Horst Erlich: Die Kadettenanstalten. Strukturen und Ausgestaltung militärischer Pädagogik im Kurfürstentum Bayern im späteren 18. Jahrhundert (= Geschichtswissenschaften; Bd. 17), München: Utz Verlag 2007, XXII + 371 S., ISBN 978-3-8316-0677-1, EUR 71,00
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Mit seiner Dissertation will Horst Erlich die kurbayerischen Kadettenanstalten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts "in Bezug auf ihre Einbindung in die politischen, gesellschaftlichen und schulischen Verhältnisse Bayerns" darstellen. Nach einem knappen Vorwort, in dem der Verfasser sich als Polizeidirektor und Kommandeur einer Ausbildungsabteilung des Bundesgrenzschutzes im Ruhestand beschreibt und seinen Betreuern und Gutachtern dankt, folgt auf das Inhaltsverzeichnis ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Weniger diese seit Langem ungewöhnliche Platzierung im Buch verblüfft, als dass die Studie offensichtlich auf den Anschluss an die neueste militärhistorische Forschung verzichtet. Das Literaturverzeichnis nennt keinen einzigen Titel aus dem "Bulletin des Arbeitskreises Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit" oder aus der "Zeitschrift Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit". Die Schriftenreihe "Herrschaft und soziale Systeme aus der Frühen Neuzeit", die der "Arbeitskreis für Militärgeschichte" seit dem Jahr 2000 herausgibt, wird nur indirekt als Erscheinungsort für einen Aufsatz von Michael Reif zur Bedeutung der Konfession im kurbayerischen Heer genannt. Obwohl der Verfasser sich in seinem Text immer wieder mit dem Adel befasst, hat er auch die neueren Forschungen zur Adelsgeschichte gänzlich unberücksichtigt gelassen.
Daher ist der Leser nach der vorangestellten Lektüre des Literaturverzeichnisses bereits gespannt, welche konzeptionelle Disposition die Einleitung für das Thema der Abhandlung präsentiert. Der Verfasser beginnt mit einer Definition des Begriffs "Kadett", die über lexikalische Ansprüche nicht hinausgeht. Anschließend unterrichtet er kursorisch über die "Kadettenkorps des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa". Die wissenschaftliche Fragestellung der Studie enthält der zweieinhalbseitige Einleitungsabschnitt "Ziele und Schwerpunkte der Arbeit". Obwohl der erste Satz dieses Einleitungsteils die oben bereits zitierte sozialhistorische Verankerung des Themas reklamiert, erläutert Erlich unmittelbar anschließend, mittels einer Positionsanalyse ließen sich keine sonderlich aussagekräftigen Ergebnisse über die Kadetten und ihren Werdegang als Offiziere ermitteln. Dem lässt sich wohl unbedenklich zustimmen. Dennoch sollte das Problemfeld, wie sich Adeligkeit innerhalb einer teils auch nichtadelig besetzten Lehranstalt mit weithin nichtadeligen Lehrern aufrecht erhalten werden konnte, nicht aus dem Blickfeld geraten. Bindekräfte einer Sozialformation, die nicht durch Normen, wie zum Beispiel einen Adelsnachweis, abgesichert sind, können auch durch solche Kohäsionsmechanismen aufrechterhalten werden, die nicht durch das Reglement einer Institution erfasst werden. Eine adelsspezifische Perzeption der sozialen Umwelt etwa lässt sich aufgrund von Tagebüchern, Briefen und anderen persönlichen Quellenbeständen rekonstruieren. Auf einen solchen Zugriff verzichtet Erlichs Studie komplett. Sie fragt stattdessen nach der Einordnung der Kadettenanstalten in die Bildungsgeschichte Bayerns, erwägt den Nutzen der Offiziersanwärterausbildung für die Armee und für die Stabilisierung des sozialen Status von Kindern nicht vermögender Militärs und Adeliger. Außerdem geht die Abhandlung deskriptiv der "Unterbringung, Verpflegung und Uniformierung" der Kadetten nach, beschreibt "Lernmittel" und "finanzielle Zuschüsse [...] [zu] Vakanzreisen, Preisverleihungen und Kommandierung" und schildert "Hinweise auf die konkreten Lebensbedingungen der Kadetten, Personal- und Disziplinierungsangelegenheiten sowie Unfälle". Dem Kauf von Offiziersstellen widmet der Verfasser schon in der Einleitung die Erwägung, dass diese Praxis unter den Zöglingen der Kadettenanstalten Resignation und Gleichgültigkeit verursacht habe, da sie ihnen trotz besserer Ausbildung Aufstiegschancen verstellte. Das insgesamt geringe Ansehen der bayerischen Armee ergab sich nach Erlichs Ansicht daraus, dass noch 1792 bei der Rekrutierung der Soldaten "sogar auf asoziale Elemente in der Bevölkerung" zurückgegriffen wurde. Denn leider "sei der Eintritt in die kurbayerische Armee aus patriotischen Gründen [...] Illusion" geblieben. Auf eine tiefgründigere Auseinandersetzung mit der Truppenanwerbung im ausgehenden 18. Jahrhundert, wie sie etwa Stefan Kroll für Kursachsen vorgelegt hat, verzichtet die Studie ebenso wie auf eine Analyse des zeittypischen Verständnisses von Patriotismus.
Nachdem der Verfasser die heutige Historiographie mit der Behauptung abgetan hat, dass "die ältere Literatur [...] in Bezug auf die militärhistorische Forschung immer noch den Standard" setze, begrenzt er sein Thema ohne Argumentation auf das kurfürstliche Kadettenkorps (1756-1778), die Herzoglich Marianische Landesakademie (1778-1789) und die kurpfalzbayerische Militärakademie (1789-1805). Seine Entscheidung gegen eine thematische und für eine chronologische Darstellung begründet er damit, dass er ansonsten eine "Vielzahl zeitbezogener Begebenheiten und Feststellungen" hätte unerwähnt lassen müssen. Entsprechend vielfältig und variabel gestalten sich die folgenden drei Kapitel des Hauptteils, die dennoch stets den Diskurs um die Gründung der drei Anstalten, die Anstellung des Lehr- und Dienstpersonals sowie die Auswahl und soziale Herkunft der Kadetten abhandeln. Die übrigen Inhalte der Kapitel variieren offensichtlich der Quellenlage entsprechend und erweisen sich insgesamt als ein rein zeitlich sortiertes Agglomerat von Quellenrapporten. Für die drei bayerischen Kadettenanstalten des 18. Jahrhunderts zeigt sich durchgängig, dass sie weniger den Ausbildungsstand des Offizierskorps anzuheben vermochten als Bildungschancen auch außerhalb des Militärs zu eröffnen. Ob dies unumgänglich notwendige Konzessionen an eine nur beschränkt verfügbare gesellschaftliche Führungsformation waren, wie man mit Maurice Halbwachs vermuten könnte, kalkuliert die Studie nicht. Wie wenig dem Verfasser an einer historiographischen Fragestellung gelegen war, zeigt seine "Schlussbetrachtung", die im ersten Teil lediglich eine Peroratio des Hauptteils darstellt und danach zum Abschluss eine Skizze über das königlich bayerische Kadettenkorps von 1805 bis 1920 bietet. Die Abhandlung schließt mit der Bemerkung, dass es seither "in Deutschland keine militärisch geführten und ausgerichteten Ausbildungs- und Erziehungsanstalten" nach Art der Kadettenanstalten mehr gegeben habe. Es bleibt die Vermutung, der Verfasser habe implizit aber ohne adäquate methodische Reflexion der Illusion angehangen, eine totale Geschichte einer historischen Institution schreiben zu können.
Josef Matzerath