Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 24), München: Oldenbourg 2008, 460 S., ISBN 978-3-486-58583-4, EUR 64,80
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An den Anfang seiner Studie stellt Graf eine aufwändige Publikation aus dem Jahr 1928, in der sich etwa 700 politische, wirtschaftliche, künstlerische und intellektuelle "Köpfe der Gegenwart" über "Deutschlands Zukunft" äußerten. Dieses damals wie heute kaum beachtete Buch ist für Graf deshalb zentral, weil die gesamte Spannbreite des politischen, intellektuellen und künstlerischen Lebens der Weimarer Republik erfasst wurde und außer den Kommunisten und den Nationalsozialisten Persönlichkeiten aller politischen Richtungen ohne Vorgaben die Gelegenheit erhielten, sich zum Thema "Zukunft" zu äußern. Überraschend ist, dass sich keine einzige pessimistische Äußerung findet, sondern der Blick durch einen erheblichen Optimismus geprägt war. Selbst Rechtskonservative, die die Republik mit überaus scharfen Worten ablehnten, blickten z.T. mit überschäumenden Erwartungen in die Zukunft und hofften auf eine bald kommende große Zeit.
Von dieser Publikation ausgehend stellt Graf die Frage nach dem Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik. Graf verfügt über ein hohes Problembewusstsein, ausgezeichnete theoretische Kenntnisse und vermeidet den typischen Fehler des Übertheoretisierens, der einige vergleichbare diskurstheoretische Studien prägt. Seine Hauptquellen sind Presseartikel unterschiedlichster politischer Provenienz. Der Anspruch, durch die Untersuchung von etwa 640 Autoren, die sich in irgend einer Weise mit der Zukunft beschäftigt haben, nicht die großen Geister, sondern das mittlere intellektuelle Niveau zu erschließen, wird allerdings nicht ganz eingelöst, denn in der Folge werden dann doch vor allem diejenigen bekannten Namen zitiert, die in den jeweiligen politisch fragmentierten Lagern die intellektuelle Meinungsführerschaft beanspruchten und innehatten. Dies ist jedoch kein wirklicher Nachteil, denn die Zielgruppe, für die diese Autoren schrieben, dürfte ungefähr demjenigen Niveau entsprochen haben, das Graf vor Augen hat.
Graf kommt zu einigen ebenso überraschenden, wie überzeugenden Schlüssen. Besonders die Kapitel über Zukunftsaneignungen, die nicht die denkenden Akteure, sondern generell Topoi von Erwartungen und Stereotypen untersuchen, betreten methodisches und inhaltliches Neuland. Auch diejenigen Kapitel, die die Frage nach den Brüchen und Kontinuitätslinien in den Zukunftserwartungen stellen, sind ausgesprochen stark und orientieren sich an stringenten und stets nachvollziehbaren Fragestellungen. Bei der Untersuchung der Frage, inwieweit die Zeitenwenderhetorik über die politischen Extreme hinaus anschlussfähig war, kommt Graf zu dem Ergebnis, dass gerade die moderaten Autoren die Bipolarität von Evolution und Revolution auflösten, und dass diese Begriffe zunehmend austauschbar wurden. Seiner Auffassung nach deutet dies darauf hin, dass das politische Denken "futurisiert" wurde. Ferner stellt Graf anhand zahlreicher Äußerungen nicht nur aus religiösen Kreisen fest, dass utopische Vorstellungen mehr und mehr an die Wirklichkeit heranrückten, bzw. sich die utopische Intensität deutlich erhöht habe. Zugleich mussten sich aber auch zahlreiche Autoren permanent gegen den Vorwurf des Utopismus rechtfertigen.
Beeindruckend ist die Breite von Grafs Analyse, die tiefsinnige und seriöse Autoren genauso untersucht, wie Lebensreformer und esoterische Gruppen, die Revolutionserwartungen oder unterschiedlichste Vorstellungen vom "neuen Menschen" entwickelten. Die Idee, mitten in einer Epochenzäsur zu stehen, tauchte häufig auf. Da es ferner schwierig ist, die oft vagen Zukunftsvorstellungen miteinander zu vergleichen, entscheidet sich Graf dafür, nicht die konkreten Utopien, sondern den zeitlichen Rahmen der Erwartungshaltungen zu überprüfen. Deshalb analysiert er nach den Kategorien von unbestimmten Zukunftsperspektiven, Hoffen für kommende Generationen, revolutionären Naherwartungen, Stereotypen über die Zukunft in der Gegenwart, sowie das Bild der Sowjetunion und der USA als topisierte Utopien. Daran anschließend werden die jeweiligen Aktivitäten untersucht, die die handelnden Akteure aus ihren Vorstellungen herleiteten. Es überrascht nicht, dass häufig aufseiten der staatsverneinenden Parteien ein zielloser rhetorischer Aktivismus herrschte und zugleich die konkreten Zukunftsvisionen merkwürdig inhaltsleer erscheinen: Glauben, Aktion, Kampf oder die Tat an sich ersetzten konkrete Vorstellungen, wie und zu welchem Zweck die Zukunft eigentlich gestaltet werden sollte. Graf schreibt einen ausgezeichneten, gut lesbaren Stil auf stets hohem theoretischen Niveau. Er verfügt über hervorragende Kenntnisse des Weimarer intellektuellen Lebens, das er mit einigem Mut und eigenständigen Kategorien neu strukturiert.
Bei allen diesen Vorzügen hat das Buch vor allem in der ersten Hälfte jedoch zwei grundsätzliche Schwächen: Erstens werden der Kontext und die jeweiligen Interessenkonstellationen, in denen die Quellen jeweils entstanden sind, fast vollständig ignoriert und zweitens wird das Gegensatzpaar optimistisch-pessimistisch nicht wirklich gleichrangig behandelt. Wenn Hitler erstens seinen Anhängern eine glorreiche Zukunft versprach, kann dies nicht einfach als Beleg für eine grundsätzlich optimistische Sichtweise herangezogen, sondern muss quellenkritisch hinterfragt werden. Der politische Kontext und der Typ der Quellengattung, die jeweils spezifische interpretatorische Probleme aufwerfen, werden kaum ausgeleuchtet. Die Dimension der jeweiligen Interessen und Kontexte, in denen bestimmte Äußerungen in die Öffentlichkeit lanciert wurden, interessiert Graf nicht, kann aber nicht einfach übergangen werden, ohne grundsätzliche methodische Forderungen der historischen Analyse zu verletzen: Die Analyse von reinen Propagandaschriften erfordert ein ganz anderes Instrumentarium als diejenige von intellektuellen Selbstreflexionen etwa eines Karl Barth, eines Ernst Bloch oder eines Paul Tillich.
Graf behandelt zweitens jede Äußerung, in der irgend eine optimistische Erwartung an die Zukunft formuliert wird, als Bestandteil eines positiven Zukunftsdiskurses, um sich von den - für ihn überkommenen - "pessimistischen" und krisenhaften Interpretationen der Weimarer Republik abzusetzen. Dies gelingt ihm auch teilweise, aber zugleich ignoriert Graf fast jede pessimistische Äußerung, die es zwischen 1918 und 1933 auch in großer Zahl gegeben hat, bzw. relativiert diese als spezifische Form einer Zukunftsaneignung. Krisen sind für Graf lediglich narrative Strukturen, die eine komplexe Gegenwart ordnen und damit Handlungsorientierung vermitteln würden - eine Auffassung, die der Rezensent nicht teilt. Diese Schwäche zeigt sich besonders bei der ansonsten durchaus lesenswerten Darstellung der sogenannten konservativen Revolution. Seit Langem ist bekannt, dass Autoren wie Edgar Jung mit ihrer radikalen Rhetorik eine andere und bessere Zukunft erhofften, aber als Voraussetzung hierfür musste die Gegenwart, die schwarz in schwarz gezeichnet wurde, zunächst vollständig vernichtet werden. Georg Friedrich Jünger war bereit, dafür eher nebenbei einige Millionen Menschen zu opfern. Die Dimension dieser Gegenwartskritik wird von Graf nicht wirklich für die Zukunftsrhetorik erschlossen. Dadurch ist das Bild, das er zeichnet, nicht ausgewogen, sondern hochgradig selektiv. Eine anthropologische Konstante in allen Gesellschaften scheint darin zu bestehen, dass selbst in fast aussichtslosen materiellen, sozialen oder politischen Situationen Menschen dennoch dazu tendieren, an eine bessere Zukunft oder an eine Verbesserung ihrer gegenwärtigen Lebensumstände zu glauben. Ein Leser, der diese Einschränkungen, bzw. Kritikpunkte berücksichtigt, wird die intellektuell anregende Studie von Graf dennoch mit Gewinn zur Kenntnis nehmen.
Boris Barth