Helge Wittmann: Im Schatten der Landgrafen. Studien zur adeligen Herrschaftsbildung im spätmittelalterlichen Thüringen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 17), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 584 S., ISBN 978-3-412-20805-9, EUR 59,90
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Die vorliegende Studie geht auf eine für den Druck geringfügig überarbeitete Jenaer Dissertation aus dem Jahr 2003 zurück. Der Verfasser möchte mit dieser Arbeit einen Beitrag zum besseren Verständnis der adeligen Herrschaftsbildung im hochmittelalterlichen Reich, insbesondere in Thüringen leisten. Ihm geht es dabei explizit um Grundlagenforschung, die den Boden für weiterführende Untersuchungen ebnen soll. Gegenstand der Analyse sind die Herren von Heldrungen, die Grafen von Buch und die Grafen von Wartburg-Brandenburg. Mit Ausnahme der Grafen von Wartburg-Brandenburg sind sie bislang von der Forschung kaum bzw. unzureichend behandelt worden. Die drei Geschlechter werden jeweils in einem Dreischritt eingehender Betrachtung unterzogen: "Personen- und Besitzgeschichte" macht den Anfang, dann folgen "zentrale Herrschaftsrechte" und schließlich werden "Ursprung und Grundlagen der Herrschaft" in den Blick genommen.
Der Verfasser, selbst aus Heldrungen stammend, geht mit viel Leidenschaft und Hingabe an sein Werk. Keine Mühen werden gescheut, die wahrlich nicht sehr reichlich gesäten Informationen zu den drei jeweils erst im 12. Jahrhundert fassbaren Familien zu sammeln und auszuwerten. Kein Problem, keine Widersprüchlichkeit ist zu gering, um sie nicht sorgfältig zu erörtern. Dabei wird große Fertigkeit und Sorgfalt im Umgang mit den Quellen an den Tag gelegt und eine Fülle von Einzelbeobachtungen erarbeitet, die den Kenntnisstand über die drei behandelten Familien in der Tat auf neue Grundlagen stellen. Der Verfasser vermag auch zu zeigen, wie die lokalgeschichtliche Sicht neues Licht auf die Rolle prominenter, in der Regel aus Reichsperspektive untersuchter Klöster werfen kann. So ermöglichte das Innehaben der Vogtei des Klosters Memlebens der Familie von Buch Herrschaftsbildung und sozialen Aufstieg. Ohne die Vogtei wäre ihr Grafentitel undenkbar gewesen. Dass bei all diesen Erörterungen der Konjunktiv Konjunktur erfährt, dürfte jeder, der sich einmal mit personen- und besitzgeschichtlichen Problemen in relativ quellenarmer Zeit beschäftigt hat, nachsehen. Mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten, gehört hier zum Alltagsgeschäft.
Der sinnvolle Versuch, durch den Dreischritt analytische Schneisen in das Klein-Klein der Überlieferung zu bringen, gelingt allerdings nur zum Teil, denn die gewählten Blickwinkel sind zu ähnlich, als dass sie deutliche Trennschärfe ermöglichten. Extensive Wiederholungen sind die Folge, was dem Verfasser durchaus bewusst ist, die Lesbarkeit des dicken Buches aber nicht erhöht. Wer sich weniger für die Beweisgänge und lokalgeschichtlichen Besonderheiten als für die Ergebnisse interessiert, wird in den stringenten, die jeweiligen Kapitel beschließenden Zusammenfassungen fündig. Hier erfährt der Leser noch einmal in knappen Worten, dass die Herren von Heldrungen geradezu aus dem Nichts kommend sich in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts rasch in unmittelbarer Nähe der Thüringer Pforte etablierten und dort ihre namengebende Burg errichteten. In Anlehnung an die Landgrafen gelang es ihnen, ihre Herrschaft, die sich durch weit gestreuten Besitz kennzeichnete, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts auszubauen. Auf dieser Basis übten sie noch bis ins Spätmittelalter grafengleiche Herrschaft aus, ohne allerdings Grafen zu werden.
Dies gelang hingegen den Grafen von Buch, die, wie erwähnt, ihren Aufstieg auf der Vogtei des Klosters Memleben gründeten. Gleich den Herren von Heldrungen pflegten auch die Grafen von Buch gute Beziehungen zu den Landgrafen, verschwinden aber nach vier Generationen Ende des 13. Jahrhunderts wieder aus der Überlieferung. Prominentestes Familienmitglied war zweifellos der Mainzer Erzbischof Christian von Buch. Bemerkenswert ist hier, dass sich sein Pontifikat und seine treuen Dienste für Kaiser Friedrich I. nicht für seine thüringische Familie auszahlten. Weder territoriale Zuwächse sind auf Christian zurückzuführen, noch ist er als aktiver Patron seiner Verwandten hervorgetreten. Die Ferne des in Italien so aktiven Erzbischofs von seinem Bistum hat wohl ihre Entsprechung in einer gewissen Distanz zu seiner Familie.
Die Grafen von Wartburg-Brandenburg dagegen profitierten sehr von einem Verwandten auf dem Mainzer Stuhl: Erzbischof Heinrich I. ebnete ihnen mit Besitzungen in Hessen und Südthüringen den Weg zum Grafentitel, den sie seit der Mitte des 12. Jahrhunderts führten. Daneben war für die Wartburg-Brandenburger die Anbindung an die ludowingischen Landgrafen handlungsleitend. Als die Landgrafen mit dem Tod Heinrich Raspes 1247 als Stütze ausfielen, gerieten auch die Brandenburger stark unter Druck. Den zunehmenden Verlusten ihrer Besitzungen folgte schließlich die Rangminderung. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts hörten sie auf den Grafentitel zu führen. Im 14. Jahrhundert sind sie noch als Amtleute auf der einstmals von ihnen beherrschten Wartburg zu finden, ehe sich ihre Spur zu Beginn des 15. Jahrhunderts verliert.
Im letzten Kapitel des Buchs unternimmt der Verfasser den Versuch, die Ergebnisse in einen weiteren Kontext zu stellen. Hierbei tritt das Potential landesgeschichtlicher Arbeiten für die Erklärung allgemeingeschichtlicher Phänomene zu Tage; gleichzeitig aber wird auch deutlich, dass dieses Potential in der vorliegenden Arbeit nur begrenzt ausgeschöpft wurde. Die wichtige Beobachtung, dass entgegen bisheriger Ansichten auch in Thüringen der Adel eine kooperative Rolle in der Ausbildung fürstlicher Herrschaft spielen konnte, hätte über einen Vergleich mit den bestehenden Studien zu anderen thüringischen Adelsfamilien auf breitere Basis gestellt werden können. In diesem Zusammenhang hätte dann z. B. die Frage intensiver diskutiert werden können, inwieweit sich solche Verbindungen auf den sozialen Status der involvierten adeligen Familien auswirkten; hatte dies generell eine 'Sogwirkung' nach oben zur Folge, oder sind die beiden Thüringer Beispiele eher Ausnahmen? Auch die ganz grundsätzliche Frage, warum diese Familien im 12. Jahrhundert fassbar werden, wird nicht näher behandelt. War dies eine Frage von z. B. zunehmender Schriftlichkeit oder sich wandelnder Herrschaftsstrukturen oder beidem? In diesem Kontext hätten die in mühsamer Kleinarbeit rekonstruierten Geschlechter mit ihren Besitzverhältnissen auf ihre Familienstruktur(en) hin untersucht werden können. All dies hätte zu einer fruchtbaren Diskussion der in Deutschland in der Nachfolge Karl Schmids und in Frankreich in der Nachfolge Georges Dubys geleisteten Arbeiten zur Entwicklung herrschaftlicher Strukturen im 11. und 12. Jahrhundert führen können. Und schließlich hätte die Option offen gestanden, das Material unter Einbeziehung anderer Studien unter der Fragestellung adeliger Gruppenbildung zu untersuchen.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es ist weder zu verlangen noch zu erwarten, dass sämtliche genannte Punkte in einer Dissertation berücksichtigt werden. Der Verfasser hat sein Ziel klar formuliert und erfolgreich umgesetzt. Dies gilt es in allererster Linie zu honorieren. Und doch möchte man den landesgeschichtlich orientierten Arbeiten Mut machen, die eigene, mühsam geleistete Grundlagenforschung auch und gerade im Hinblick auf übergreifende Fragestellungen intensiver zu nutzen. Denn woran lassen sich Thesen besser entwickeln als am konkreten, detailliert erarbeiteten Beispiel?
Jörg Peltzer