Boris Spix: Abschied vom Elfenbeinturm? Politisches Verhalten Studierender 1957-1967. Berlin und Nordrhein-Westfalen im Vergleich, Essen: Klartext 2008, 722 S., ISBN 978-3-89861-966-0, EUR 49,00
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Hinter Boris Spix liegt ein Mammutunternehmen: Für seine Dissertation hat er elf Jahre lang Dachböden, Schlosskeller und Getreidespeicher durchforstet, 25 Archive besucht, 65 Zeitungen oder Zeitschriften ausgewertet und 23 Zeitzeugengespräche geführt. Resultat dieser Recherchen sind rund 700 Seiten empirisch dichte Beschreibung, die der Autor mit dem Ziel verfasst hat, mit vorherrschenden Meinungen aufzuräumen. So hinterfragt er in zwölf Kapiteln das tatsächlich erstaunlich langlebige Narrativ einer in den 1950er und frühen 1960er Jahren überwiegend unpolitischen Studentenschaft, die sich erst nach dem Tod ihres Kommilitonen Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 radikalisiert habe.
Dass sich diese Sichtweise so lange halten konnte, hat mehrere Gründe. Erstens wurde die These von der scheinbar unpolitischen Haltung der studentischen Jugend Anfang der 1960er Jahre von der frühen westdeutschen Sozialforschung untermauert und seither eher selten angezweifelt. Zweitens stricken ehemalige Protagonisten der "68er"-Bewegung seit nunmehr vierzig Jahren beharrlich am eigenen Mythos, nach dem sich die Welt erst Ende des Jahrzehnts in Bewegung gesetzt habe. Und drittens trug auch die zeitgeschichtliche Forschung mit der Verschiebung des Fokus' von den "68er" zu den "langen 1960er" Jahren ihren Teil dazu bei, dass die Studentenschaft als Träger gesellschaftlicher Veränderungen insgesamt immer weiter aus dem Blickfeld rückte. Bisher liegen daher kaum historisch gesicherte Erkenntnisse zu der Frage vor, wie politisch oder unpolitisch die angehenden Akademiker in der Ära Adenauer/Erhard eigentlich gewesen sind - eine Forschungslücke, deren Schließung wiederholt angemahnt worden ist. [1] Mit einem Vergleich der Studentenschaft in Nordrhein-Westfalen und Berlin zwischen 1957 und 1967 hat Spix diese Forderung nun zu großen Teilen eingelöst.
Methodisch gelungen ist die Kombination quantifizierender und qualitativer Verfahren. So hat der Autor für jedes der potenziell politisierend wirkenden Felder - angefangen bei der Auseinandersetzung um das politische Mandat über die deutsche Frage bis hin zur Beschäftigung mit der Dritten Welt, dem Nationalsozialismus, der Kritischen Theorie und der Hochschulreform - das Kunststück fertiggebracht, deren prozentualen Anteil an allen politischen Beiträgen entweder in den Studentenparlamenten oder in maßgeblichen studentischen Zeitschriften zu berechnen. Diese Leistung kann gar nicht hoch genug geschätzt werden, zumal nicht weniger als sieben Universitäten und zwölf studentische Gruppierungen im Untersuchungszeitraum berücksichtigt wurden. Dort, wo die quantifizierende Methode an ihre Grenzen stieß, wurde sie um qualitative Verfahren ergänzt.
Auf diese Weise kommt Spix zu ausgesprochen interessanten Befunden: So kann er zeigen, dass die Studierenden in seinem Untersuchungsraum bereits ab 1957 von einem ersten Politisierungsschub erfasst wurden. Verantwortlich dafür war nicht etwa eine durch die beginnende Bildungsexpansion veränderte soziale Zusammensetzung der Studenten - diese blieb trotz des enormen Zustroms über die Jahrzehnte hinweg erstaunlich konstant. Vielmehr führte in konservativen studentischen Gruppen die Auseinandersetzung um die deutsche Wiedervereinigung zu Demonstrationen, Geldsammlungen und Resolutionen. In linksliberalen Studentenverbänden sorgte dagegen die drohende atomare Bewaffnung der Bundeswehr für erste Aktionen. Politisches Engagement vollzog sich in einer ersten Phase bis 1961 also nicht nur unter weltpolitisch-pazifistischen Vorzeichen, sondern auch unter nationalstaatlich-konservativen Auspizien. Damit löst Spix den Begriff der Politisierung aus seiner bisherigen "linken" Engführung und verhilft gleichzeitig alternativen Thematisierungsagenten des Politischen zu ihrem Recht.
In einem zweiten Abschnitt bis 1965 konstatiert Spix eine "Entpolitisierung" (679), eine "Phase politischer Passivität", in der ein "Schwenk von rechts nach links" vorbereitet worden sei. Diese "intellektuelle Neuorientierung" (681) habe sich in einer dritten Phase seit 1965 an der FU Berlin, ab 1966 in Bonn und seit 1967 an allen anderen untersuchten Hochschulen mit neuen Aktionsformen Bahn gebrochen. An diesem Versuch einer Synthetisierung der zuvor ausführlich dargestellten empirischen Befunde ist allerdings Kritik anzumelden: Hier rächt sich, dass der Autor seinen Politisierungsbegriff zwar definitorisch gekonnt differenziert, letztlich aber das politische Verhalten Studierender stets an den Erscheinungsformen des Politischen während seines Kulminationspunkts Ende der 1960er Jahre misst. Massive Kritik auch konservativer Studierender an den Moralvorstellungen der katholischen Kirche, die studentischen Verdienste im Rahmen der inneruniversitären Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie Forderungen nach einer Demokratisierung von Hochschule und Gesellschaft seit Beginn der 1960er Jahre haben so in Spix' Deutungsrahmen keinen Platz. Anders herum müssen gerade vor der Passivitätsthese des Autors besonders grell abstechende Ereignisse fast zwangsläufig marginalisiert werden. So behandelt Spix den spektakulären Rücktritt des Bonner AStA 1960 sowie die Massendemonstrationen zum 1. Juli 1965 nur am Rande und erwähnt einen Sitzstreik von angeblich besonders unpolitischen weiblichen Studierenden vor dem Düsseldorfer Kultusministerium zu Beginn des Jahrzehnts mit keiner Silbe.
Dass der Autor auf diese Weise dem Thema innewohnendes Erkenntnispotenzial vergibt, ist schade. Besonderes Gewicht haben diese kleineren Schwächen der Studie aber nicht, zumal sich jeder Leser sein eigenes Bild vom stetig steigenden Politisierungsgrad der Studentenschaft machen kann. Schwerer wiegt da die Tatsache, dass Spix die Radikalisierung der Studierenden ab etwa 1965 nur negativ, das heißt primär über Konflikte mit universitären und staatlichen Stellen, erklärt. Positive Politisierungsphänomene, wie sie beispielsweise in der studentischen Adaption von Forderungen anderer gesellschaftlicher Gruppen, namentlich linksliberalen Dozenten und Assistenten nachzuweisen sind, bleiben somit außen vor. Auch die Impulse, die die Reformbemühungen der Politik insbesondere im Hochschulbereich seit dem ersten Drittel der 1960er Jahre für die Studenten lieferten, sind in dieser methodischen Verkürzung ausgeblendet. Zudem beraubt sich der Autor durch die Begrenzung des Untersuchungszeitraums bis zum Jahr 1967 der Möglichkeit, die strategische Dimension der Studentenrevolte aufzudecken. So verkennt Spix, dass die Radikalisierung der Bewegung weniger von außen beeinflusst als vielmehr "68"-immanent war.
Dennoch ist das Buch uneingeschränkt zu empfehlen, bietet es doch anhand ausgewählter Beispiele eine empirisch fundierte, theoretisch versierte und wohltuend differenzierte Analyse der Wandlungsphänomene in der westdeutschen Studentenschaft. Damit hebt sich die Studie nicht nur von anderen Publikationen zum 40. Jahrestag der Revolte positiv ab. Sie löst auch voll und ganz den Anspruch ein, den der Autor sich selbst gesetzt hat: Die Grundlage zu liefern für einen "systematischeren Vergleich der Studentenbewegung in der Bundesrepublik mit den Entwicklungen in anderen Ländern." (12)
Anmerkung:
[1] So zuletzt Axel Schildt: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007.
Anne Rohstock