Lothar Gall / Ulrich Lappenküper (Hgg.): Bismarcks Mitarbeiter (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 10), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, XV + 203 S., ISBN 978-3-506-76591-8, EUR 19,90
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Kein Zweifel: Wir wissen viel über die Kanzler des Kaiserreichs, und am meisten vermutlich über Otto von Bismarck. Über dessen Regierungsstil, über die Kanäle der Kommunikation, die Details der Entscheidungsprozesse, die Rolle und die Anteile der beamteten und nicht beamteten Zuarbeiter jedoch ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Hat er von oben nach unten 'durchregiert', autoritativ, seine Räte und Ratgeber als bloße Werkzeuge benutzend, oder haben diese über eigene Spielräume verfügt und wenn ja, wie haben sie diese mit welchen Ergebnissen ausgefüllt? Waren sie produktive, wirklich eigenständige Köpfe oder bloße Befehlsempfänger? Diese und andere Erwägungen waren im Frühjahr 2007 Anlass zu einer Tagung der Otto-von-Bismarck-Stiftung, die das Augenmerk auf die Mitarbeiter des Kanzlers gelenkt hat: auf eine - wie Ulrich Lappenküper hervorhebt - "vielfach vergessene Gruppe". Ziel der Konferenz war es, Licht auf deren "Bedeutung für die Konzeptualisierung bzw. Operationalisierung der Politik" zu werfen, auf Herkunft, Alter, Werdegang, Typus, institutionelle Rahmenbedingungen und Entwicklung, dabei nach Antworten zu suchen auf die Frage der Fragen: "War Bismarcks Politik Bismarcks Politik?"
Gewürdigt werden zehn Männer, die in dieser oder jener, formellen oder informellen Funktion Bismarck zeitweilig nahe gewesen sind. Mehr als dienstbare Geister waren sie für den Kanzler meistens nicht, bedauert hat er deren Weggang nur selten. Ein einheitliches Profil lässt sich nicht konstruieren: weder in generationeller noch in anderer Hinsicht. Geboren zwischen 1809 und 1855, haben sie ihre Prägungen in unterschiedlichen Epochen erfahren, die älteren Jahrgänge sind - wie der Kanzler auch - aufgewachsen in der Metternich-Ära, die mittleren im Jahrzehnt vor der Revolution, die jüngeren dann in der Ära der Reaktion und der anschließenden Reichseinigung. Von Ausnahmen abgesehen waren sie bürgerlicher Herkunft: Beamte, Publizisten, auch das, was wir heute Intellektuelle nennen würden. Hermann Wagener wäre hier zu rubrizieren. So anregend die einzelnen Beiträge sind: Eine wirklich schlüssige Antwort auf die oben gestellte Frage liefern sie nicht. Oder anders formuliert: Bismarcks Politik war die seine, nicht jedoch die der Mitarbeiter, derer er sich bediente, die er, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten oder nicht mehr zu erfüllen versprachen, bedenkenlos in den Orkus fallen ließ.
Im Auftakt der Sammlung verweist der Doyen der Bismarck-Forschung Lothar Gall die Stilisierung des Kanzlers zum Heros der Deutschen in das Reich geschichtspolitischer Legendenbildung: Bismarcks Leitstern sei stets ein partikulares Interesse gewesen, das im Kern auf Machterhalt und Machterweiterung der preußischen Monarchie wie der sie dominierenden sozialen Schichten zielte. Zu diesem Behuf habe er "wechselnde Bündnisse", stets fragile Koalitionen geschmiedet, was viele seiner Zeitgenossen, auch die engeren Weggefährten, "aufs Höchste" verwirrt habe. Insofern gehe es in die Irre, wenn man Bismarck zu einem der "Hauptträger und Repräsentanten des Nationalstaatsgedankens" oder gar eines neudeutschen Nationalismus erhebe.
Den Reigen der biographischen Skizzen eröffnet Henning Albrecht, der - seine Hamburger Dissertation resümierend - uns Leser mit Hermann Wagener konfrontiert, der als Chefredakteur der "Kreuzzeitung" für die publizistische Begleitmusik bei der Gründung der konservativen Bewegung sorgte: ein Reformkonservativer, für den Sozialpolitik ein Instrument machtpolitischer Ambitionen war, gerichtet auf die Gewinnung der Arbeiterschaft zur Sicherung der monarchischen Ordnung. Beschlossen wird die Galerie der Portraits mit dem Jüngsten der Mitarbeiter, den als solchen zu würdigen, wie Michael Epkenhans zeigt, Bismarck und seine Familie sich nie recht verstehen mochten. Die Rede ist von Horst Kohl, dem Hofhistoriographen, nein dem Hagiographen, der sein Leben der Aufgabe widmete, das Andenken des Kanzlers zu pflegen und dessen Ruhm zu mehren. Bismarck geriet dabei zunehmend zum leuchtenden Gegenbild einer als düster gedeuteten Epoche der Epigonen: "Unser starker moralischer Hort ist Fürst Bismarck", schrieb er 1896.
Zwischen Wagener und Kohl werden die übrigen acht Männer abgehandelt: Heinrich Abeken, Legationsrat im Auswärtigen Amt, der den Zenit seines Einflusses im deutsch-französischen Krieg als "Mediator" zwischen Bismarck und König Wilhelm I. erreicht (Wolfgang Frischbier); Rudolph Delbrück, erster Chef der Reichskanzlei und engagierter Anhänger des Freihandels, der einer ganzen Ära der Wirtschaftspolitik seinen Namen lieh (Rudolf Morsey); Theodor Lohmann, in Sachen Sozialpolitik Inspirator und Widerpart Bismarcks zugleich (Florian Tennstedt); Friedrich von Holstein, enger und am Ende "frondierender" Mitarbeiter im Auswärtigen Amt (Hans Fenske); Paul von Hatzfeld, der begabte, regelmäßiger Büroarbeit jedoch abgeneigte Diplomat (Vera Niehus); Herbert von Bismarck, der Sohn, der aus dem Schatten des Vaters nie herauszutreten vermochte (Konrad Canis); Moritz Busch, der Mann der Presse oder wie Eberhard Kolb formuliert: "ein Rädchen im Getriebe der Pressepolitik"; Lothar Bucher, des Kanzlers getreuer, bedingungslos loyaler "Eckermann", Motivator und Redakteur bei der Abfassung der Memoiren. Für ihn gilt, was in jeweils anderer Gewandung, Dimension und Position cum grano salis für alle anderen zutrifft: Wie Bismarck trotz der "Redaktionsarbeit Buchers doch selbst Autor seiner Gedanken und Erinnerungen blieb, so blieb er auch Herr seiner Politik" (Christoph Studt).
Jens Flemming