Rezension über:

Selma Stern: Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Aus dem Englischen übertragen, kommentiert und herausgegeben von Marina Sassenberg (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; Bd. 64), Tübingen: Mohr Siebeck 2001, X + 285 S., ISBN 978-3-16-147662-4, EUR 64,00
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Rezension von:
Irene Aue
Franz Rosenzweig Minerva Research Center at the Hebrew University of Jerusalem
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Irene Aue: Rezension von: Selma Stern: Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Aus dem Englischen übertragen, kommentiert und herausgegeben von Marina Sassenberg, Tübingen: Mohr Siebeck 2001, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2 [15.02.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/02/14468.html


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Selma Stern: Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus

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Das Phänomen des Hofjudentums des 17. und 18. Jahrhunderts hat in den letzten fünfzehn Jahren neue Aufmerksamkeit in der Wissenschaft auf sich gezogen, davon zeugen Forschungsprojekte, Veröffentlichungen, Konferenzen und Ausstellungen. [1] Mit der deutschen Fassung von Selma Sterns 1950 erschienenem Buch The Court Jew will die Herausgeberin Marina Sassenberg einen "historischen Beitrag" zu dieser aktuellen Diskussion und der Neubewertung der Institution des Hofjudentums leisten (251). Und in der Tat ist nun ein Meilenstein in der Historiographiegeschichte des Hofjudentums wieder präsent bzw. einem deutschen Lesepublikum erstmals zugänglich gemacht worden, womit zugleich auf das exzeptionelle Werk der deutsch-jüdischen Historikerin Selma Stern aufmerksam gemacht wurde. [2]

Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung war Sterns The Court Jew die erste Monographie, die einen Überblick über die Geschichte der Hofjuden im 17. und 18. Jahrhundert gab und eine Interpretation des Aufkommens und Wirkens dieser jüdischen Wirtschaftselite in ihrem sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ideengeschichtlichen zeitlichen Kontext anbot. In dem in zehn Kapitel untergliederten Buch beschrieb Stern anhand prominenter Beispiele wie etwa Samuel Oppenheimer, Elias Gumpertz oder Joseph Süß Oppenheimer die verschiedenen Tätigkeitsfelder von Hoffaktoren (Kriegskommissar, Hoflieferant, Kammeragent und Resident, Kabinettsfaktor, Kommerzienagent, Münzlieferant), sowie ihre Rolle in der jüdischen Gemeinschaft (Schtadlan und Fürsprecher, Gemeindegründer und Mäzen). In den beiden letzten Kapiteln (Persönlichkeit der Hofjuden, Schicksale) versuchte sie eine Art Gruppencharakterisierung der Hofjuden, in der sie u.a. ihre Formen und Probleme der Annäherung an die Kultur des höfischen Barock herausarbeitete. Die nun vorliegende Übersetzung wird durch einen Text Marina Sassenbergs ergänzt, der Sterns Studie in der wissenschaftlichen Diskussion sowie im Lebenswerk der Historikerin verortet.

Für ihre Studie zu den Hofjuden konnte Stern auf Material zurückgreifen, das sie zwischen 1920 und 1938, bevor ihr der Zugang zu den Archiven in Deutschland verboten wurde, in einer Vielzahl von Archiven recherchiert hatte. Stern erschloss diese Quellen im Kontext anderer Projekte, sozusagen am Wegesrand: Für die Berliner Akademie für die Wissenschaft des Judentums arbeitete sie an ihrer großen Studie Der preußische Staat und die Juden (1925, 1962-75) und ihrer Biographie Joseph Süß Oppenheimers, Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und zur jüdischen Geschichte (1929). Ihrer Hofjuden-Studie ist denn auch anzumerken, dass sie nicht auf eigenständigen systematischen Archivrecherchen zu dem Thema beruht - ihr Quellenmaterial stammt überwiegend aus preußischen und württembergischen Archiven und prägt ihre Perspektive entsprechend.

Es ist faszinierend, anhand von Sterns Anmerkungsapparat nachzuvollziehen, bis wann sie die in Deutschland zu dem Thema erschienene Literatur noch verfolgte und verarbeitete, und ab wann die Sekundärliteratur vornehmlich englischsprachig wurde. Dass man in ihren Fußnoten auch von Stern unkommentiert über Hans Peter Deegs Arbeit Hofjuden stolpert, die 1938 von Julius Streicher herausgegeben worden war, erstaunt.

Stern hat ihre Forschungsunterlagen nur unter großen Schwierigkeiten aus Deutschland ausführen und 1941 mit sich ins amerikanische Exil, nach Cincinnati, nehmen können. Dort beendete sie das deutsche Manuskript von The Court Jew. Der genaue Zeitpunkt der Niederschrift des Manuskripts, das sich heute im Teil-Nachlass Sterns in Basel befindet, ist unklar.

Zum Zeitpunkt seiner englischen Erstveröffentlichung hatte das Buch also schon eine geraume (Forschungs-)Geschichte hinter sich. Die wenigen Besprechungen bzw. Bezugnahmen auf ihr Buch, die damals in Deutschland erschienen, monierten denn auch, dass Stern nur bedingt die neuere Literatur und nur einen Bruchteil des archivalischen Materials herangezogen habe. [3] Abgesehen von diesen 'deutschen' Urteilen und Kritiken wurde das Buch andernorts freilich ganz anders aufgenommen und zählte etwa in Israel bald zum Kanon dessen, was Studierende der Jüdischen Geschichte lasen. [4]

Nun ist dieses Buch also über 50 Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung auf Deutsch erschienen. Nach Angaben der Herausgeberin ist der vorliegende Text das Resultat einer "Synthese" der erschienenen englischen Fassung und des bis dato unveröffentlichten deutschen Manuskripts, die sich wesentlich voneinander unterscheiden sollen. An einigen Stellen wird auf diese Unterschiede hingewiesen (71, Anm. 59), das Ausmaß der Differenzen wird aber nicht ersichtlich. Das ist schade. Gerade weil The Court Jews Sterns erste veröffentlichte wissenschaftliche Monographie in den USA war, wäre ein solcher Textvergleich im Hinblick auf die wiederholt gestellte Frage nach dem Wandel von Sterns Geschichtsbild angesichts von Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden von Interesse gewesen.[5] Veränderte Positionen Sterns im Vergleich zu ihren früheren Texten sind in The Court Jew nämlich durchaus sichtbar - wie etwa die Aufgabe des Glaubens an eine fortschreitende Entwicklung in der Geschichte infolge des Endes der Emanzipation oder die Betonung der bisweilen dramatischen Schicksale der Hofjuden, um nur zwei Aspekte zu nennen. In anderen Passagen ist Stern jedoch auffällig 'statisch' in ihrer Darstellung - es gibt zahlreiche Formulierungen, die sich genauso in früheren Texten Sterns finden. Das "Trauma der Emigration" als ein "geistiges Destilliergerät des Exils" zu bezeichnen, wie es David Sorkin in seinem Vorwort zu Sassenbergs Neuausgabe macht (VI), klingt zwar catchy, suggeriert aber eine klarere und grundsätzlichere Überarbeitung und Revision von Sterns Geschichtsschreibung, als sie in diesem Text vorliegt.

Die Zielsetzung, eine "deutsche Leseausgabe" von The Court Jew zu veröffentlichen, hatte offenbar einige Entscheidungen bezüglich der (insgesamt sehr kurz gehaltenen) editorischen Anmerkungen zur Folge. So sind beispielsweise an diversen Stellen Anführungszeichen in den Text eingebaut worden, die - zwar in Anmerkungen als Ergänzungen ausgewiesen werden, aber dennoch - den Eindruck vermitteln, als wolle man den Text an heutige Lese- und Arbeitsgewohnheiten angleichen (z.B. 7, 12, 28). Bedauernswert ist die Entscheidung, Sterns Danksagungen aus dem englischen Buch nicht in Gänze abzudrucken (4), geben sie doch einen Einblick in das Umfeld der Entstehung der Studie in Deutschland und im amerikanischen Exil. Zusammen mit den dem Buch beigefügten Illustrationen, die sicherlich eine optische Bereicherung sind, vermitteln diese Maßnahmen aber den Eindruck einer Mit-Autorenschaft der Herausgeberin. Deuten diese 'kleinen Eingriffe' vielleicht auf ein größeres Problem hin, nämlich die Frage, wie wir heute mit so einem historischen Text umgehen können, wie wir ihn fruchtbar machen können - jenseits der verdienstvollen Arbeit für eine späte Anerkennung und Bekanntmachung der Forschungen Selma Sterns, der darin zum Ausdruck kommt?

Mit Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus ist eine wichtige Arbeit Selma Sterns und ein Klassiker der Hofjudenforschung über fünfzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung mit einer informationsreichen werksgeschichtlichen und biographischen Einbettung der Arbeit auf Deutsch erschienen. Gerade weil das Buch aber vor allem historiographiegeschichtlich von großem Interesse ist, wäre es wünschenswert gewesen, die partielle Ferne des Textes zu heutigen Forschungen auszuhalten anstatt sie einzuebnen.


Anmerkungen:

[1] Ein Überblick zu der neueren Literatur nach Erscheinen von Sterns The Court Jew von 1950 findet sich auf S. 265ff. des besprochenen Buches. Besonders dem württembergischen Hoffaktoren Joseph Süß Oppenheimer galt große Aufmerksamkeit. Siehe den Tagungsband Alexandra Przyrembel /J örg Schönert (Hgg.): "Jud Süß". Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild, Frankfurt a. M. 2006. Außerdem sind zu "Jud Süß" im Jahr 2007 gleich drei verschiedene Ausstellungen gezeigt worden.

[2] Siehe dazu auch: Marina Sassenberg: Selma Stern (1890-1981). Das Eigene in der Geschichte. Selbstentwürfe und Geschichtsentwürfe einer Historikerin, Tübingen 2004.

[3] Siehe die Besprechung von Wilhelm Treue: Rez. The Court Jews, in: HZ 172 (1951), 571-577; auch Heinrich Schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus. Erster Band: Die Institution des Hoffaktorentums in Brandenburg-Preußen, Berlin 1953, 10. Schnee merkt in zynischer Weise an, Stern hätte das Thema auch gar nicht "erschöpfend und systematisch" behandeln können, "nachdem ihr in Deutschland die Quellen nicht mehr zugänglich waren."

[4] Itta Shedletzky: Tragik verfrühter Emanzipation - Topographie jüdischer Mentalität. Die Deutungen des 'Jud Süß' bei Selma Stern und Lion Feuchtwanger, in: Alexandra Przyrembel / Jörg Schönert (Hgg.): "Jud Süß". Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild, Frankfurt a. M./New York 2006, 139-150, 141.

[5] Siehe etwa Christhard Hoffmann: Zerstörte Geschichte. Zum Werk der jüdischen Historikerin Selma Stern, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 11 (1993), 203-215.

Irene Aue