Otto von Bismarck: Schriften 1877-1878. Bearbeitet von Michael Epkenhans und Erik Lommatzsch (= Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abt. III: 1871-1898. Schriften; Bd. 3: 1877-1878), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, XC + 659 S., ISBN 978-3-506-76525-3, EUR 69,00
Buch im KVK suchen
Otto von Bismarck: Schriften 1879-1881. Bearbeitet von Andrea Hopp (= Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abt. III: 1871-1898. Schriften; Bd. 4: 1879-1881), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, C + 827 S., ISBN 978-3-506-76526-0, EUR 78,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Otto von Bismarck: Schriften 1871-1873. Bearbeitet von Andrea Hopp, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004
Gian Enrico Rusconi: Cavour und Bismarck. Zwei Staatsmänner im Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus, München: Oldenbourg 2013
Robert Gerwarth: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, München: Siedler 2007
Eberhard Kolb: Otto von Bismarck. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2014
Jakob Hort: Bismarck in München. Formen und Funktionen der Bismarckrezeption (1885-1934), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002
Dieter Schott / Michael Toyka-Seid (Hgg.): Die europäische Stadt und ihre Umwelt, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008
Wolfgang Neugebauer: Wozu preußische Geschichte im 21. Jahrhundert?, Berlin: Duncker & Humblot 2012
Otto von Bismarck: Schriften 1890-1898. Bearbeitet von Andrea Hopp, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021
Otto von Bismarck: Schriften 1884-1885. Bearbeitet von Ulrich Lappenküper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011
Otto von Bismarck: Schriften 1882-1883. Bearbeitet von Ulrich Lappenküper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
Der dritte und vierte Band der seit 2004 in der Neuen Friedrichsruher Ausgabe vorgelegten Schriften Bismarcks umspannen die Zeit zwischen 1877 und 1881 und sind damit einer Schlüssel- und Umbruchphase in der Geschichte des Kaiserreichs gewidmet. Sie folgen den sorgfältigen editorischen Grundprinzipien der Reihe, die jedem Band vorangestellt sind (IXf.): So werden etwa die zeitgenössische Interpunktion und Orthografie beibehalten, die Dokumente vollständig wiedergegeben und ihnen jeweils eine Inhaltsangabe vorangestellt, der asketische Fußnotenkommentar beschränkt sich auf sachliche oder begriffliche Erläuterungen und die Bände werden beschlossen durch ein Personen-, aber kein Sachregister. Schließlich ordnen die Bandbearbeiter die Dokumente wieder jeweils ebenso knapp wie umsichtig in die grundlegenden Entwicklungen des behandelten Zeitraumes ein. [1]
Der dritte Band der Schriften versammelt insgesamt 571 Dokumente, von denen lediglich 137 bisher auszugsweise oder vollständig andernorts publiziert worden sind. Damit werden rund drei Viertel erstmals vorgelegt; im vierten Band ist es von 517 Dokumenten etwa die Hälfte, die nun erstmals erscheint. Die bisher unveröffentlichten Schreiben sind insbesondere den Beständen des Bundesarchivs, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes sowie des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz entnommen. Gelegentlich liegen die Originale in den Beständen des Archivs der Otto-von-Bismarck-Stiftung. Die bereits früher publizierten Schriftstücke finden sich ganz überwiegend in den einschlägigen Bänden der Großen Politik der Europäischen Kabinette sowie der Friedrichsruher Ausgabe.
Wie schon im zweiten Band der Neuen Friedrichsruher Ausgabe entstammen viele Schreiben nicht unmittelbar der Feder Bismarcks, sondern sind im Auftrag des Reichskanzlers von engen Mitarbeitern verfasst, neben den Söhnen Herbert und Wilhelm von Bismarck zählen dazu verschiedene Mitarbeiter der Reichskanzlei, des Auswärtigen Amtes sowie der preußischen Verwaltung, etwa auch Lothar Bucher, der später als Privatsekretär maßgeblich an der Niederschrift der Gedanken und Erinnerungen beteiligt war. Die Grundsatzentscheidung, ebenso Schriftstücke anderer Verfasser oder Absender zu berücksichtigen, die auf der Grundlage mündlicher oder schriftlicher Bemerkungen Bismarcks entstanden, entfaltet nun ihre Vorzüge. Denn seit 1877 wandelten sich Arbeits- und Regierungsweisen auf unterschiedlichen Ebenen fundamental. Das hatte zunächst einmal mit der häufigen Abwesenheit Bismarcks aus Berlin zu tun. Zur Erholung und Genesung hielt sich der nun mitunter kränkelnde und mittlerweile über 60-Jährige oftmals auf seinen Gütern in Friedrichsruh und Varzin oder in Kurorten wie Bad Kissingen und Bad Gastein auf. Parallel dazu stieg zudem die Arbeitslast bemerkbar an, da sich der Staats- und Regierungsapparat mit den nach der Reichsgründung wachsenden Aufgaben erheblich ausdifferenzierte: An die Stelle des Reichskanzleramtes waren mit den organisatorischen Veränderungen ab 1879 insgesamt acht Reichsämter getreten.
In den Dokumenten der beiden Bände dominiert wieder die Außenpolitik, die immer auch geleitet war vom cauchemar des coalitions, der tief sitzenden Angst vor einem Bündnis zwischen den kontinentaleuropäischen Flügelmächten Frankreich und Russland. Dessen Realisierung wollte Bismarck auf jeden Fall verhindern. Auf der vorgelegten Quellenbasis kann all dies in Forschung und Lehre nun differenzierter als zuvor in den Blick genommen werden. Das gilt selbst für das berühmte Kissinger Diktat vom 15. Juni 1877, in dem Bismarck seine außenpolitischen Grundvorstellungen entwickelte (Bd. 3, Dok. Nr. 114), die er seiner Umgebung bei verschiedenen Gelegenheiten einschärfte (Bd. 3, Dok. Nr. 516). Im Unterschied zur Großen Politik der Europäischen Kabinette oder zu anderen Publikationen ist dieses Diktat hier vollständig wiedergegeben, samt konkreter Handlungsanweisungen an den Botschafter in St. Petersburg, den Grafen Schweinitz. Mit Händen greifbar ist die Brisanz der bis an den Rand eines großen Krieges führenden orientalischen Frage, vom russisch-türkischen Krieg über den Frieden von St. Stefano im März 1878 bis weit über den Berliner Kongress vom Juni / Juli 1878 hinaus, dessen Protokolle und Materialien bereits seit dem 100-jährigen Jubiläum ediert vorliegen. [2] Die wiederholt in diesen Zusammenhängen zu beobachtende Skepsis Bismarcks gegenüber dem russischen Kanzler Gortschakow rührt gewiss auch noch aus dessen Verhalten in der sogenannten Krieg-in-Sicht-Krise von 1875 her, die sich als schwere diplomatische Schlappe tief in Bismarcks Erinnerungen eingebrannt hatte. Auch den weiteren zentralen außenpolitischen Etappen jener Jahre wie dem deutsch-österreichischen Zweibund von 1879 sowie dem auf zunächst drei Jahre befristeten Dreikaiservertrag vom Juni 1881 zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland lässt sich nun bis in feinste Verästelungen nachspüren. Selbst das imperiale Kolonialzeitalter kündigt sich in nicht allzu weiter Ferne an, wenn etwa Tunesien, Ägypten oder China auftauchen.
Deutlich erkennbar sind in beiden Bänden zugleich auch die untrennbaren Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenpolitik im Denken und Handeln Bismarcks. Neben dem cauchemar des coalitions stand nahezu gleichberechtigt der cauchemar des revolutions. So sah der Reichskanzler etwa ultramontane Einflüsse in Frankreich, aber auch beim österreichischen Kronprinzen Rudolf am Werk (Bd. 3, Dok. Nr. 275). Oder er machte neben der schwarzen und der sozialistischen Internationale nach der sogenannten konservativen Wende von 1878/79 vor allem in Pressekreisen international agierende liberale Netzwerke aus, die er nun auch als "Reichsfeinde" brandmarkte (Bd. 4, Dok. Nr. 240). Die vielen Attentate auf die europäischen Fürsten verschärften zudem das Bedrohungsgefühl durch international agierende Terroristen. Vertiefte Einblicke ermöglichen die publizierten Schriften gleichfalls in die Geschichte der großen innenpolitischen Konfliktherde dieser bewegten Jahre: Zur Sprache kommen die Kanzlerkrise von 1877, der zoll- und wirtschaftspolitische Umschwung von 1878/79, der allmähliche Abbau des Kulturkampfes, die Sozialistengesetzgebung und die Anfänge der Sozialgesetzgebung mit der berühmten Kaiserlichen Botschaft von 1881. Neben diesen harten innenpolitischen Themen erfährt der kulturgeschichtlich sensibilisierte Leser aber auch einiges über die Politikstile und -formen der Zeit. So durchziehen die Schriften mehr oder weniger ernst gemeinte Rücktrittsdrohungen oder das teils intrigante Ringen mit Hofkreisen und dem preußischen Staatsministerium um das Ohr des Kaisers, der in vielen Fällen weit beharrlicher auf seiner Sichtweise bestand, als das dem Kanzler lieb sein konnte.
Alles zusammengenommen enthalten beide Bände zahlreiche erstmals oder erstmals vollständig veröffentlichte Dokumente, die das Bismarckbild weiter differenzieren helfen. Sie halten das hohe Niveau und die große Sorgfalt der Vorgängerbände. Und zu guter Letzt: Vielleicht denken Reihenherausgeber und Verlag doch noch einmal über eine begleitende digitale Version nach. Der Benutzerzahl wäre dies gewiss zuträglich.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu die Rezensionen von Ewald Grothe zu den Schriften Bd. 1, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/12/6123.html, und von Manfred Hanisch zu den Schriften Bd. 2, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/07/7784.html.
[2] Immanuel Geiss: Der Berliner Kongress 1878. Protokolle und Materialien, Boppard am Rhein 1978.
Nils Freytag