Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte (= C.H. Beck Wissen; 2448), München: C.H.Beck 2008, 128 S., 2 Karten, ISBN 978-3-406-56248-8, EUR 7,90
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Die Konjunktur von Themen lässt sich gut daran ablesen, wie stark sie in den Einführungsreihen großer Verlage repräsentiert sind. Augenfällig ist das etwa für das Thema deutsche Kolonialgeschichte. Über zwei Jahrzehnte hinweg war es Horst Gründer, der Studierende, Lehrende und Interessierte mit dem Standard für den schnellen Überblick versorgte [1] und sich außerdem durch die Herausgabe von Versionen, die mit Quellen angereichert bzw. fürs nicht-wissenschaftliche Publikum aufbereitet waren, ein gewisses Monopol auf das Thema sicherte. Mit dem wachsenden publizistischen und wissenschaftlichen Interesse an Deutschlands vergangenem Engagement in Übersee wird Gründer allerdings der Rang streitig gemacht: 2005 komprimierte Winfried Speitkamp die deutsche Kolonialgeschichte in ein Reclam-Bändchen [2], und nun legt der Beck-Verlag in seiner ähnlich kleinformatigen Reihe "Wissen" nach: mit einem schlicht "Deutsche Kolonialgeschichte" betitelten Büchlein des Historikers Sebastian Conrad. Dabei wird die Kürze der Darstellungen stetig unterboten: Wartete Gründers rotes UTB-Buch noch mit immerhin 300 Seiten auf, brauchte Speitkamp ein Drittel weniger, und der neueste Beitrag Conrads begnügt sich mit gespenstischen hundert-und-etwas Seitchen. Kann so etwas Dünnes taugen? Und noch dazu Neues liefern?
Ja, es kann! Und zwar deshalb, weil das Büchlein drei Grundpfeilern folgt, die sich auch in anderen Conradschen Veröffentlichungen beobachten lassen: erstens einer expliziten globalgeschichtlichen Betrachtung - hier des deutschen Kolonialismus; zweitens der Anwendung von Perspektiven aus den postcolonial studies; und drittens folgt der Band einer formalen Tendenz in Conrads Werk, die ihm bisweilen Kritik einbrachte, hier aber am rechten Platz ist, nämlich der Privilegierung eines analytischen Blicks und großer Thesen gegenüber empirischer Detailarbeit. Deshalb: Wer den Gegenstand nur aus der Ferne kennt und eine konventionelle Darlegung der Entwicklung, infrastrukturellen und politischen Daten zur deutschen Kolonialgeschichte sucht, wird enttäuscht sein und greife lieber zu Gründers und Speitkamps erstklassigen Arbeiten. Wen allerdings ein neuer Blickwinkel auf das Thema reizt, dem sei Conrads Werk wärmstens empfohlen.
Denn Inhalt und Aufbau der Einführung folgen dem "weiten Kolonialismusbegriff", für den aktuell viele innerhalb der transnationalen Geschichtsschreibung plädieren. Er wird nicht entlang der Grenzen des formalen Kolonialreichs definiert, erläutert Conrad in der Einleitung, sondern er sprengt einerseits die konventionelle nationale Rahmung - zugunsten der Betonung von Bezügen zwischen dem deutschen Kolonialreich und anderen Kolonien bzw. kolonisierenden Staaten; und er schließt andererseits, einem postkolonialistischen Interesse folgend, koloniale Phantasien und Erinnerungen ein, die zeitlich vor oder nach der kolonialen Ära zu verorten sind. Schließlich kündigt Conrad an, - in noch klassischerer Anwendung von postcolonialism - nach den Rückwirkungen des kolonialen Unterfangens auf die deutsche Gesellschaft zu fragen.
Dementsprechend gestaltet sich die Rahmung der Darstellung: Das erste Kapitel nach der Einleitung, "Kolonialismus vor dem Kolonialismus", führt nicht etwa in die Kolonialbewegungen am Vorabend der kolonialen Eroberungen ein, sondern weist darauf hin, dass von deutschen Gebieten ausgehende koloniale Ambitionen bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen - mit Niederlassungen der Welser in Venezuela und ein Jahrhundert später Brandenburg-Preußens in Westafrika.
Auch in den Kapiteln, die als letztes Drittel die Darstellung abrunden, finden sich aus früheren Publikationen Conrads vertraute Schlagwörter, etwa "Rückwirkungen" und "innerer Kolonialismus": Für einen Einführungsband erfrischend unkonventionell ist, dass die Beziehungen zwischen Kolonien und Metropole nicht nur mit dem Transport kolonialer Bilderwelten illustriert werden, sondern auch mit Ausführungen dazu, dass die Zivilisierungsmission neben ihrer außereuropäischen Dimension auch eine metropolitane aufwies. Sie richtete sich nämlich auch auf unterprivilegierte Gruppen in Deutschland selbst. Auch neu ist, dass die aktuelle Debatte um die Frage nach Ähnlichkeiten zwischen dem Übersee-Kolonialismus und der Politik Preußens in seinen Ostprovinzen vor 1914 sowie der nationalsozialistischen Ostexpansion in den Kanon einer Einführung integriert wird, ebenso wie die Diskussion um Kontinuitäten zwischen deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus. Dabei nimmt Conrad den gegen die postcolonial studies gerichteten Vorwurf der Ausblendung struktureller Faktoren ernst, indem er nicht nur auf die Ähnlichkeiten zwischen den genannten Phänomenen hinweist, sondern ebenso deutlich auf Unterschiede nicht nur rhetorischer, sondern auch rechtlicher und institutioneller Natur. Auch das Schlagwort "Transnationalismus" darf in einem Conradschen Werk nicht fehlen: Es wird veranschaulicht, dass Deutschland um 1900 in grenzüberschreitend funktionierende Rhetoriken der Modernisierung sowie in eine global wirksame koloniale Ordnung eingebunden war.
Soweit zum argumentativen Rahmen des Buchs. In dessen Kern kündigen die Kapitelüberschriften erwartbarere Themen an, etwa einen Abriss über die Akteure hinter der kolonialen Expansion und einen Überblick über die deutschen kolonialen Besitzungen. Die - angesichts des Gesamtformats sehr knapp ausfallenden - Ausführungen zu jeder Kolonie legen den Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Erschließung und Bedeutung des jeweiligen Gebiets für das Kaiserreich, erwähnen aber auch zentrale Konflikte und Kriege.
Die übrigen Abschnitte fallen unkonventioneller aus, als ihre Titel es versprechen. Conrads Ausführungen zum kolonialen Staat etwa klären nicht über die Gliederung der Kolonialadministration auf, sondern liefern Erläuterungen zu vier als charakteristisch für den kolonialen Staat begriffenen Merkmalen: dem Aufbau von Herrschaft auf lokal bereits vorhandenen Infrastrukturen, dem fragmentären Charakter kolonialer Herrschaft, der Schwäche des kolonialen Staates aufgrund mangelnder Legitimität in der Bevölkerung, schließlich dem Rückgriff auf Gewalt. Ähnlich arbeitet Conrad in nachfolgenden Kapiteln eher Grundstrukturen heraus, als dass er konkrete Politiken benennt, etwa in Bezug auf "Wirtschaft und Arbeit" (z.B. die Aneignung lokaler Produktionsstrukturen und die Umwälzung lokaler Formen der Arbeitsteilung). Die Abschnitte zur kolonialen Gesellschaft und zu "Wissen und Kolonialismus" eignen sich deutlich die stark poststrukturalistische Perspektive neuerer kulturgeschichtlicher Veröffentlichungen zum Thema Kolonialismus an: Das Herstellen von Differenz zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, die Zivilisierungsmission als ideologischer Kern der Kolonialherrschaft und koloniale Beherrschung durch das Generieren von Wissen stehen im Fokus der Beschreibungen.
Ganz klar: Ausführungen etwa zur Struktur des kolonialen Rechts- oder Bildungssystems müssen woanders nachgeschlagen werden. Was Conrads Büchlein vor allem leistet, ist, weitgehend bekannte Befunde in neuen Zusammenhängen zu präsentieren, nämlich durch eine gelungene Anwendung der vorwiegend angloamerikanischen Forschung zu Kolonialismus. Damit ersetzt das Büchlein keineswegs bisherige Einführungen, sondern ergänzt diese dichten Arbeiten um eine äußerst kurzweilige Anleitung zu einer globalgeschichtlichen und postkolonialen Perspektive auf deutsche Kolonialgeschichte. Dünner sollten solche Anleitungen freilich nicht werden.
Anmerkungen:
[1] Horst Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien. 5., aktual. Auflage, Paderborn u.a. 2004.
[2] Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte. Stuttgart 2005. Vgl. hierzu die Rezension von Jens Ruppenthal, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [9.9.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/09/8677.html.
Manuela Bauche