Franziska Roosen: "Soutenir notre Église". Hugenottische Erziehungskonzepte und Bildungseinrichtungen im Berlin des 18. Jahrhunderts (= Geschichtsblätter der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft e.V.; Bd. 42), Bad Karlshafen: Verlag der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft 2008, 382 S., ISBN 978-3-930481-24-8, EUR 22,80
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In ihrer Einleitung verortet Franziska Roosen ihre Studie im Spannungsfeld dreier Forschungsfelder: historische Migrationsforschung, Kulturtransferforschung und historische Bildungsforschung. Im sich anschließenden Forschungsaufriss bezieht die Autorin die einzelnen Felder aufeinander und gewinnt daraus die erkenntnisleitenden Fragen ihrer Studie. Desiderate konstatiert Roosen nicht nur innerhalb der historischen Bildungsforschung, sondern auch innerhalb der historischen Forschung, wo keine systematische Untersuchung zu Identitätsbildung und Integrationsverhalten der Hugenotten vorliege. (17) Hier sei angemerkt, dass diese Einschätzung nicht mehr in vollem Umfange zutrifft, denn die 2006 erschienene Habilitation von Matthias Asche entwickelt auch anhand des Vergleichs von Hugenotten und Schweizer Kolonisten in der Mark Brandenburg eine vergleichende Perspektiven auf Identitäts- und Traditionsbildung. [1] Aus diesem Forschungsaufriss heraus skizziert Franziska Roosen den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, nach der Erziehungs- und Bildungskonzepte Indikatoren für Integrationsverhalten sind und zu rekonstruieren sei, auf welche Weise die Hugenotten qua Kindeserziehung Einfluss auf die Akkulturation zukünftiger Generationen zu nehmen versuchten. (21) In engem Zusammenhang damit steht die Ausgangshypothese, nach der die Hugenotten ihre "gruppenausweisenden und identitätsstiftenden Merkmale wie gemeinsame Herkunft, konfessionelles Brauchtum und französische Sprache durch eine entsprechende Anleitung ihrer Kinder" bewahrten, "um sich auf diese Weise von der ansässigen Bevölkerung zu unterscheiden und abzugrenzen". (15) Mit der Untersuchung von Integration durch Erziehung und Bildung vom Potsdamer Edikt (1685) bis zur Aufhebung des Koloniestatus (1809) nimmt sich Roosen also kein schon bereitetes Feld vor, sondern bearbeitet ein Desiderat sowohl der Hugenotten- wie auch der historischen Bildungsforschung. In methodischer Hinsicht verweist sie auf quellengestützte Rekonstruktion, mit der Intention, "Verwaltungsakten gegen den Strich zu lesen."(21)
Im ersten Kapitel wendet sie sich der französisch-reformierten Pädagogik zu (23-80), um das reformatorische Verständnis vom Erziehungsauftrag der Kirche, Familie und Gemeinde und dessen praktische Umsetzung darzustellen. Die Ansiedlung in Brandenburg-Preußen und die Einrichtung der Französischen Kolonien stehen im Mittelpunkt des zweiten Kapitels (89-114). Hier wird besonders die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spür- und hörbar gewordene Akkulturation der Hugenotten herausgearbeitet, die sich in Sprachwechsel, Mischehen, Kirchenübertritten und Abnahme der Kirchenbesuche niederschlug. Die Reaktion der Führungsgremien der Kolonie auf diese Entwicklung identifiziert Franziska Roosen in Maßnahmen zur Festigung und Wahrung der Gruppenidentität (107).
Diese äußerten sich u.a. in politischen, administrativen und personalen Anstrengungen um die Institutionalisierung hugenottischer Bildung, die im dritten Kapitel (115-202) behandelt werden. Aufschlussreich ist hier vor allem der innovative Charakter der hugenottischen Elementarschulen. So zeigt das dort ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermittelte Curriculum bereits Tendenzen der späteren, v.a. unter reformpädagogischen Einfluss entstehenden Hinwendung zu den Realien. In Bezug auf ihre These konstatiert Franziska Roosen für die französische Unterrichtssprache an den hugenottischen Schulen einen Funktionswandel, indem sie im Französischen zu Beginn des Refuge ein bloßes Kommunikationsmittel einer Minderheit sieht, während sie ihr im Zuge der Akkulturation den Status eines Prestigeobjekts zur Betonung und Wahrung des Minderheitenstatus bescheinigt. (180f., 201)
Die Strategien zur Wahrung hugenottischer Identität im Bereich von Erziehung wird im vierten Kapitel (203-312) noch einmal exemplarisch ausgeleuchtet, wo anhand dreier Berliner Bildungsanstalten (Waisenhaus, Armenschule und Lehrerseminar) jeweils Hauspolitik und Erziehungsziele analysiert werden. Die Maison des Orphelins, die hinsichtlich des Lehrens und Lernens allein für Hugenotten und ihre Nachfahren reserviert war, beschreibt Franziska Roosen als einen exklusiven, frankophonen Rückzugsort innerhalb einer deutschen Mehrheitsumgebung.
Die 1747 gegründete Armenschule, die das Ziel hatte, die Kinder verarmter Familien der Französischen Kolonie Berlins mit einer Ausbildung und beruflicher Perspektive auszustatten (281), basierte auf einer Mischung aus breit angelegter schulischer (und religiöser) Instruktion und Arbeitserziehung. Auch hier erkennt Franziska Roosen eine Funktionserweiterung der Institution: Sah es die Anstaltsleitung zunächst vor allem als ihre Pflicht, die Kinder der Kolonie der materiellen und geistigen Armut zu entziehen, ging es nach Einschätzung der Autorin ab den 1760er Jahren darum, gleichsam Hugenotten 'heranzuziehen' und Komponenten hugenottischer Identität auch in den unteren sozialen Schichten zu verankern. In der Einrichtung eines Seminars für Elementarschullehrer sieht die Autorin diese Intention bestätigt, insofern die zukünftigen Lehrer für die regionale und intergenerationelle Perpetuierung hugenottischer Identitätsmuster sorgten.
Die von Franziska Roosen rekonstruierten Lebenswege der Absolventen der drei Einrichtungen haben in diesem Zusammenhang deutlich mehr als nur illustrativen Wert, zeigen sie doch zum einen die Sorgfalt der Schulleitungen, mit der sie die Entwicklung ihrer Zöglinge verfolgten und zum anderen die konkrete Wirkung der pädagogischen und ideologischen Konzepte. Als Gemeinsamkeit aller drei Einrichtungen konstatiert die Autorin die Weitergabe o.g. gruppenkonstitutiver Merkmale. Im Französischen, sei es in Form von öffentlicher Sprachverwendung, Sprachpolitik oder Unterrichtssprache, sieht die Autorin eines der primären Identitätsmerkmale der Hugenotten. (310)
Aufschlussreich wäre hier gewesen, die Veränderung dieser Identitätskonstruktionen zu verfolgen. Betrachtet man die Topoi des kollektiven Gedächtnisses der Hugenotten im 19. Jahrhundert, wird deutlich, wie meisterhaft sie den Balanceakt wechselnder Identitätskonstruktionen beherrschten. Bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war die französische Sprache unverzichtbare Komponente hugenottischer Identität. Andere Topoi (Borussophilie, kulturelle Elite, Preußens Adoptivkinder etc.) wurden erst dann nachhaltig popularisiert und wirksam, nachdem der Sprachwechsel zum Deutschen vollzogen war. [2]
Franziska Roosens Studie macht deutlich, wie aufschlussreich und herausfordernd die Methode ist, die Schulwirklichkeit hinter den Verordnungen, Verlautbarungen und Schriftstücken mit partiell stark legitimatorischen Charakter herauszuarbeiten. Der Autorin gelingt es, durch extensives und intensives Quellenstudium ein differenziertes und konturiertes Bild der schulischen Situationen und den Charakteristiken der jeweiligen Anstalten zu rekonstruieren und entsprechend zu deuten. Die Analyse von Anstaltspolitik und erzieherischen Konzepten ist allerdings sehr stark auf die Interpretation im Sinne der Identitätsbewahrung angelegt. Quer dazu liegende Befunde erhalten weniger Gewicht, auch wenn die Autorin im Schluss einräumt, dass die Erziehung "nicht allein auf ihren identitätsstiftenden und gruppenkonstituierenden Charakter reduziert" werden dürfe. (317)
Beispielsweise zeigt ein Blick auf den Spracherwerb im Waisenhaus, dass die Direktoren der Einrichtung trotz aller sprachpolitischer Aktivitäten ab den 1760er Jahren im Sprachunterricht konsequent auf den gesteuerten Erwerb des Französischen und des Deutschen setzten. Diese Option zahlte sich à la longue, gemessen an rein französischem Sprachunterricht und ungesteuerten Deutscherwerb in anderen Kolonien, durch eine stabile Mehrsprachigkeit aus, die die Dynamik des Sprachwechsels innerhalb der schulischen Domäne entschärfte. [3] Die Auffassung der Autorin, nach der die Sprachpolitik des Berliner Konsistoriums in gewisser Weise realitätsfern auf die einseitige Stärkung des Französischen bzw. Zurückdrängung des Deutschen abgestellt war und integrationshemmenden Charakter hatte, steht dazu in einem gewissen Widerspruch.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Studie das Verdienst zukommt, auf der Grundlage der Analyse bislang nahezu unbeachtet gebliebener Quellen ein Stereotyp der älteren Hugenottenforschung, nach dem die Integration der Réfugiés in den preußischen Ständestaat als schnelle, unkomplizierte und geräuschlose Erfolgsgeschichte zu betrachten sei, eindrucksvoll zu widerlegen.
Anmerkungen:
[1] Matthias Asche: Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus, Münster 2006.
[2] Vgl. dazu demnächst: Manuela Böhm: Sprachenwechsel. Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17. bis 19. Jahrhundert, Berlin, im Erscheinen (= Studia Linguistica Germanica), Kapitel 3.3.
3] Vgl. Manuela Böhm: "Akkulturation und Mehrsprachigkeit am Waisenhaus der Französischen Kolonie in Berlin um 1800", in: Ute Tintemann/ Jürgen Trabant (Hgg.): Sprache und Sprachen in Berlin um 1800, Hannover 2004.
Manuela Böhm