Tilmann Matthias Schröder: Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 67), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, 561 S., ISBN 978-3-515-09222-7, EUR 90,00
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200 Jahre sind seit der Geburt von Charles Darwin vergangen. Nicht nur in seinem Gedenkjahr ist die Evolutionslehre Gegenstand heftiger weltanschaulicher Diskurse zwischen biblizistischer Literalinterpretation der Schöpfungsgeschichte und "Intelligent Design". Mit Darwin und den Folgen setzt sich die zu besprechende Tübinger Habilitationsschrift von Tilman Matthias Schröder auseinander. Es geht um das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie, näherhin um die Rezeption von Theologie unter den deutschen Naturwissenschaftlern und um die Rezeption von Naturwissenschaft unter den evangelischen Theologen vor allem in der Zeit des Kaiserreichs.
Schröder beginnt seine Studie mit einem ausgezeichneten knappen Überblick über die Protagonisten und wesentlichen Entwicklungen in den einzelnen naturwissenschaftlichen Fächern während des 19. Jahrhunderts, welche durch den Ausbau der universitären Forschung und Lehre verstärkt wurden. Lorenz Oken gab den Anstoß zur Gründung der "Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte", die sich seit 1822 an wechselnden Orten zu Jahresversammlungen traf. Auf diesen Treffen stand der "Tempel der Wissenschaft" (51) gegen Kirche und Religion. Eine erste Kontroverse entzündete sich am "Materialismusstreit" und den Vertretern eines naturwissenschaftlichen Materialismus: Ludwig Büchner, Jakob Moleschott und Karl Vogt. Rudolf Virchow, der die Versammlungen im dritten Viertel des Jahrhunderts dominierte, sah die Naturwissenschaften als Einheitswissenschaften an. Seine Polemik richtete sich nicht nur gegen den Katholizismus. Hermann von Helmholtz war weniger polemisch, doch auch für ihn war die Zeit der Naturwissenschaften gekommen. Der aus einer Hugenottenfamilie stammende Emil Du Bois-Reymond hingegen öffnete mit seiner Rede "Ueber die Grenzen des Naturerkennens" von 1872 das Tor für einen "methodischen Materialismus" bei gleichzeitiger Ablehnung des naturwissenschaftlichen Weltanschauungsanspruchs. "Ignoramus - Ignorabimus" wurde zum von der Theologie begierig aufgegriffenen Schlagwort, das einen Dialog anzubahnen schien. Dieser Dialog wurde jedoch durch die Darwin-Rezeption erschwert. Es war besonders Ernst Haeckel, der die Evolutions- gegen die Schöpfungslehre stellte. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts sorgten die "Neo-Vitalisten" dafür, dass wieder eine Brücke zur Theologie möglich wurde.
Den zweiten Teil seiner Studie widmet Schröder der Reaktion der evangelischen Theologie auf die Herausforderung durch die Naturwissenschaften. Die Auseinandersetzungen um die Weltentstehungslehre, um die Immaterialität der Seele und die Möglichkeit von Wundern machten deutlich, dass es um das christliche Weltbild an sich ging. Darwins Thesen, anfangs apologetisch abgelehnt, versuchte der Greifswalder Kirchengeschichtler Otto Zöckler zu einer Synthese zu bringen, wogegen Albrecht Ritschl und Wilhelm Hermann eher um Grenzziehungen bemüht waren. Schröder zeigt an vielen weiteren Beispielen, wie schwer sich die evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts tat, die Entwicklungslehre Darwins mit der biblischen Schöpfungslehre zu verbinden. Als 1899 Ernst Haeckel seine "Welträthsel" veröffentlichte, wechselte die Diskussionsebene. Haeckel vertrat in diesem Buch eine neue Weltanschauung. Der Monismus wurde zur Religion. Doch die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen Werke von Arthur Titius, Rudolf Otto und Karl Heim zeigten, dass sich eine Phase des Aufeinander-Zugehens anbahnte.
Im dritten Teil geht Schröder auf die Popularisierung der Naturwissenschaften durch Zeitschriften, naturkundliche Vereine und öffentlich geführte Diskussionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Zunehmend kamen dadurch auch religiöse Züge in die wissenschaftlichen Debatten. Die "Lichtfreunde" waren nach 1841 die erste protestantische freireligiöse Bewegung. Die verschiedenen Gruppen schlossen sich 1880/81 zum Internationalen bzw. Deutschen Freidenkerbund zusammen. Unter den vielen freidenkerischen Gruppen hatte der selbst nur wenige Jahre bestehende "Giordano-Bruno-Bund" die größte Nachwirkung: 1906 gründete der zwei Jahre zuvor auf dem Internationalen Freidenker-Kongress in Rom zum "Gegenpapst" ausgerufene Ernst Haeckel in Jena den Deutschen Monistenbund. Zahlenmäßig blieb der Bund auf wenige Tausend Mitglieder beschränkt. Doch er löste eine apologetische Welle im Protestantismus aus, die sich vor allem gegen Haeckels "Welträtsel" richtete. Der von Eberhard Dennert ins Leben gerufene Keplerbund hatte sich naturwissenschaftliche Volksaufklärung auf die Fahne geschrieben. Bernhard Bavink gelang es, ihn zu einem Forum des Dialogs zwischen den Naturwissenschaften, der Philosophie und der Theologie zu machen.
Die Arbeit von Tilman Schröder liefert einen präzisen Durchblick durch eine Phase protestantischer Theologiegeschichte. Die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften als Leitdisziplinen des 19. Jahrhunderts stellte die theologischen Traditionen in Frage. In der Abkehr der Naturwissenschaften von der Naturphilosophie der Aufklärung und des Deutschen Idealismus sah die protestantische Theologie ihre Meinungsführerschaft in Gefahr. Der Diskurs wurde allerdings weniger auf der theologischen als auf der weltanschaulichen bzw. apologetischen Ebene geführt. Ziel war zunächst, an einer Synthese von Christentum und Naturwissenschaften festzuhalten. Ab 1900 trat dann das Modell der Ergänzung in den Vordergrund: die Theologie müsse die Lücken der Naturwissenschaften füllen. Doch war manchen Theologen, wie Albrecht Ritschl, durchaus klar, dass ein tiefer Graben zu den Naturwissenschaften kaum zu überwinden sei. So kann Schröder seine lesenswerte Studie, die gleichzeitig Naturwissenschafts- und Theologiegeschichte ist, mit dem Ergebnis schließen: "Viel stärker als von den meisten Naturwissenschaftlern vermutet, hat die protestantische Theologie am Ende des Kaiserreiches die Selbständigkeit und 'Normalität' der Naturwissenschaften akzeptiert" (495).
Schröders Studie ist gerade im Darwin-Jahr 2009 hoch aktuell. Sie gibt Naturwissenschaftlern und Theologen einen profunden Einblick in die nicht nur fachlichen Kontroversen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie hilft auch, manche Aufgeregtheiten im gegenseitigen Verhältnis zu verstehen und einzuordnen.
Joachim Schmiedl