Mai'a K. Davis Cross: The European Diplomatic Corps. Diplomats and International Cooperation from Westphalia to Maastricht (= Studies in Diplomacy and International Relations), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007, XII + 244 S., ISBN 978-0-230-50075-4, GBP 50,00
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Westeuropäische Diplomaten sind seit jeher die tragenden Agenten internationaler Kooperation. Sie können und konnten stets den Ausgang internationaler Konferenzen in unterschiedlichem Ausmaß mitbestimmen - so das Credo vorliegenden Buches. Sie werden dem Leser als eine "Epistemic Community" (EC) präsentiert [1], ein transnationales homogenes Netzwerk anerkannter Experten mit einem maßgebenden Anspruch auf politikrelevantes Wissen (1). Entsprechend der Häufigkeit ihrer Zusammentreffen, ihrem sozialen Hintergrund, ihrer Auswahl und Ausbildung sowie ihrer gemeinsamen Weltsicht könne diese Gemeinschaft sowohl stark als auch schwach ausgebildet sein. Eine starke, durch Kohäsion geprägte EC aber zeichne sich vor allem dadurch aus, dass sie "Agency", also nicht-delegierte Selbsttätigkeit, entfalte. In dem Moment, in dem Diplomaten über ausreichend "Agency" verfügen, so Davis Cross, werden sie Teil eines kooperativen politischen Entscheidungsprozesses, anstatt Entscheidungen nur zu tangieren bzw. vorgegebene Linien zu vermitteln (2-8/22).
Den Beweis für diese These sucht die Autorin, nachdem sie ihr Konzept von anderen soziologischen bzw. konstruktivistischen Theoremen abgegrenzt hat (13-31), anhand von vier Fallstudien zu erbringen. Angefangen bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden des Jahres 1648 (35-67) über den Berliner Kongress von 1878 (68-104) und die Pariser Friedenskonferenz von 1919/20 (105-138) führt ihr Weg hin zu den Vorbereitungen des 1992 unterzeichneten Vertrags von Maastricht (139-178). Sie postuliert dabei eine kontinuierliche Entwicklung der Diplomatie, welche sie in ihr grundsätzliches Bestreben, "to understand the importance of diplomacy today and in the future" (32), teleologisch einordnet: Das Ziel einer europäischen, ja vielmehr sogar einer EU-Diplomatie im Sinne einer EC als Maßstab vor Augen (9/11), fällt der Behandlung der genannten Kongresse im folgenden vor allem die Aufgabe zu, die Marschrichtung für die diplomatische Zukunft der Europäischen Union vorzugeben und gleichzeitig historisch zu legitimieren.
Die Gesandten auf dem Westfälischen Friedenskongress seien zwar in vielerlei Hinsicht bereits initiativ gewesen, doch hätten sie nur begrenzt über "Agency" verfügt, so dass sie noch eine schwache EC innerhalb des internationalen Absolutismus darstellten (62). Als besonders nachteilig für das Zustandekommen einer EC wird der sehr heterogene soziale Hintergrund der dort versammelten Diplomaten dargestellt, der sich u. a. in Zeremoniellschwierigkeiten geäußert habe (54). Dass diese Schwierigkeiten bereits zum Geschäft gehörten, und man gerade in diesem Bereich Dynamik entwickeln konnte [2], verkennt die Verfasserin allerdings.
Anhand des Berliner Kongresses will Davis Cross sodann aufzeigen, dass die Diplomaten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts schon "structural autonomy from the state, high professionalism, and a growing but still weak bureaucracy" besaßen (70). Sie unterstreicht deren gewachsenes Selbstvertrauen und ihre Kompetenz, wodurch sie als die eigentlichen "Macher" in Berlin erscheinen. Nun ist zwar richtig, dass auch Bismarck seine Karriere als Diplomat am Frankfurter Bundestag begonnen hatte - 1878 jedoch war der "Eiserne Kanzler" mitnichten dafür bekannt, "Agency" aus der Hand zu geben. Wenn man dennoch konstatieren will, dass das Schicksal des Kongresses weniger vom ausrichtenden Mediator als vielmehr von der "internal dynamic of the epistemic community" der beteiligten Parteien abhing (98), so muss daran erinnert werden, dass diese durch ihre jeweiligen Staatsmänner vertreten waren (85), von denen sich eine diplomatische EC doch eigentlich distanzieren müsste.
Dass zu viel staatsmännisch-realpolitische Einmischung schließlich nicht nur der EC selbst, sondern vor allem auch erfolgreichen Verhandlungsergebnissen abträglich ist, versucht Davis Cross in einem dritten Schritt anhand der Versailler Friedensverhandlungen aufzuzeigen. Die de-facto-Übernahme der Verhandlungen durch diplomatisch unerfahrene Staatsmänner habe lediglich "Paradiplomacy"(118) hervorgebracht, auch weil die Akteure nunmehr der öffentlichen Meinung in ihren jeweiligen Ländern unterworfen waren. Gerade in den katastrophalen Ergebnissen der Verhandlungen erblickt die Verfasserin die nächste Sprosse der Leiter, die auf das epistemische Dach hinaufführt, und zwar im dadurch ausgelösten "move toward summitry", und damit verbunden in der Forcierung sowie Professionalisierung multilateraler Diplomatie (139) - womit der Bogen zur Europäischen Union gespannt ist.
Wenngleich damit der interessanteste Teil des Buches eingeleitet wird, so muss auch hier kurz nachgehakt werden: Multilateralismus ist keinesfalls nur ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Die Leichtigkeit, mit der Davis Cross den Wiener Kongress bereits im Vorfeld von ihrer Untersuchung ausschließt (31), mahnt zur Vorsicht. Besonders überraschen mag auch das Ausklammern des erstmals 1860 unternommenen Versuches, einen europäischen Markt zu schaffen (gerade hier hätte ein Vergleich mit der EU gelohnt!). [3] Durchaus nachvollziehbar wird jedenfalls festgestellt, dass erst das 20. Jahrhundert durch die Schaffung permanenter multilateraler Institutionen eine echte Gemeinschaft der Diplomaten geschaffen hat - in einer institutionalisierten und legalisierten Version: "Now they do not just reside in embassies, but in the EU buildings in Brussels. Rather than cultivating bilateral relationship at Kings' courts, diplomats work along side each other on a daily basis ..." (140). Nicht mehr Reaktion, sondern Prävention stehen im Vordergrund ihres Handelns. Die Diplomaten verfügen über "Agency" und bilden neben den an Zahl und Einfluss abnehmenden bilateralen Vertretungen eine unverzichtbare EC, beispielhaft vorgeführt anhand von Coreper (Comité des représentants permanents) (143ff). Endlich, so Davis Cross, verfügen die Diplomaten über alle Vorzüge, die sie zu einer EC verschmelzen und erfolgreich den Vertrag von Maastricht erarbeiten haben lassen.
Hier wird dem Leser nochmals deutlich vor Augen geführt, worauf die Verfasserin abzielt: der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen findet sich in der Gegenwart, die Vergangenheit wird zugunsten erwünschter Kontinuitäten instrumentalisiert. Dies äußert sich besonders in der mangelnden kontextuellen Verortung der Fallbeispiele. Die Autorin blendet die realpolitischen Gegebenheiten stets dann aus, wenn sie ihrer Argumentation zuwiderlaufen - gleichgültig, ob es sich dabei um das militärische Kräfteverhältnis am Ende des Dreißigjährigen Krieges oder die Situation in Europa nach dem Zusammenbruch des Ostblocks handelt. Beide Begebenheiten haben den Staatsmännern wohl auch ohne eine diplomatische EC die Notwendigkeit einer neuen Form der Zusammenarbeit vor Augen geführt. Weiterhin ist einzuwenden, dass sich der diplomatische Apparat der EU per se kaum historisch einordnen lässt, da er (wie die EU selbst) einen Apparat "sui generis" darstellt. So interessant der Ausgangsgedanke der Autorin also grundsätzlich auch sein mag - er verfügt über keinen geschichtswissenschaftlichen, sondern einen politischen Stimulus.
Ernüchternd ist schließlich auch der Blick auf das Quellen- und Literaturverzeichnis. Die zitierten Werke entstammen ausschließlich dem angelsächsischen Raum. Wichtige Publikationen sind Davis Cross fremd, wie z. B. die epochenübergreifenden Darstellungen aus dem Umfeld des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte [4], oder auch die umfangreichen Werke Lucien Bélys. [5] Jegliche deutschsprachige Literatur zum Berliner Kongress bleibt ausgespart. [6] Die Frage, ob dieser Umstand der mangelnden Fremdsprachenkenntnis der Autorin zu verdanken ist (auch Abraham de Wicquefort liegt offensichtlich nicht auf Englisch vor), muss jedoch unbeantwortet bleiben, da einschlägige Autoren aus dem Bereich der britischen Forschung zum Teil ebenso ignoriert werden. [7] Archivalien spielen faktisch keine Rolle.
Abschließend bleibt somit festzustellen: Obwohl das vorliegende Werk kaum einen nennenswerten Beitrag zur Diplomatiegeschichtsschreibung an sich erbringt, so wird es dennoch dereinst eine dankbare Quelle für die Idealvorstellungen europäischer Diplomatie zu Beginn des 21. Jahrhunderts abgeben. Betrachtet man es unter diesem Vorzeichen, lohnt die Lektüre wiederum.
Anmerkungen:
[1] Aufbauend auf: Peter M. Haas: Introduction: Epistemic Communities and International Policy Coordination, in: International Organization 46/1, 3.
[2] Vgl. v.a. Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hrsg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 19), Berlin 1997, 91-132.
[3] Vgl. Peter T. Marsh: Bargaining on Europe. Britain and the First Common Market 1860-1892, New Haven 1999.
[4] Z. B. Heinz Duchhardt - Franz Knipping (Hrsg.): Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Paderborn 1994ff.
[5] Z. B. Lucien Bély: L'invention de la diplomatie: Moyen Åge - temps modernes, Paris 1998.
[6] Z. B. Karl Otmar von Aretin: Bismarcks Außenpolitik und der Berliner Kongreß, Wiesbaden 1978.
[7] Z. B. Jeremy Black: British Diplomats and Diplomacy 1688-1800, Exeter 2001.
Ernst Schütz