahr vor den Nürnberger Gesetzen - verabschiedete Rumänien Rassengesetze. Bekannte Autoren wie Mircea Eliade bewegten sich daraufhin immer weiter nach rechts. Die antisemitische Nationalchristliche Partei unter Octavian Goga wurde 1937 vom König mit der Regierungsbildung beauftragt. Ihre Rassengesetze schlossen Juden ähnlich der deutschen Entwicklung aus Ärzte- und Anwaltskammern aus. In Lettland mobilisierten die Antisemiten durch den Kampfruf "Lettland den Letten". Und auch in Litauen war eine antisemitische Vereinigung am Werk, um Litauen zu litauisieren und Juden aus der nationalen Gemeinschaft auszuschließen. Ungarn folgte dagegen dem deutschen Weg. Hier kam es 1938 und 1939 zur Übernahme der nationalsozialistischen Rassengesetze im ersten und zweiten Judengesetz, 1941 dann im dritten Judengesetz. Die osteuropäischen Rassengesetze können damit nur teilweise mit der deutschen Entwicklung hin zum Holocaust in Einklang gebracht werden. Sie folgten in weiten Teilen eigenen Mustern und Dynamiken.
2. Dieses Buch arbeitet detailgenau den Übergang von der Vertreibung zum Mord an den Juden heraus. Diese Kontinuität läuft auf den Novemberpogrom von 1938 zu. Zur Erklärung des systematischen Mords an den europäischen Juden reichen die Pogrome indessen nicht aus, so wichtig der Radikalantisemitismus für die Nationalsozialisten auch war. Der Holocaust ist ohne den Zweiten Weltkrieg nicht zu verstehen. Smith selbst gesteht den Graben zwischen der Kontinuität, die zur Pogromnacht 1938 führt, und dem Holocaust zu. Jedoch meint er, dass der Graben vielleicht kleiner ist als viele annehmen. Dazu führt er die intellektuelle Geschichte des 'Lebensraumes' und der geografisch-politischen Diskurse von Ratzel bis Rohrbach an. Die Kontinuitäten von deren Veröffentlichungen bis hin zur späteren Vernichtungspolitik der Nazis liegen auf der Hand, sie verdeutlichen die Möglichkeit, nicht aber die Wirklichkeit des Judenmords. Dazu gehörte neben der nationalsozialistischen Lebensraumplanung die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und damit die Unmöglichkeit, die Lebensraumplanung durchzusetzen und Juden nach Murmansk, hinter den Ural oder in die Pripjetsümpfe zu schicken. Damit ist eine Grenze der Erklärungskraft der Kontinuitäten aufgezeigt. Die "Continuities of German History" arbeiten einen Resonanzraum von Vorstellungen heraus, ohne den umgekehrt die Loyalität zu den Nationalsozialisten und die offene oder stille Mitarbeit an deren Vernichtungsprojekt nicht möglich gewesen wäre. Schließlich vertritt Smith gerade nicht die intentionalistische These, nach der eine gerade Linie von der ideologischen Vorgeschichte des Antisemitismus zum Holocaust führte.
3. Damit aber tritt die dritte Frage nach dem analytischen Wert und den Unterschieden von continuities und peculiarities hervor. Welche Form der Kausalität verbirgt sich hinter Kontinuitäten - im Unterschied zu Besonderheiten? Einerseits folgt Smith nicht den peculiarities der Sonderwegsthese. Er spart nicht mit Kritik an ihrer politik- und sozialgeschichtlichen Variante. Die These der peculiarities unterstellte einen westlichen Normalweg und schloss aus der deutschen Abweichung davon auf Ursachen für die ultimative Entdemokratisierung, die nationalsozialistische Diktatur. Dieser Normalweg ist in der Zwischenzeit zur Schimäre geworden. [9] Andererseits versteht Smith unter Kontinuitäten nicht einfach irgendwelche langen Traditionen, sondern hebt ihren kausalen Wert hervor. Mit Alexander Gerschenkron unterscheidet er fünf Formen von Kontinuitäten: constancy of direction, periodicity of events, endogenous change, length of causal regress und stability of the rate of change (10, Fußnote 23). Sein Interesse gilt der length of causal regress, also derjenigen Variante von continuities, die den peculiarities am nächsten kommt. Er nimmt also eine Zwischenposition im Streit um den Sonderweg ein: Nicht die peculiarities, die die Bielefelder Schule behauptet, tragen bei ihm die Last der kausalen Begründung, sondern weiter zurückreichende Prozesse des Ausschlusses von Juden aus der Nation und der Entsolidarisierung zwischen den christlichen Mehrheitskonfessionen und den Juden. Dieser Ausschluss radikalisierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf den territorialen Ausschluss folgte als Möglichkeit der Mord an den Juden. Als Praxis kann Smith dies für Osteuropa zeigen. Offen bleibt letztlich die Frage nach den spezifischen deutschen Kontinuitäten, die die Möglichkeit des Judenmords so "peculiar German" machten, dass sie den Holocaust erklären. Schließlich war der Tod ein Meister aus Deutschland.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Helmut W. Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002. Vgl. dazu Nils Freytag: Rezension von: Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Udo Rennert, Göttingen: Wallstein 2002, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 10 [15.10.2002], URL: http://www.sehepunkte.de/2002/10/1585.html
[2] Helmut W. Smith hat diesen Ansatz ausgeführt in: "Anti-Semitism as Speech Act", Paper delivered at the German Studies Association annual meeting, 9/20/2003.
[3] Helmut W. Smith: When the Sonderweg Debate left us, in: German Studies Review 31/2 (2008), 225-240, 234.
[4] Mit Bezug auf Jeffrey Herf: The Jewish enemy. Nazi propaganda during World War II and the Holocaust, Cambridge 2006, VIII.
[5] Zur Kritik dieses Topos: Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard (Hg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001. Vgl. dazu: Ralph Schattkowsky: Rezension von: Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard (Hgg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen: Wallstein 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 6 [15.06.2002], URL: http://www.sehepunkte.de/2002/06/3240.html
[6] Zum Forschungsstand vgl. Siegfried Weichlein: Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa. Ein Forschungsüberblick, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), 265-351.
[7] Das arbeitet etwa heraus: David Blackbourn: Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Nineteenth-Century Germany, New York 1994.
[8] Vgl. Victoria de Grazia: Die Radikalisierung der Bevölkerungspolitik im faschistischen Italien. Mussolinis "Rassenstaat", in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), 219-254.
[9] Vgl. schon Helga Grebing: Der "deutsche Sonderweg" in Europa 1806-1945. Eine Kritik, Stuttgart 1986.
Siegfried Weichlein