Johannes Ibel (Hg.): Einvernehmliche Zusammenarbeit? Wehrmacht, Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, Berlin: Metropol 2008, 225 S., ISBN 978-3-938690-65-9, EUR 19,00
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Das Cover des Sammelbandes stört auf: Unter den ausgemergelten, kahl rasierten Häftlingen des KZ Mauthausen-Gusen ist ganz vorne im Bild der sowjetische Kriegsgefangene Il'ja Grigorevič Kičigin zu sehen. Auf seiner Brust ist deutlich die eintätowierte Erkennungsmarkennummer der Wehrmacht 40697 zu lesen. Der Tierarzt starb am 24. Februar 1942 in Mauthausen. Sein KZ-Schicksal steht für das von Zehntausenden sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam, und es war integraler Bestandteil eines "der großen Verbrechenskomplexe deutscher Kriegführung in der Sowjetunion." Ungeachtet der Monstrosität dieser Verbrechen sowie unbeeindruckt von der Tatsache, dass die Einbettung deutscher Kriegsgefangenenpolitik in Vernichtungskrieg, ausbeuterische Besatzungspolitik, in Holocaust und in das gesamte inner- und außerdeutsche Sicherheits- und Terrorregime in der Forschung längst nachgewiesen ist, sind die "Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen im deutschen Geschichtsbewusstsein [...] vergleichsweise wenig präsent." [1] Die Beiträge des Bandes, die auf eine Tagung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg im Jahr 2004 zurückgehen, reflektieren diesen ambivalenten Zugang zur Geschichte sowjetischer Kriegsgefangener im 'Dritten Reich'. Sie dokumentieren vorzüglich den erreichten Forschungsstand zu wesentlichen Aspekten dieser Geschichte (besonders Keller/Otto; Schulte), sie stellen wichtige Forschungsdesiderata vor (Angrick; Strebel), bieten Einblick in wichtige Forschungsvorhaben und Lagerspezifika (Ibel; Speckner) und sie beschreiben ausführlich den halbherzigen, zögerlichen und gewundenen öffentlichen Umgang mit diesen Schicksalen (Hammermann; Drieschner/Schulz; Volland; Burger). Dabei wird erneut die Relevanz und Langzeitwirkung der spezifischen Ausgangssituationen der Erinnerungspolitik in Ost und West im Rahmen von Kaltem Krieg und Wiederaufbau mit ihren eindeutigen Feindbildern und Prämissen vor Augen geführt. Der aktuelle Missbrauch etwa, der in ukrainischen Machtkämpfen Anfang 2008 mit der Kriegsgefangenschaft des Vaters von Präsident Viktor Juščenko getrieben wurde, lebte vom Rückgriff auf altstalinistische Feindbilder. In Deutschland wiederum kamen in der Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeitern alte Aufrechnungsreflexe zum Vorschein: Gegen eine adäquate Einbeziehung sowjetischer Kriegsgefangener in das deutsche Gesetz sprach demnach unter anderem, dass "mit dem Einsatz von Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit (besonders in der Sowjetunion) auch in Deutschland und Österreich sensitive Materien berührt wurden, deren potentielle Sprengkraft die quer durch die Parteien gehende deutsche Bereitschaft zu einer ansehnlichen Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter gefährden konnte." [2] Vor diesem Hintergrund lässt sich die Vernachlässigung sowjetischer Kriegsgefangener in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland - und natürlich auch in den postsowjetischen Staaten - zwar vordergründig auf die fehlende Lobby und auf entsprechende Mechanismen in der "Wahrnehmungskonkurrenz der NS-Opfergruppen" zurückführen (8, 10). Sie verweist aber auf eine mangelhafte Erinnerungsbereitschaft und damit auf ein immer noch gebrochenes Selbstverständnis der beteiligten Gesellschaften zurück. Die öffentlichen Verhandlungen über angemessenes oder auch nur nützliches Gedenken sind keineswegs abgeschlossen. Das zeigen im Band die Bestandsaufnahmen zur Gedenkstättenarbeit in Deutschland. Die russische Diplomatie wiederum regte 2001 an, zum 60. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die UdSSR auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen (KZ Dachau) einen Gedenkstein für ermordete Kriegsgefangene zu errichten und ein neues nationales Gedenkprojekt Russlands über die "Verteidiger des Vaterlands" in und nach dem 'Großen Vaterländischen Krieg' erfasst eben auch verstorbene Kriegsgefangene (14). [3]
Die weitreichende Bedeutung, die der Verbindung von SS und Wehrmacht im Kriegsgefangenenwesen zukommt, steht außer Frage. Die Übergabe von Gefangenen an die SS markierte prägnant die grundsätzliche Missachtung von Völkerrecht oder Humanität, die den gesamten deutschen Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen durchzog. In diesem Komplex wird die militärische Bereitschaft zur bürokratischen und ideologischen Zusammenarbeit, zur aktiven Mitwirkung an völkerrechtswidrigen und mörderischen Programmen beispielhaft durchexerziert. Kriegsgefangene wurden nicht nur zur Exekution im Rahmen der berüchtigten "Aussonderungen" an Konzentrationslager überstellt. Eine zweite große Gruppe stellten Gefangene dar, welche die Wehrmacht der SS als Arbeitskräfte für Himmlers ambitionierte Bau- und Raumprogramme überließ. Schließlich galten die Konzentrationslager der Wehrmacht wie der SS als probates Mittel, um Widerstands- und Fluchtbewegung der Gefangenen zu bekämpfen. Nach derzeitigem Kenntnisstand fielen im Deutschen Reich mindestens 40000 sowjetische Kriegsgefangene den direkten Aussonderungen zum Opfer. Rund 35000 sowjetische Gefangene wurden der SS zu "Arbeitszwecken" überstellt. Einzelmeldungen der Konzentrationslager belegen, dass auch diese Gefangenen massenhaft zugrunde gingen; dabei war es dem Rassen- und Vernichtungswahn des NS-Regimes geschuldet, dass die sogenannten "Arbeitsrussen" in den Konzentrationslagern weiterhin den allgemeinen Aussonderungen unterworfen blieben. Die Zahl der wegen Widerstands und Fluchtversuchen in KZ-Haft überführten Soldaten wird auf mindestens 50000 Gefangene geschätzt.
Noch unbestimmter sind die Größenordnungen zweier anderer Gefangenengruppen: Der Einsatz geeigneter Kriegsgefangener im "Unternehmen Zeppelin" sollte ursprünglich die "chronische Informationsmisere" des RSHA (Amt VI) mildern, entwickelte sich im Kriegsverlauf aber zunehmend zu einem "Stoßtrupp- und Zersetzungsunternehmen." (61, 68) Missliebigen Aktivisten drohten KZ und Tod und auch ehemals kriegsgefangene Angehörige der Freiwilligenverbände konnten in KZ abgeschoben werden, wenn sie den deutschen Erwartungen nicht gerecht wurden. Allein für Mauthausen lassen sich 5100 derartige Fälle nachweisen (53). Schließlich waren Konzentrationslager der Ort, an dem deutsch-männliche Vorbehalte und Feindbilder über kriegsgefangene Rotarmistinnen zusammenliefen. Insgesamt wurden rund 1000 kriegsgefangene Frauen an das KZ Ravensbrück überstellt. Anfangs hatte ein deutsches Armeeoberkommando "Flintenweiber" gar nicht erst gefangen nehmen wollen und noch 1944 war sich das OKW sicher, dass die "sicherheitspolizeiliche Untersuchung in der Regel die politische Unzuverlässigkeit dieser Frauen ergeben" würde (162-165). "Unbelastete" kriegsgefangene Frauen waren zu diesem Zeitpunkt aus der Kriegsgefangenschaft in die Zwangsarbeit als "Ostarbeiterin" zu überführen. Diese Anweisung ist ein weiterer Beleg für die bereits erwähnte grundsätzliche Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht. Sie lenkt zugleich den Blick zurück auf die rücksichtslose Ausnutzung sowjetischer Kriegsgefangener als Arbeitskräfte. Der intendierte Arbeitseinsatz für die SS scheiterte an den von der SS bewusst geschaffenen verheerenden Arbeits- und Lebensbedingungen sowie an dem von der Wehrmacht zu verantwortenden Massensterben. In der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener in den Konzentrationslagern kulminierte somit die mehrdimensionale, immer erbarmungslose Logik des "Unternehmens Barbarossa", ganz gleich, ob die Kriegsgefangenen formal der Wehrmacht oder der SS unterstanden. Die Einzelbeiträge führen diese tiefe Verankerung deutscher Kriegsgefangenenpolitik in den Eroberungs- und Vernichtungskrieg eindringlich vor Augen. Es ist, das demonstriert der Band ebenso kompetent, notwendig und an der Zeit, dem Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im 'Dritten Reich' seinen Platz in der deutschen und internationalen Erinnerungsarbeit einzuräumen.
Anmerkungen:
[1] Das erste Zitat von Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006, 359; das zweite von Jörg Osterloh: Die vergessenen Kriegsgefangenen. Christian Streit und der Mythos der "sauberen Wehrmacht", in: 50 Klassiker der Zeitgeschichte, hg. von Jürgen Danyel u.a., Göttingen 2007, 148-152, hier 151.
[2] Lutz Niethammer: Von der Zwangsarbeit im Dritten Reich zur Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Eine Vor-Geschichte, in: "Gemeinsame Verantwortung und moralische Pflicht". Abschlussbericht zu den Auszahlungsprogrammen der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", hg. von Michael Jansen / Günter Saathoff, Göttingen 2007, 13-84, hier 62f.
[3] http://www.obd-memorial.ru Hier waren zum 28.1.2009 1000 Verstorbene aus dem Stalag Neuhammer erfasst.
Andreas Hilger