Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008, vii + 246 S., ISBN 978-0-521-72025-0, GBP 15,99
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Das Ergebnis seiner Suche nach den langen Kontinuitätslinien in der deutschen Geschichte, die zwar nicht auf den rassistisch motivierten Massenmord an den Juden zuliefen, ihn aber ermöglichten, formuliert Smith in den beiden letzten Sätzen: "Where then does continuity lie? Not in genocide, but in the imagination of expulsion, in the serving of ties to others, and in the violent ideologies, nationalism, anti-Semitism, and racism, that make these things possible to think, support, and enact." (233) Ist dies neu, weiterführend und erhellend? Der Frühneuzeithistoriker ist ein wenig ratlos über ein Buch, das dem langfristigen Wandel und den Verbindungen über Jahrhunderte hinweg nachspüren (3f.), den Wechsel im frühneuzeitlichen Nationsverständnis - "from the nation as emblem to the nation as identity" - glaubhaft machen und mit Ernest Renan zeigen will, dass "Vergessen" zur Nationsbildung gehört (7). Vor dieser Folie will Smith "the transition from community-based violence to violence defined in national terms" sowie das Zusammenspiel von Rassismus und Antisemitismus vorstellen (8). All dies wird zwar postuliert, aber weder methodisch noch inhaltlich in der notwendigen Form aufbereitet.
Mit der Frage nach langen Kontinuitäten in der deutschen Geschichte rückt Smith Phänomene wie die mittelalterlichen Judenmassaker oder die frühneuzeitlichen Religionskonflikte und Nationsvorstellungen in den Blick, die historisch weit über das hinausgehen, was die üblichen Darstellungen zur Genese des Naziregimes und zu den Ursachen des Holocausts bieten. Neben dieser zeitlichen Ausdehnung des Untersuchungsfeldes erfolgt im vierten Kapitel auch eine räumliche, die den Umbruch zur Gewalt gegen die Juden an (ost-)europäischen Beispielen erläutert, um dann allerdings die Debatten zum "Eliminationist Racism" wiederum auf das Wilhelminische Kaiserreich zu verengen. Kann Smith - so ist seiner Intention entsprechend zu fragen - mit dieser Versuchsanordnung den Verlust an Mitmenschlichkeit (36) in Deutschland nachvollziehbar und glaubhaft belegen, der seines Erachtens erst Vertreibung, Nationalismus, Antisemitismus sowie Rassismus und damit den Holocaust ermöglichte?
Das Buch beginnt mit einer informativen Auseinandersetzung mit den ausnahmslos im 20. Jahrhundert liegenden Fluchtpunkten deutscher Geschichte sowie den Erzählungen der deutschen Geschichte durch die nach Amerika emigrierten Historiker. Begründet wird zudem der Holocaust als "Sehepunkt", vom dem aus im Folgenden die langfristigen Denk- und Handlungsmuster konstruiert werden. Dieses Vorgehen ist legitim: Es verbindet die heute vergleichsweise nahe Vergangenheit mit der ferneren, um die Möglichkeit eines unfassbaren Verbrechens zu erklären. Das zweite Kapitel bietet jedoch nicht den Beginn der Erzählung, sondern einen Exkurs zu den frühneuzeitlichen deutschen Nationsvorstellungen. Dem englisch-amerikanischen Leser dürfte dies wenig vertraut sein, die neuere Forschung hat sich jedoch damit wie auch mit den kartografischen Darstellungen Deutschlands intensiv befasst. Smith vertritt die Auffassung, "deutsche Nation" sei seit dem 16. Jahrhundert nur eine äußere Zuschreibung - eine Nation unter Nationen - gewesen und erst die Betonung des "Selbst" durch Herder und vor allem durch Fichte habe um 1800 die nationale Identität als In- und Exklusion ermöglicht. Für Smith bedeutet dieser Umschwung nicht mehr und nicht weniger, als dass nun der Pfad in die "auserwählte Nation" und den rassistischen Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts denkbar geworden war. Blickt man allerdings etwas genauer auf die frühneuzeitliche Nationskonstruktion, so ist diese auch schon im 16. Jahrhundert in hohem Maße identitätsbildend, weil in- und exkludierend. So wurden etwa die Katholiken aufgefordert, nicht aufseiten des Papstes oder der Spanier, sondern mit den Protestanten gegen diese Feinde der Nation und der deutschen Freiheit zu kämpfen.
Das dritte Kapitel bietet dann die lange Kontinuitätslinie: Am Beispiel des Dreißigjährigen Krieges und der mittelalterlichen Judenmassaker wird über die soziale Erinnerung an religiöse Gewalt reflektiert. Für Smith erlebte Deutschland zwischen 1618 und 1648 einen reinen Religionskrieg, der danach vergessen wurde, was die innere Nationsbildung um 1800 ermöglichte. Doch der Krieg war von Beginn an auch ein Kampf um die politische Macht und um die Stellung des Kaisers in einem komplementär organisierten "Reichs-Staat". Die Reichsstände beriefen sich auf die deutsche Freiheit und meinten damit nicht nur ihre konfessionelle Selbstbestimmung, sondern auch ihre Mitbestimmungs- und Kontrollbefugnisse. Die Zeitgenossen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts erinnerten sich nicht an den Westfälischen Frieden, um die Gewalt unter Christen zu vergessen, sondern weil er bis 1806 die Grundlage der Reichsverfassung bildete. Zudem bedeutete die Erinnerung an den Frieden zugleich eine massive Erinnerung an den Krieg. Kein Pfarrer ließ sich die Chance entgehen, seiner Gemeinde auszumalen, was ihr drohte, falls Gott sie neuerlich für ihre Sünden bestrafen müsse. Auch der Krieg blieb im Gedächtnis der Deutschen präsent, wenn auch überlagert von einem zukunftsträchtigen Frieden. Dies änderte sich - wie Smith betont - im 19. Jahrhundert: Nun wurde angeblich der Frieden vergessen und der Krieg rückte mit seiner Zerstörungskraft, seinen Helden und den durch ihn hervorgerufenen Leidenschaften ins Zentrum historischer Darstellungen (93ff.). Der Westfälische Frieden wurde aber eigentlich nicht vergessen, er wurde nur anders funktionalisiert und galt fortan als Zeugnis deutscher Zerstückelung und Machtlosigkeit. Der Friede sollte nun belegen, dass Deutschland einen starken Nationalstaat benötige, um nicht noch einmal - wie 1648 - von fremden Siegern zersplittert und marginalisiert zu werden.
Auf diesem scheinbaren frühneuzeitlichen Vergessen baut Smith jedoch seine zentrale These auf, mit der er die deutsche Nation und die Gewalt gegen Juden verbindet: Die Deutschen hätten ihre konfessionell begründete Gewalt gegeneinander bewusst vergessen, während diejenige gegen die Juden unvergessen geblieben sei - aufseiten der Täter wie der Opfer. Die mittelalterlichen Judenmassaker blieben wie alle Pogrome im Gedächtnis haften (76f.), weil die Christen nach der Vertreibung und in Erinnerung an sie oft am Ort von ehemaligen Synagogen und Judenschulen Kirchen errichtet hätten (97). Daraus folgert Smith, dass für die Deutschen um 1800 eine nationale Gemeinschaft denkbar geworden sei "with other Christians, but not with Jews." (101) Die Exklusionsvorstellung wird dann zwar ein wenig relativiert, "but in the transition from early modern to modern, these possibilities were first thought." (102) Wurden sie das und wenn ja, wo und seit wann?
Es gibt eine von Smith ausgeblendete "Gegenerfahrung". Zwar gab es im frühneuzeitlichen Deutschland weiterhin Pogrome und Ausweisungen, doch diese bedrohten praktisch nie das Leben der Juden, weil das "Königsbündnis" (Yosef Hayim Yerushalmi) nun dafür sorgte, dass Gewalt gegen die Juden für die Täter zu einer höchst risikoreichen Strategie wurde. Das herrschaftliche Gewaltmonopol bzw. die Verstaatung hatten dazu geführt, dass der zu erkaufende Schutz im entscheidenden Moment auch wirksam wurde. Allerdings leiteten manche Herrscher aus den Schutzgeldern das Recht ab, die Juden ausweisen zu dürfen. Maria Theresia praktizierte dies noch in Prag 1744. Festzuhalten bleibt: Die Erfahrung der Gewalt gegen Juden verlor sich im 18. Jahrhundert nicht, doch die Kontinuität bezog sich auf Vertreibungen, nicht auf Massenmord. Die rhetorischen Entgleisungen, die um 1800 und nach 1815 spürbar zunahmen, stehen freilich nicht für sich, sondern verweisen auf den Kontext einer breiten und alles andere als wirkungslosen Emanzipationsdebatte, die nun begann, Kriterien der nationalen Zugehörigkeit zu definieren und damit Probleme aufzuwerfen, die es vorher so nicht gegeben hatte. Dabei ging es nicht nur um Assimilation, sondern um die Bewahrung der jüdischen kulturellen Identität innerhalb der deutschen Nation. Strittig war das Maß der notwendigen Anpassung - und ist es bis heute geblieben.
Bis hierher, bis ins frühe 19. Jahrhundert, scheinen die vom "Sehepunkt Holocaust" konstruierten langen Kontinuitätslinien wenig zum "Warum" des rassistisch motivierten Massenmordes an den Juden oder zum Verlust an Mitmenschlichkeit beizutragen. Ausweisung und Vertreibung waren Erfahrungen, mit denen umzugehen die Juden leidvoll gelernt hatten. Der rhetorische Ausschluss aus der deutschen Nation basierte stets auf der Vorstellung, dass sie sich nicht integrieren wollten - und dies war etwa in Frankreich, wie die Debatten der Nationalversammlung 1790/91 zeigen, nicht anders. Spezifisch deutsche Kontinuitätslinien vermag der Frühneuzeitler daher vor der Mitte des 19. Jahrhunderts kaum zu erkennen und danach, beim Übergang zur manifesten Gewalt, verlässt Smith den deutschen Raum. Eine Erfahrung der "deutschen" Juden waren die osteuropäischen Massaker wohl nur sehr vermittelt - mehr noch: Die deutschen Juden wähnten sich davor gefeit, denn der Staat hatte sie hier gegen tumultuarische Gewalt bisher stets geschützt und tat dies auch weiterhin. Diese Erfahrung des politischen "Eingebundenseins" in das Gemeinwesen durch die "Königsbündnisse" wog schwerer als alle rhetorischen Bedrohungen, die aus nationalistischen oder rassistischen Gründen "Vertreibung" und "Totschlagen" forderten. Ob von den meist osteuropäischen Massakern um 1900 eine Kontinuitätslinie zum Holocaust zu ziehen ist, die dieses unfassbare Verbrechen besser als bisher erklären oder wenigstens begreifbar machen könnte, wird die weitere Diskussion zeigen. Das von Smith angewandte eklektizistische Verfahren lässt sich natürlich dadurch rechtfertigen, dass vieles mit vielem zusammenhängt und die systematische Vernichtung der Juden aus rassistischen Gründen nun einmal in Deutschland seit Sommer 1941 geplant und in die Tat umgesetzt wurde. Doch gerade das "Warum" des Genozids bleibt bei den vermuteten und angedeuteten Kontinuitätslinien unerörtert bzw. wird vage auf die eingangs genannten Zusammenhänge zurückgeführt.
Was also bringt das Buch? Methodisch ist die Versuchsanordnung nicht stringent, weil an der entscheidenden Stelle, dem Übergang zur manifesten Gewalt im späten 19. Jahrhundert, der deutsche Rahmen ohne eingehende Begründung "europäisiert" wird. Inhaltlich wird man die These vom frühneuzeitlichen Umschwung im Nationsverständnis und vom bewussten Vergessen der christlichen Gewalt untereinander weiter diskutieren müssen. Die bekannten Quellen sprechen meines Erachtens dagegen. Bliebe das Nichtvergessen der Gewalt gegen die Juden. Dies sei unbestritten, doch gerade vor, um und nach 1800 gab es auch die Idee zum pluralen Miteinander in der deutschen Nation.
Bei aller Skepsis und Kritik und bei allem Ärger über die allenfalls ausschnitthafte Berücksichtigung der neueren deutschen im Vergleich zur angelsächsischen Forschung hat Smith ein Buch geschrieben, das gerade die in immer neuen Sonderwegen und Fluchtpunkten festgefahrene Auseinandersetzung mit den langen Kontinuitätslinien in der deutschen Geschichte hätte bereichern können. Der entscheidende Impuls besteht in der Reintegration der älteren deutschen Vergangenheit in ein aktuell wirksames Geschichtsbild. Die tiefe Zäsur um 1800 ("Am Anfang war ...") wird damit überwunden, obwohl die Ausrichtung auf die Naziherrschaft und den Holocaust als didaktisches Lehrstück für die Menschheit bestehen bleibt. Dass diese teleologische Konstruktion langer Kontinuitätslinien notwendig und aussagekräftig ist, wird niemand bestreiten. Ein wirklich neuer "Sehepunkt" ergäbe sich freilich erst aus einer anderen Versuchsanordnung, die nicht mehr den traditionellen Zäsuren folgt, sondern neue setzt. Wie viele andere Phänomene verweist auch der Kontext "Antijudaismus/Antisemitismus" auf ein "langes" 19. Jahrhundert, das aber gerade nicht mit der zur Aufklärungsepoche gehörenden Emanzipationsdebatte, sondern erst mit der alles überlagernden Sehnsucht nach nationalstaatlicher Eindeutigkeit beginnen sollte. In Deutschland wäre dies irgendwann zwischen 1830 und 1848. Diese Ära der nationalstaatlichen Abschließung, in der das Fremde und Andere, das Uneindeutige und Ungewisse aktiv bekämpft wurde, endete mit der neuerlichen Öffnung der Moderne um 1970. Zu dieser Epoche eines langen 19. Jahrhunderts gehört der Holocaust, aber auch der Übergang "From Play to Act", den Smith im vierten Kapitel schildert sowie der "Elimination Racism" des fünften Kapitels, weil bei den "ethnischen Säuberungen" die Angst vor der Pluralisierung dominierte. Diese Perspektive erklärt zwar ebenfalls nicht den systematischen und staatlich geplanten Massenmord, verweist aber auf Wurzeln, die auch für die älteren Massaker und Pogrome gegen die Juden eine wichtige Rolle spielten: Die Angst vor dem Fremden und Anderen, vor der zu integrierenden Vielheit und vor dem Verlust einer ohnehin nie vorhandenen elementaren (ethnisch-kulturellen) Einheit und Eindeutigkeit.
Georg Schmidt