Alois Schmid (Hg.): Die bayerische Konstitution von 1808. Entstehung - Zielsetzung - Europäisches Umfeld (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte; Beiheft 35), München: C.H.Beck 2008, IX + 368 S., ISBN 978-3-406-10676-7, EUR 45,00
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Das Buch handelt von der "Konstitution für das Königreich Bayern" von 1808, die zwar veröffentlicht wurde, aber nie richtig in Kraft trat. Sie wurde und wird immer noch vielfach nicht beachtet. Zu Unrecht. Denn sie steht zusammen mit anderen Rheinbundverfassungen - vor allem der des Königreichs Westphalen (1807) - am Anfang der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung in Deutschland. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften hat anlässlich des 200. Jahrestages ein Symposium veranstaltet. Die Ergebnisse liegen hier vor. Alois Glück, seinerzeit Präsident des Bayerischen Landtages, reflektierte einleitend über den deutschen Föderalismus und eben darüber, dass die Konstitution von 1808 nicht so richtig im öffentlichen Bewusstsein verankert ist.
Gründe dafür gab es mehrere. 1. Einmal trat sie nie in Kraft. 2. Sie stammt aus der Rheinbundzeit. 1815 war dann alles obsolet. 3. Sie war eine bayerische Verfassung und keine Stein-Hardenberg'sche Reform, also allenfalls bedeutsam für die bayerische Landesgeschichte. Und 4. überhaupt: Sie ist eine Verfassung. Und sich mit Verfassungsgeschichte zu beschäftigen, passte vor nicht allzu langer Zeit nicht zu den Trends der deutschen Geschichtswissenschaft. Also eine bayerische, eine landesgeschichtliche 'Orchidee', und sich damit zu beschäftigen: Methodisch nicht gerade neu und für die deutsche Geschichte eigentlich eine Zeitverschwendung? Das alles wirklich nicht!
Die Konstitution von 1808 trat zwar nie richtig in Kraft. Sie hatte indes eine große Bedeutung für das frisch von Napoleon gebackene Königreich Bayern, nicht nur für König Max I. Joseph, der seine sehr neue Krone in die Zukunft retten wollte, sondern ebenso für seinen Minister, den Radikalreformer Montgelas, der Bayern aufgeklärt und etatistisch, d.h. macht- und souveränitätsbewusst regieren wollte. Da trafen sie sich beide und die Devise beider hieß: Die Gefahr der Souveränitätsminderung außenpolitisch mit einer eigenen Verfassung abwehren gegenüber Napoleon, der durchaus Gelüste verspürte, in die inneren Angelegenheiten hineinzuregieren. Und die Gefahr der Souveränitätsminderung innenpolitisch abwehren gegenüber den alteingesessenen und neu hinzugekommenen Ständen. Sie wollten wie eh und je an den alten Privilegien der Macht teilhaben und wurden nun (nur) auf die neuen Partizipationsrechte verwiesen, welche die Verfassung von 1808 u.a. in Form der Nationalrepräsentation, die nie zusammentrat, gewährte (dazu die Beiträge Hermann Rumschöttel und Dirk Götschmann).
Wie es um Verwaltung und Rechtsprechung in der Konstitution von 1808 aussah: Das haben Esteban Mauerer und Reinhard Stauber forschungsnah herausgearbeitet. Mitunter war die bayerische Regierung in ihrem Machtbehauptungswillen auch trickreich, z.B. gegenüber der katholischen Kirche. Das hat Hans-Michael Körner zum Gegenstand seiner Abhandlung gemacht. Die Konstitution von 1808 hatte auch Wirkungen. Sie weist nicht nur auf die Verfassung von 1818, was Karl Möckl herausgearbeitet hat, sondern auch über Bayern hinaus. Insbesondere beeinflusste sie die Verfassungsentwicklung Österreichs im Vormärz, waren doch Salzburg, Tirol und Vorarlberg in napoleonischen Zeiten bayerisch (Wilhelm Brauneder).
Wie modern Bayern schon 1808 war, zeigt der Vergleich von Winfried Müller mit Sachsen, das wirtschaftlich so dynamisch, aber verfassungsgeschichtlich so rückständig war. Hierher fügt sich auch der Vergleich mit Preußen von Wolfgang Neugebauer ein, der unter anderem thematisiert, dass die preußischen Reformüberlegungen nicht erst mit Stein und Hardenberg angefangen haben, sondern es schon im späten 18. Jahrhundert wenig beachtete Verfassungsdiskussionen gab.
Unter dieser Zielsetzung, die bayerische Verfassung in ihrem Umfeld zu interpretieren, erklärt sich auch der Seitenblick auf den langen, im Mittelalter anfangenden Weg zum Parlamentarismus und Konstitutionalismus (Alois Schmid). Ebenso der berechtigte - hier sinnvoll nur knapp abzuhandelnde und knapp abgehandelte - Seitenblick auf die Verfassungsentwicklung in Frankreich in napoleonischer Zeit (Michel Kerautret) und auf die europäische Verfassungsdiskussion des 18. Jahrhunderts (Ulrike Müßig). Letzterer ist allerdings gar nicht sinnvoll knapp, sondern mit 70 Seiten der bei Weitem längste Beitrag, für den Kenner der Geistesgeschichte langweilig, weil nichts Neues, und für den Nichtkenner unverständlich, weil zuviel vorausgesetzt. Freilich kann man auch anderer Meinung sein.
Obendrein überschneidet er sich mit dem Artikel von Alois Schmid, der in seinem Beitrag ein knapp zehnseitiges Unterkapitel über den "Verfassungsdiskurs des späteren 18. Jahrhunderts" verfasst hat. Dieses ist vor allem gelungen, weil Schmid seinen "Verfassungsdiskurs" eng an Vorgänge der bayerischen Geschichte gebunden hat.
Damit haben wir ein weiteres Beurteilungskriterium für die Beiträge: Den Bezug zum Thema. Der ist zwar immer gegeben, aber er ist unterschiedlich intensiv. Einmal wurden die einbettenden Seitenblicke, das "Europäische Umfeld", in Auseinandersetzung und im Vergleich mit Bayern bearbeitet, so die Artikel von Wilhelm Müller ("Sachsens Weg...") und Wilhelm Brauneder ("Verfassungsentwicklung Österreichs und Bayerns im Vormärz"). Dann gibt es auch Artikel, die wenig mit Bayern vergleichen, so die Artikel von Michel Kreautret ("Frankreich...") und Wolfgang Neugebauer ("Preußen..."). Sie weiten durchaus den Blick für die bayerische Verfassungsentwicklung, aber nur im Allgemeinen. Aber dies ist ein Problem vieler Aufsatzbände mit vielen Autoren. Bei den Seitenblicken gibt es eine schmerzliche Lücke. Der napoleonischen Modellverfassung des Königreichs Westphalen von 1807 ist kein eigener Aufsatz gewidmet.
Zur Verortung in der Forschung: Alle mehr auf Bayern bezogenen Artikel bauen auf die nicht zahlreichen älteren Werke zur bayerischen Konstitution von 1808 auf. Jedoch werden darüber hinaus in der Regel entweder weniger bekannte oder auch neue Forschungsergebnisse referiert, die noch nicht geschichtswissenschaftliches Allgemeingut geworden sind. In gar nicht wenigen Beiträgen wurden eigens Forschungen angestellt.
Ein Personen-, Orts- und Länderregister ist hilfreich. Gemäß Vorspann sollte es auch - außerordentlich wünschenswert - "Sachen" umfassen. Nur haben wir dazu keinen einzigen Eintrag. Die kleineren Mängel ändern nichts an der gelungenen Konzeption des Bandes über ein bisher wenig beachtetes, jedoch wichtiges Thema. Ein genuin landesgeschichtliches Thema wurde facettenreich bearbeitet, eng an den gegenwärtig erreichten - bislang allenfalls nur disparat vorliegenden - Forschungsstand angelehnt und in ein weites "Umfeld" eingebettet. Zu manchen Lücken wurden eigens Forschungen angestellt. So gelingt es, das Spezifische der bayerischen Verfassungsentwicklung und der Konstitution von 1808 zu erschließen. Durch solche Vergleiche - angelehnt an die Methoden der komparativen Geschichtswissenschaft - verlässt das Buch landesgeschichtliche Eingrenzungen und wird vermutlich zu einem Standardwerk zur frühen Verfassungsgeschichte in Deutschland.
Manfred Hanisch