Rezension über:

Agnes Matthias: Zeichnungen des Lichts. Clichés-verre von Corot, Daubigny und anderen aus deutschen Sammlungen. Mit einem Beitrag von Rainer Michael Mason, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, 132 S., ISBN 978-3-422-06723-3, EUR 24,90
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Rezension von:
Christian Berger
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Christian Berger: Rezension von: Agnes Matthias: Zeichnungen des Lichts. Clichés-verre von Corot, Daubigny und anderen aus deutschen Sammlungen. Mit einem Beitrag von Rainer Michael Mason, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/13847.html


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Agnes Matthias: Zeichnungen des Lichts

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Im Sommer 2007 widmete das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen Dresden unter der Federführung von Agnes Matthias dem Cliché-verre, einer relativ wenig bekannten Mischform zwischen Fotografie und Druckgrafik, eine Ausstellung sowie ein Katalogbuch. Unter der Überschrift "Zeichnungen des Lichts" wurden über sechzig Clichés-verre aus deutschen Sammlungen präsentiert. Die Auswahl beschränkte sich dabei größtenteils auf Arbeiten von Künstlern, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Barbizon tätig waren und damit auf jenen Kreis, in dem das Verfahren seine wohl intensivste künstlerische Verwendung erfuhr. Wörtlich lässt sich der Begriff "Cliché-verre" in etwa mit "gläserner Druckstock" oder "gläsernes Negativ" übersetzen, womit wichtige Charakteristika der Technik benannt wären: Auf eine Glasplatte wird eine Zeichnung aufgetragen, die sodann auf Papier gebracht werden soll. Diese Übertragung geschieht nun aber nicht etwa durch den Abdruck der Farbe von der Platte, sondern mithilfe fotografischer Belichtung auf ein lichtempfindliches Papier. [1]

Die Glasplatte kann entweder - im sogenannten Linienverfahren - zunächst mit einer lichtundurchlässigen Schicht bedeckt werden, in die dann Linien gekratzt werden, sodass durch diese nun freien Stellen das Papier belichtet wird. Alternativ - und seltener - wird das Glas mit dem Pinsel in weißer und gelber Ölfarbe bemalt, wodurch es unterschiedlich lichtdurchlässig wird und somit die Wiedergabe von Tonalitäten ermöglicht, weswegen diese Technik als Tonverfahren bezeichnet wird. Solche technischen Möglichkeiten werden in einem dem Katalog vorangestellten Informationsteil wünschenswert präzise erläutert. Die daraus resultierenden Effekte sind an den Abbildungen der Blätter erkennbar und in den Katalogtexten benannt. Überhaupt ist die Erschließung der Exponate wie auch die Erläuterung technischer Fragen im Katalogteil sehr gut gelöst.

In ihrem Aufsatz stellt Matthias die Relevanz des Ausstellungsgegenstandes im Spannungsfeld von Druckgrafik und Fotografie sowie Original und Reproduktion heraus und verweist auf die verschiedenen "Erfindungen" der Technik, die William Henry Fox Talbot 1839 als "shadow pictures" erwähnt hatte, worauf weitere, voneinander unabhängige Entdeckungen des Verfahrens folgten. [2] Zur für die Kunstgeschichte wohl folgenreichsten Erfindung des Cliché-verre kam es Anfang der 1850er Jahre in Arras. Dort war eine Gruppe von Amateurfotografen und Künstlern um Jean Gabriel Léandre Grandguillaume, Henri-Joseph-Constant Dutilleux und Adalbert Cuvelier erneut auf das Verfahren gestoßen und machte Camille Corot damit bekannt. Dieser fertigte 1853 sein erstes Cliché-verre, dem bis 1874 in loser Folge 65 weitere folgten. In einem Artikel verwandte Cuvelier die Bezeichnung "dessin héliographique" (7), also "Zeichnung des Lichts", woraus sich der Titel des Dresdener Katalogs ergibt.

Anfang der 1860er Jahre verbreitete Cuveliers Sohn Eugène die Technik unter den in Barbizon tätigen Künstlern, von denen sich allerdings nur noch Charles-François Daubigny etwas intensiver daran versuchte. Von den Künstlern im Wesentlichen als Zeitvertreib für Regentage rezipiert, kam das Cliché-verre über den Status einer technischen Kuriosität kaum hinaus. Mit Corots Tod erlosch das Interesse ganz. So bilden naturgemäß 38 von Corots Clichés-verre den größten Anteil des Katalogs, gefolgt von 17 Arbeiten Daubignys sowie den zahlenmäßig geringeren Versuchen anderer Künstler.

Weshalb dem Cliché-verre ein größerer Durchbruch versagt blieb und worin andererseits sein besonderer Reiz lag, dazu entwickelt Matthias in Auseinandersetzung mit der Forschung folgende Erklärungen: Aufgrund des fotografischen Reproduktionsvorgangs nicht als Originalgrafik angesehen, habe das Verfahren nur für "höchst private, experimentelle Arbeiten" [3] Verwendung gefunden. Allein der finanziell unabhängige Corot habe es sich leisten können, immer wieder in dieser Technik zu arbeiten [4], die er insbesondere ihrer handwerklichen "Voraussetzungslosigkeit" [5] wegen geschätzt habe. Ähnlich meint auch Rainer Michael Mason in seinem kurzen Katalogessay, Corot habe "[...] sich diese Neuheit sofort zu Eigen gemacht, weil sie leicht in der Ausführung und leichtatmend in den Resultaten war." (24)

Im Rekurs auf Erika Billeter verweist Matthias auf das Verhältnis von feiner, leicht aufzutragender Zeichnung und den verschiedenen "Möglichkeiten der Lichtregulierung" [6] durch unterschiedlich deckende Gründe und benennt so die hervorstechenden Eigenschaften der Technik. Doch hätten die Künstler solche Möglichkeiten nur höchst begrenzt genützt, weil dies unerwünschte Assoziationen zur Fotografie hervorgerufen hätte: "Die technische Innovation der photographischen Vervielfältigung forderte wegen ihrer negativen Codierung im Kunstkontext allerdings nicht zur Entwicklung auch neuer ästhetischer Konzepte heraus, die das Experimentelle des Verfahrens auch auf die inhaltliche Ebene transponiert hätten, etwa in einem ausgeprägteren Spiel von Hell-Dunkel-Effekten." (10) Die Künstler hätten sich an den Sujets ihrer Gemälde und Radierungen orientiert. Auch technisch gleicht das Erscheinungsbild vieler Blätter am ehesten Radierungen. Davon kann sich der Leser in jenem Teil des Katalogs überzeugen, in dem Druckgrafik der Barbizon-Künstler, zwei Gemälde sowie zeitgenössische Landschaftsfotografien gezeigt werden.

Erscheinen Matthias' Ausführungen insgesamt überzeugend, so sind zumindest an einer ihrer Annahmen Zweifel angebracht: Es war eben nicht, oder sicherlich nicht allein, "[...] die Fähigkeit der Photographie [...], die Welt ausschnitthaft festzuhalten und dadurch die Aufmerksamkeit auf ansonsten übersehene Details oder flüchtige Phänomene zu fokussieren, die auch für die Maler eine neue Naturperspektive ermöglichte." (11) Schon 1981 relativierte Peter Galassi die Bedeutung des fotografischen Bildes für die künstlerische Bildsprache, indem er auf die Betonung ausschnitthafter, alltäglicher Ansichten bereits in der Ölskizze um 1800 hinwies. [7] Hier argumentiert Matthias vielleicht etwas zu sehr aus der Perspektive der Fotohistorikerin.

Die weitere Verwendung der Technik im 20. Jahrhundert durch Künstler wie Picasso, Brassaï oder Man Ray spricht Matthias kurz an. Wichtiger ist ihr die Rezeptionsseite und speziell die Dresdener Sammlungsgeschichte. Zunächst, so führt sie aus, war der Status des Cliché-verre ungeklärt. Die Aufnahme solcher Arbeiten in Werkverzeichnisse oder öffentliche Sammlungen bedurfte bis in die 1920er Jahre oft besonderer Begründung. So habe auch Max Lehrs, mit dessen bereits 1908 getätigten ersten Ankäufen dem Dresdener Kupferstichkabinett eine gewisse Vorreiterrolle zukommt, seine Ankaufstätigkeit unter Verweis auf die in dieser Technik so besonders gut zur Geltung kommende Handschrift des Künstlers gerechtfertigt. Erst Ende der 1920er Jahre sei eine weitgehende Akzeptanz erreicht gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich auch die erstmals 1910 von Loys Delteil verwandte Bezeichnung "Cliché-verre" durchgesetzt.

Gerade die Stellung des Cliché-verre zwischen Fotografie und Druckgrafik trug also entscheidend dazu bei, dass dem Verfahren ein größerer Durchbruch verwehrt blieb. Dies gilt sowohl für seine Anwendung durch Künstler, als auch für die Rezeption der Erzeugnisse. Doch ist es genau dieser ungeklärte Status, der sie heute, nicht nur unter mediengeschichtlichen Gesichtspunkten, zum besonders reizvollen Gegenstand werden lässt. Dieser besonderen "Zwischenform" in gelungener Art und Weise etwas mehr Aufmerksamkeit verschafft zu haben, ist Verdienst dieser Publikation (und der Ausstellung). Matthias' Beitrag leistet eine überzeugende Auseinandersetzung mit zentralen Fragen und fügt insbesondere durch die Untersuchung der Sammlungsgeschichte des Cliché-verre in Deutschland einen interessanten Aspekt hinzu, der sich auf erkenntnisbringende Weise mit der sonstigen Rezeptions-, wie auch der Produktionsseite verknüpfen lässt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. allgemein: Elizabeth Glassman: "Cliché-verre in the 19th Century", in: Cliché-verre: Hand-Drawn, Light-Printed. A Survey of the Medium from 1839 to the Present, bearb. von Elizabeth Glassman / Marilyn F. Symmes, Ausst. Kat. Detroit Institute of Arts; Museum of Fine Arts, Houston, Detroit 1980, 27-44. Vgl. demnächst Tobias D. Geissmann: Die grafische Technik Cliché-verre im Werk der französischen Künstler Corot und Daubigny, Diss. Freie Univ. Berlin 2008, Publikation in Vorbereitung.

[2] Zu den verschiedenen, voneinander unabhängigen "Erfindungen" der Technik, wohl sogar vor Talbot, vgl. Glassman 1980, 31; Meg Dunwoody Hausberg: "Cliché-Verre", in: Print Review 9 (1979), 39-48, hier 39.

[3] Michael Clarke: "Das grafische Werk der Künstler von Barbizon", in: Corot, Courbet und die Maler von Barbizon. 'Les amis de la nature', hg. von Christoph Heilmann / Michael Clarke / John Sillevis, Ausst. Kat. Haus der Kunst, München und Berlin 1996, 342-352, hier 349.

[4] Hier bezieht sich Matthias auf Michel Melot: L'œuvre gravé de Boudin, Corot, Daubigny, Dupré, Jongkind, Millet, Théodore Rousseau, Paris 1978, 17.

[5] Wolf Halstenberg: Cliché-Verre. Zur historischen Funktion eines Mediums, München 1985 (Diss. Univ. München 1979), 175.

[6] Erika Billeter: Malerei und Fotografie im Dialog von 1840 bis heute, Ausst. Kat. Kunsthaus Zürich, Bern 1977, 142.

[7] Peter Galassi: Before Photography. Painting and the Invention of Photography, Ausst. Kat. Museum of Modern Art, New York 1981.

Christian Berger