Rezension über:

Jan Assmann / Martin Mulsow (Hgg.): Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs, München: Wilhelm Fink 2006, 414 S., ISBN 978-3-7705-4128-7, EUR 54,00
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Rezension von:
Lucas Burkart
Historisches Seminar, Universität Luzern
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Lucas Burkart: Rezension von: Jan Assmann / Martin Mulsow (Hgg.): Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs, München: Wilhelm Fink 2006, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2 [15.02.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/02/12262.html


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Jan Assmann / Martin Mulsow (Hgg.): Sintflut und Gedächtnis

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1725 veröffentlichte der neapolitanische Gelehrte Giambattista Vico seine geschichtsphilosophische Synthese in erster Auflage, die er 1730 und in seinem Todesjahr 1744 in zwei erweiterten Fassungen erneut publizierte. Die scienza nuova stellte eine bedeutende Neuerung in der europäischen Geistesgeschichte dar. Angesichts der Modernität dieser Kulturtheorie erstaunt es zunächst, dass Vico deren Beginn im biblischen Mythos der Sintflut verortet. Hier, so Vico, nahm eine völlig neue historische Welt ihren Ausgang, die mit der vorsintflutlichen Epoche keinen Zusammenhang mehr besaß. Der Entscheid des neapolitanischen Geschichtsphilosophen, seine säkulare Kulturentstehungstheorie mit der Sintflut beginnen zu lassen, war jedoch alles andere als zufällig; auf die Vertreter und Angehörigen gleichsam aller frühneuzeitlichen Wissen(schaft)sbereiche übte die biblische Erzählung der Sintflut hohe Anziehungskraft aus. In Johann Heinrich Zedlers Universallexikon - der entsprechende Band 21 erschien wie Vicos dritte Auflage der scienza nuova 1744 - wird die Sintflut sogar als "die größte Begebenheit [bezeichnet], die sich je in der Welt zugetragen."

Dieser "Begebenheit" und ihrer Bedeutung für die Wissenskulturen der Frühen Neuzeit hat sich 2003 eine Tagung an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel gewidmet, deren Ergebnisse nun in dem von Jan Assmann und Martin Mulsow besorgten Band mit dem Titel "Sintflut und Gedächtnis" vorliegen. Wie im Titel bereits angetönt, haben sich Symposion und Publikation einer ausgewählten Perspektive verschrieben, unter der sie sich der Sintflut zuwenden und zugleich darüber hinaus, bzw. zurückblicken. Der biblische Mythos der Sintflut erzählt, so Martin Mulsow im Vorwort, "nicht nur von einer Katastrophe im Sinne von Schrecken und Strafen, sondern auch von einer Katastrophe des kollektiven Erinnerungsverlustes." (7) Dieser gedächtnisgeschichtliche Zugang durchzieht in unterschiedlicher Gewichtung die im Band versammelten sechzehn Beiträge. Indem sie nach dem Verhältnis von Sintflut und Gedächtnis fragen, begegnen sich hier Religionsgeschichte, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Anthropologie und Kunstwissenschaft in fruchtbarer Weise. Das Resultat ist ein Band, der trotz präziser Analyse gelehrter Spezialdebatten der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur das kulturwissenschaftliche Interesse am Zusammenhang zwischen Sintflut und Gedächtnis nicht aus dem Blick verliert und der sich zudem über weite Strecken gut liest.

Eine erste Sektion widmet sich den antiken Grundlagen der Sintfluterzählung. Zunächst eröffnet Jan Assmann in vergleichender Perspektive den Blick auf mythische Katastrophenerzählungen der Antike. Dabei wird deutlich, dass es sich beim Flutmythos um ein in allen Weltteilen bekanntes Motiv handelt, das auf eine anthropologische Grundfrage verweist: Auf den Zusammenhang von Menschenschöpfung und Menschenzerstörung. In der Form der biblischen Sintfluterzählung, die für die abendländische Rezeption wichtig geworden ist - und um diese geht es in dem Band -, lässt sich ein narrativer Bogen ausmachen: Der Schöpfung folgt die Katastrophe als Zerstörung, aus der sich eine neue Ordnung ergibt. In diese Neuordnung gilt es nun aber auch die Kultur einzubinden, die gewissermaßen als eine zweite Natur, als eine Nachbesserung der Schöpfung erscheint. In einem nicht weniger grundlegenden Beitrag rekonstruiert Norbert Baumgart das dichte und widersprüchliche Geflecht der alttestamentlichen Fluterzählung(en), die ja nicht eine Ur-Erzählung kennt, sondern eine Fülle von Anhalts- und Ausgangspunkten bietet. Baumgart legt darin die textuellen Grundlagen des Mythos frei und reflektiert zugleich die Traditionen, Entwicklungen und Tendenzen ihrer Exegese, verbindet seinen Untersuchungsgegenstand also mit dessen eigener Wissenschaftsgeschichte.

Auf diesem doppelten Fundament ruhen die übrigen Beiträge, in denen die Attraktivität des biblischen Mythos für frühneuzeitliche Wissensdiskurse deutlich sichtbar wird; kaum ein Wissensbereich, der seinen eigenen Ursprung, seine Geschichte und zugleich seine Innovationen vom Spätmittelalter bis ins 18. Jahrhundert nicht mit der Sintflut in Beziehung setzte. Anthony Grafton etwa untersucht, wie sich zwischen 1450 und 1680 die Sintflut in die Chronologie einer Universalgeschichte eingefügt denken und erklären ließ. Dabei entsteht kein homogenes Bild von Wissenschaftsvorstellungen, auch keine Fortschrittsgeschichte, sondern eine Darstellung, wie vor dem Hintergrund wandelnder Wissensbestände, wissenschaftlicher Methoden und Diskurse der Bezug zur biblischen Fluterzählung immer neu herzustellen war. An der Sintfluterzählung des Annius von Viterbo (1432-1502), die der Bibliothekar des Vatikan in eine Sammlung mit dem Titel "Auctores vetustissimi" integriert, erhellt Wilhelm Schmidt-Biggemann den herausragenden Status des biblischen Mythos für eine "stimmige" Sicht auf die Geschichte, die um 1500 eben immer auch noch Heilsgeschichte war und sein musste. Sowohl in der historisch-kritischen Methode als auch in der Kenntnis außerbiblischer Texte breit abgestützt und schließlich im Gestus einer Nationalhistoriografie dem humanistischen Ideal verpflichtet, schreibt Annius die Sintflut in das Textwissen seiner Zeit - von Plinius über Flavius Josephus zu Eusebius und Augustin - sowie in bekannte Erzählmodi von Geschichte - Vier-Reiche-Lehre und Chronologien - ein und konstatiert damit den Beginn der fassbaren Weltgeschichte. Dass die Quellenbasis - die Geschichte der Sintflut, Noahs und seiner Söhne des chaldäischen Priesters Berosus - frei erfunden worden und der Verfasser den quellenkritischen Nachweis stets schuldig geblieben war, tat der Wirksamkeit der Antiquitates über weite Strecken keinen Abbruch; auch die offene Kritik, erstmals 1522 geäußert, disqualifizierte den Text nicht. Annius war, wie Schmidt-Biggemann formuliert, "mit seiner Sammlung erfundener Quellen eben ein großer Wurf gelungen", der die Erwartungen des gelehrten Publikums zu gut erfüllte (104).

Doch die Katastrophe der Sintflut bedeutete nicht nur den Beginn der Weltgeschichte und somit selbst einen Gegenstand der Erinnerung, sondern die Sintflut brachte aus sich selbst bereits eine Reflexion über das Verhältnis von Erinnern und Vergessen als Grundlage von Kultur hervor. Denn im Motiv der "Erinnerungskatastrophe", die die Sintflut auch darstellt, lag das Risiko geborgen, die göttliche Weisheit, das Ur-Wissen, das sich seit Adam von Generation auf Generation tradiert hat, mit diesen nun aber in den Fluten versunken ist, zu verlieren. Mit dieser Gedankenfigur ist untrennbar ihre Gegenfigur verbunden: Der Versuch gegen diesen Verlust anzukämpfen, die sapientia perennis von jenseits der Sintflut ins eigene Gedächtnis zu bringen. Martin Mulsow zeigt in seinem Beitrag sehr schön, dass dies in den Wissenskulturen der Frühen Neuzeit methodisch und konzeptionell in ganz unterschiedlicher Weise möglich war. Die Entmythologisierung der Sintflut durch den Helmstedter Professor Hermann von der Hardt verfuhr in ganz anderer Weise als deren Deutung als ein kollektives Trauma durch den Pariser Ingenieur und Historiker Nicolas-Antoine Boulanger. Diese beiden Lesweisen entsprechen diametral entgegengesetzten Positionen, haben jedoch eines gemeinsam: Sie entwerfen säkulare Lesweisen der Sintflut, denen eine enge Verschränkung der biblischen Erzählung mit der Vorstellung eines kollektiven Gedächtnisses zugrunde liegt.

Diesen Zusammenhang reflektiert Jan Assmann in seinem Beitrag auf die Frage nach den epistemischen Kulturen der Frühen Neuzeit hin. Wie die Sintflut eben nicht einfach Gedächtnisverlust bedeutete, sondern Anlass bot, über das Verhältnis von Erinnern und Vergessen als grundlegende Fundierung von Kultur nachzudenken, war das urtümliche Schöpfungswissen nicht einfach in den Fluten versunken, sondern in zahlreichen Spuren erhalten geblieben, die jedoch zunächst nicht mehr verständlich waren. Am bekanntesten war in dieser Hinsicht die vom jüdischen Historiker Josephus Flavius (1. Jahrhundert n.Ch.), überlieferte Legende, der zufolge die vorsintflutliche Ur-Weisheit in den Säulen des Seth auf "flutbeständigen" Materialien fixiert worden war. Besonders in der hermetischen Tradition war diese Vorstellung eines nur wenigen Auserwählten zugänglichen und verständlichen Wissens verbreitet. Assmann zeigt, wie sie sich in den Wissensdiskursen der Frühen Neuzeit verstärkt auf solche "sichtbaren Beweise" richtete, allen voran auf die mit Hieroglyphen übervollen ägyptischen Tempelanlagen, aber auch auf Fossilien und geologische Phänomene. Die Sintflut stand somit nicht nur für das Trauma eines kollektiven Gedächtnisverlustes, sondern wurde auch zur Chiffre der Exklusivität von Wissen. An der Fortschreibung solcher Vorstellungen bis ins 20. Jahrhundert - Assmann verweist auf einen Vorschlag zur Einrichtung einer "Atompriesterschaft", die ihr Wissen über den Umgang mit Atommüll von Generation zu Generation tradieren und somit sichern soll - wird deutlich, wie langlebig Formen und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses sein können: ein Hermes Trismegistos im Strahlenanzug gewissermaßen!

Der anzuzeigende Band bietet einen enormen Reichtum aus dem Schatz frühneuzeitlicher Wissensdebatten. Sein eigentliches Verdienst besteht aber darin, darüber hinaus in der Frage nach dem Verhältnis von Sintflut und Gedächtnis eine Perspektive zu eröffnen, die jenseits solcher, von heutiger Warte aus teilweise entlegener Spezialdiskurse auf die grundlegende Bedeutung von Gedächtnis nicht nur für die Kultur, sondern auch für die Wissenschaft verweist. Dies arbeitet der Band vor allem anderen heraus. Das Interesse der verschiedenen frühneuzeitlichen Wissensbereiche an der Sintflut bringt nicht nur diese "größte Begebenheit" auf die Bühne, sondern auch das eigene wissenschaftliche Interesse und dessen Weiterentwicklung. Aber damit sind wir wieder bei Vico angelangt, denn darin ist das Element der Dynamisierung in die Erkenntnistheorie eingeführt, wie es der neapolitanische Gelehrte in seiner scienza nuova entworfen hatte. Die Geschichte seit der Sintflut ist eben von Menschen gemacht und Vico zufolge somit das Einzige, worüber menschliche Wissenschaft überhaupt etwas Wahres auszusagen vermochte. Die Sintflut ist seit Vico somit nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, sondern Medium geschichtsphilosophischer Reflexion - den Weg hin zu dieser Kulturtheorie skizziert der Band, indem er das Verhältnis zwischen Sintflut und Gedächtnis in unterschiedlichen Wissensfeldern der Frühen Neuzeit beleuchtet.

Lucas Burkart