Bruno Blondé: Retailers and Consumer Changes in Early Modern Europe. England, France, Italy, and the Low Countries, Tours: Presses Universitaires François-Rabelais 2005, 259 S., ISBN 978-2-86906-211-5, EUR 30,00
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"Halb zog er sie... halb sank sie hin" - so könnte man eine zunehmend "innige Beziehung" von Einzelhandel und Konsumenten charakterisieren. In Retailers and consumer changes in Early Modern Europe beschäftigen sich zwei Ökonomen und zehn Historiker mit einem in unserer Gesellschaft normalen Phänomen: Im Zentrum des Bandes stehen Rolle und Funktion des Einzelhandels als eigentlichem Mittler zwischen Produzenten und Konsumenten, denn das "wheeling and dealing of the local tradesmen" (140) zwischen Kultur bzw. Mentalität und Handelspraktiken sei das aktive, strategische und dynamische Element und Voraussetzung für die Entstehung der modernen Konsumgesellschaft.
Für die Frühe Neuzeit stellt Harm Nijboer in seinem Beitrag eine ökomomisch-rational verursachte Veränderung des Kaufverhaltens vom Kauf im Sinne von Wertaufbewahrung hin zum Kauf im Sinne von verbrauchendem Konsum fest. Bruno Blondé behandelt den Wandel materiell-kultureller Verhaltensmuster der Bürgerschaft Antwerpens als Versagen der Wirtschaft, Einkommensmöglichkeiten für die mittlere Schicht zu schaffen. Clive Edwards erfasst in seiner Untersuchung des Möbeleinzelhandels in England zwischen 1600 und 1800 Händler als "prime movers" (69). Einzelhändler sind, so Edwards, gleichzeitig kommerzielle Anbieter und durch eine gleichsam familiäre Beziehung (69) zum Konsumenten auch Gebieter über den Geschmack - eine Funktion, die vor allem durch Verkäuferinnen ausgeübt wurde. Eugénie Briot befasst sich mit dem Luxusgut Parfüm im Paris des 19. Jahrhunderts. Die verwendete "poésie de commerce" (75) reagierte auf den symbolischen Wert, die "désirabilité sociale" (92).
Guy Saupin analysiert Werbung in der lokalen Presse dreier französischer Städte im 18. Jahrhundert. Das Verhalten der Eliten und die Beschleunigung des Wandels von Modeerscheinungen - Paris ist die omnipräsente Leitkultur - führten zur Entwicklung einer Konsumgesellschaft, die in ihrer Ausprägung stark abhängig von ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Bedingungen war. Der Konsum von Musikinstrumenten im Frankreich des 19. Jahrhunderts beschäftigt Ingrid J. Sykes. Die "desirability" (125) musste gefördert und gesteigert werden durch die Transformation sinnlich-lautlichen Erfahrungswissens in potenziell handelbare Information.
Laura van Aert und Ilja van Damme entwickeln am Beispiel der Einzelhändler Antwerpens entschlossen und überzeugend die Frage, ob das Aufkommen einer Konsumgesellschaft die Industrielle Revolution überhaupt erst ermöglicht habe. Patricia Allerston stellt in ihrer umsichtigen Untersuchung fest, dass die Einzelhandelsstrategien im Venedig der beginnenden Frühen Neuzeit eng an die durchaus schwierigen Marktbedingungen gebunden waren, mit fortlaufend notwendigen "economic adjustments" (181), es aber keine Einzelhandelsrevolution im Sinne einer Professionalisierung gab.
Jon Stobart wendet sich den sozio-ökonomischen, gleichsam "rhizomartigen" (201) Netzwerken in der englischen Stadt auf dem Land im 18. Jahrhundert zu. Ziel aller Kooperation im Einzelhandel war hier persönliches Vertrauen als Grundlage für Reputation und die Entwicklung einer gemeinsamen moralischen Kultur.
Dominique Margairaz widmet ihren instruktiven Aufsatz den zeitgenössischen Theorien zum Handel. Zunächst sind es soziale Einschätzung und später politische Erwünschtheit, die den semantisch oder institutionell nicht systematisierbaren Rang des Handels bestimmen, um dann einer funktionellen Betrachtung zu weichen, die sich mit dem Ziel steuerlicher Erfassbarkeit rein deskriptiv am Ort des Handels und seinen Handelspraktiken orientiert.
Die englisch- und französischsprachigen Beiträge sind die gedruckte Fassung der 2004 in Athen gehaltenen Vorträge der Seventh International Urban History Conference. Ihnen vorangestellt ist eine sehr gute Einführung von Bruno Blondé, die die Wagnisse und Chancen einer solchen Veröffentlichung nennt. Das gesetzte Ziel ist ehrgeizig: Durch "Beschreibung und Erklärung der ökonomischen Mechanismen, die dem Wachstum der 'Konsumgesellschaft' zugrunde liegen" (Einleitung, 7), soll das: "[...] bisherige Dunkel ökonomischer Untersuchungen über Wohlstand und seine Verteilung" (7) in der Frühen Neuzeit erhellt werden.
Dieses Desiderat wird durch den Band allerdings nicht eingelöst. Die Qualität des Werkes besteht vielmehr in den vielen Fragen, die beim Lesen entstehen. Was das Werk glücklicherweise nicht "leistet", ist es, seinem Gegenstand kohärente Strukturen zu oktroyieren. Ob die Konsumrevolution der Industrialisierung folgte oder ob dies vice versa der Fall war, bleibt offen. Es wird deutlich, dass die Klärung zentraler Begriffe - wie beispielsweise Konsum oder Konsumgesellschaft - nach wie vor aussteht. Dies will der Band auch gar nicht leisten, der sich durch die Vielfalt der genutzten Quellen, Methoden, Disziplinen und Fragestellungen auszeichnet, und sich in einem Forschungsgebiet verortet, in dem es an kulturwissenschaftlichen Forschungen zum Konsum fehlt. [1]
Jeder Beitrag steht erst einmal für sich allein, was angesichts des geographischen, thematischen und zeitlichen Rahmens, den die Beiträge abdecken, nicht verwundert. Auffallend ist jedoch der gemeinsame Referenzrahmen (Stichwort "Habitus"), den viele der Aufsätze teilen, ohne dass allerdings dieser Referenzrahmen näher beleuchtet würde.
Das Erstaunen über manche Ergebnisse des Bandes wäre vermutlich geringer, würde Pierre Bourdieus Aussage: "[...] we must attempt to construct a realist definition of economic reason as an encounter between dispositions which are socially constituted (in relation to a field) and the structures, themselves socially constituted, of that field" [2] von Seiten der Kulturwissenschaften ernst genommen.
Gemeinsam ist den Ergebnissen, dass ein Wandel der Beziehung von Einzelhandel und Konsumenten unabhängig von der wirtschaftlichen Prosperität der Wirtschaftsregion, von der Produktgruppe bzw. vom Handelssegment festgestellt wird, der in speziellem und engem Bezug zum Wirken des Einzelhandels steht. In fast allen Beiträgen folgt einem sowohl wirtschaftlich wie auch kulturell geformten "Haben-Dürfen" das "Haben-Wollen" oder auch "Haben-Müssen", das vor allem bei städtischen Konsumenten erkennbar wird. Diesem Wandel steht meist eine zunehmende Professionalisierung des städtischen Einzelhandels in Geschäftsorganisation und Handelspraktiken gegenüber, der das "Haben-Können" organisierte und erleichterte.
Die dem Band inhärente unbefangene Nutzung wirtschafts-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorien und Methoden zeigt sehr gut, wie notwendig und bereichernd die Dienstbarmachung von Kultur und die Indienstnahme von Wirtschaft in den (Wirtschafts-) Geschichtswissenschaften ist. [3] Die Pfade von Kultur und Konsum sind nicht separiert von ökonomischem Handeln zu betrachten. Dem Werk ist Rezeption und positive Resonanz im deutschsprachigen Raum zu wünschen, wo es auch dazu dienen könnte, Forschungen zur Ökonomik der Privathaushalte zu beleben. [4]
Anmerkungen:
[1] Aus dem Tagungsbericht: "Decoding Modern Consumer Societies" des German Historical Institute Washington vom 06.11.2008 - 08.11.2008 von Uwe Spiekermann (20.02.2009): "Cultural studies on consumption are still missing. This field will be the most challenging one in the future", in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2530 (aufgerufen am 21.02.2009).
[2] Pierre Bourdieu: The Social Structures of the Economy, Part II: Principles of an Economic Anthropology, Cambridge 2005, 193.
[3] Zum Verständnis von "Kultur in der Wirtschaftsgeschichte" (Thementitel) vgl. die Podiumsdiskussion des Wirtschaftshistorischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik im Rahmen der Jahrestagung 2007; veröffentlicht in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007), Heft 2, 173-188.
[4] Dietmar Petzina (Hg.): Zur Geschichte der Ökonomik der Privathaushalte, Berlin 1991 (Schriften des Vereins für Socialpolitik. Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, N. F. Bd 207).
Harriet von Natzmer