Andreas Schumacher: Michelangelos Teste Divine. Idealbildnisse als Exempla der Zeichenkunst (= Tholos. Kunsthistorische Studien; Bd. 3), Münster: Rhema Verlag 2007, 312 S., 176 Abb., ISBN 978-3-930454-70-9, EUR 68,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
James Grantham Turner: Eros Visible. Art, Sexuality and Antiquity in Renaissance Italy, New Haven / London: Yale University Press 2017
Patricia A. Emison: Creating the "Divine" Artist. From Dante to Michelangelo, Leiden / Boston: Brill 2004
Tobias Leuker: Bausteine eines Mythos. Die Medici in Dichtung und Kunst des 15. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007
Cosimo I. de' Medici und sein Sohn Francesco wären entsetzt gewesen - und bis heute nicht nur sie. Von den sechs auf mühevollen Umwegen erworbenen Michelangelo-Zeichnungen in ihrem Besitz, die ein Inventar aus den 1560er Jahren verzeichnete, dürften zumindest fünf keine Originale gewesen sein, sondern zeitgenössische "Faksimilekopien": Die Rede ist von einer Verkündigungs- und einer Gethsemaneszene (Uff. 229 F und 230 F), einer Cleopatra (Casa Buonarroti 2 F), einem Blatt mit "tre teste" (Uff. 599 E) und einem weiteren mit einem männlichen "viso quasiche di furia" (Uff. 601 E). Auch wenn die Blätter bereits in der Vergangenheit kontrovers diskutiert wurden, so entwickelt doch Andreas Schumacher in seiner Dissertation die Argumente für die Zu- bzw. Abschreibung, vor allem aber auch den Kontext dieser Blätter nun in neuer, umfassender Perspektivierung. Die Medici, denen Michelangelo zu Lebzeiten keine seiner Zeichnungen schenken wollte, versuchten nach dem Tod des Divino und seiner Vertrauten, über Agenten an möglichst viele der begehrten Blätter zu gelangen. Deutlich wird in Schumachers Rekonstruktion der Vorgänge, wie die starke Nachfrage nun plötzlich auf wundersamem Weg verfügbare 'Originale' generierte.
Das Hauptziel von Schumachers Buch besteht freilich nicht in der Attribution der Zeichnungen, bei der er zu Recht von der durch Perrig perfektionierten Strichbildanalyse ausgeht. Die Frage, ob eine Zeichnung von Michelangelo stammt, eine perfekte Kopie oder aber eine Schülerzeichnung nach Michelangelo darstellt, ermöglicht es erst, die Gruppe der Geschenkzeichnungen Michelangelos zu bestimmen und davon zugleich als 'Untergruppe' die "teste divine", von denen Vasari an zwei Stellen ohne weitere Definition spricht, als Lehrblätter mit 'idealen Bildnissen' für den Zeichenunterricht abzugrenzen, den Michelangelo ausgewählten jungen Männern gab (auch dies schon lange, aber nie so stringent diskutiert). Die folgenden Kapitel liefern die bislang ausführlichste Rekonstruktion der künstlerischen Statur der beiden wichtigsten, zugleich konträren 'Schüler' des Divino, des Werkstattburschen Antonio Mini und des adligen Tommaso de' Cavalieri. Schließlich wird die Bedeutung der teste divine als Idealbildnisse und "vorbildliche concetti" und ihre Verortung in Bildtradition und kunsttheoretischem Diskurs des 15. und früheren 16. Jahrhunderts untersucht - mit wichtigen Ergebnissen für die Forschung zum Renaissancebildnis und seinen mimetischen und idealen, 'reproduzierenden' und 'konstruierenden' Komponenten insgesamt.
Schumacher kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluss, dass allein dasjenige Blatt der Medicisammlung, das heute unter dem Namen 'Zenobia' bekannt ist (Uff. 598 E), wirklich von Michelangelos Hand stamme. Auch diese Zuordnung wurde und wird bestritten [1] - die Medici hätten in diesem Fall keine einzige echte Michelangelo-Zeichnung besessen. Der prinzipielle Wert von Schumachers Ausführungen bleibt davon unberührt, wird doch vor allem für die Methode nochmals deutlich, dass selbst die 'Strichbildanalyse' (als letztmögliche Steigerung des Morelliprinizps) für eine Zeit, da das 'Stilbewusstsein' so weit fortgeschritten war, dass man Zeichnungen (und übrigens auch die Handschrift des Divino) in dieser Genauigkeit nachahmen konnte, keine absolute Gewissheit liefern kann, sondern nur die beste Form der Annäherung darstellt, die es dann durch Kontextüberlegungen weiter plausibel zu machen gilt.
Dass die Zahl der seit dem späteren 16. Jahrhundert kursierenden echten Michelangelo-Zeichnungen jedenfalls gering war, erhält durch neue Archivfunde, die Schumacher noch nicht kennen konnte, zusätzliche Wahrscheinlichkeit: 1580 verkaufte Cavalieri offenbar das Gros seiner Grafiksammlung - über 200 Nummern - an den befreundeten Kunstsammler Giovan Giorgio Cesarini. [2] Darunter befanden sich jedoch nur vier Michelangelo-Zeichnungen! Cavalieris Prachtband mit den Geschenkzeichnungen und sein Porträt von der Hand Michelangelos vererbte Tommaso dagegen an den Sohn Emilio, der diese Objekte offenbar erst 1593/94 in einer finanziellen Notsituation an die Farnese veräußern musste. In Erinnerung gerufen sei in diesem Zusammenhang, dass die beste Vorstellung des Cavalieriporträts durch den spanischen Maler Pablo de Céspedes überliefert wird, der die Zeichnung noch im Haus seines "grandissimo amigo mío" Tommaso gesehen haben will. [3] Allein die als Erklärung immer wieder stark gemachte These, mit dem Tod Tommasos sei ein größeres Bündel an Michelangelo-Zeichnungen auf dem Markt verfügbar geworden, dürfte in jedem Fall hinfällig sein.
Im Folgenden sei nur noch eine ergänzende Kontextüberlegung zu den Rückseiten der Geschenkzeichnungen skizziert. In der Eigenhändigkeit nie in Frage gestellt worden ist die Vorversion zum Sturz des Phaeton (London, BM 1895-9-15-517), auf der Michelangelo eine Nachricht an Cavalieri geschrieben und die im fiktiven Dialog der gemeinsamen Bildfindung des Themas eine entscheidende Rolle gespielt hatte: Michelangelo inszenierte hier Zeichnen als neoplatonische Seelenbildung und Tugendübung des idealen Freundespaares (wobei gerade nicht das 'hochvollendete Endprodukt', sondern zunächst dessen Entstehungsprozess im Vordergrund stand). [4] Die Rückseite des Blattes ist leer. Wenn es sich bei der Version des Ganymed in Cambridge (MA) und derjenigen des Traums in der Courtauld Gallery tatsächlich um die Originale für Cavalieri handeln sollte, dann wären auch diese Belege dafür, dass die Versoseiten leer gelassen wurden. Ebenfalls nur einseitig benutzt sind die späteren Geschenkblätter Michelangelos für Vittoria Colonna. Kurz: Was man bei so aufwendig ausgearbeiteten Geschenkzeichnungen für hochgestellte Freunde eigentlich erwarten würde, scheint sich zu bestätigen - dass Michelangelo für diese frische Papierblätter verwandte. Gegen diese These scheinen die Rückseiten des Tityos (Windsor inv. 12771) und die dritte Fassung vom Sturz des Phaeton (ebd. inv.12766) zu sprechen. Nun lässt sich freilich der aus den durchscheinenden Umrisslinien des antiken Frevlers Tityos entwickelte, auferstehende Christus sehr gut als Produkt der 'gemeinsamen zeichnerischen Reflexion' des Michelangelo und Tommaso verstehen - bei der die Fiktion des freundschaftlichen Zeichnens vollkommen mit den dargestellten Themen zusammengefallen wäre (wofür das ausnahmsweise Weiterzeichnen auf einem Michelangelo-Blatt nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu notwendig gewesen wäre). [5] Allein die Rückseite der dritten Phaeton-Fassung, die einen ideal-heroischen, wenngleich dilettantisch ausgeführten Frauenkopf und weitere Studien zeigt, fällt aus diesem Rahmen, zumal wenn diese Rückseite von Mini ausgeführt worden war, was nur vor der Übergabe des Blattes an Cavalieri hätte geschehen können. Michelangelo hätte also für die Vorstudie des Phaeton frisches Papier verwendet, die finale Version dagegen auf bereits benutztem ausgeführt. Hält man an der Zuschreibung des Verso an Mini fest, so wäre konsequenterweise zu fragen, ob das Recto wirklich die endgültige Geschenkversion des Phaeton für Cavalieri darstellt.
Für die teste divine bleibt vor diesem Hintergrund zu überlegen, ob auf diesen doch wohl ebenfalls kostbaren Blättern - selbst wenn sie vorderhand als Zeichenvorlagen gedacht gewesen waren - die Empfänger je direkt weitergezeichnet hätten oder ob auch die teste divine nicht immer zugleich und sofort als herausragende Sammelobjekte betrachtet wurden. Deren inhaltliches Spektrum ist schwer zu bestimmen: Wenn die Zeichnungen der Medicisammlung allesamt keine Michelangelo-Originale sein sollten, bleibt allein der Hinweis Vasaris auf eine Cleopatra (mit Casa Buonarroti 2 F als Kopie), einige Stiche, die für ihre Invention mehr oder weniger überzeugend Michelangelo reklamieren, und die Vermutung, dass mehreren erhaltenen Kopien eines michelangiolesken Kopfes ein (verlorenes) Original des Meisters zugrunde liegen müsse. Nicht ausschließen lässt sich, dass Michelangelo selbst zu den teste divine auch die gezeichneten Porträts des Cavalieri und des Andrea Quaratesi gezählt hätte. Deren 'Idealköpfe' sollten ihn doch erst seine Abscheu gegenüber dem 'mimetischen' Bildnis kurzfristig überwinden lassen. Zwar scheinen uns dies weniger didaktische Motive für den Zeichenunterricht; jedoch kann auch Vasari in den Vite mit der leicht abgewandelten Wendung: "una testa [...], che fu tenuta divina", gleichermaßen konkrete wie erfundene Bildnisse bezeichnen. [6]
Schumacher hat jedenfalls für alle diese Fragen und für die in diesem Zusammenhang unabdingbare methodische Engführung von Strichbild-, Provenienz- und Kontextanalyse ein unverzichtbares neues Grundlagenwerk vorgelegt.
Anmerkungen:
[1] Zuletzt A. Boesten-Stengel in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 71 (2008), 429-439.
[2] L. Sickel: Die Sammlung des Tommaso de' Cavalieri und die Provenienz der Zeichnungen Michelangelos, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 37 (2006) [2008], 163-221.
[3] P. de Céspedes: Escritos, hg. von J. Rubio Lapaz / F. Moreno Cuadro, Córdoba [1998], 265, 270, 277 und 407.
[4] In einer weiteren, umstrittenen Version des Phaeton-Sturzes (Venedig, Accad., inv. 177) erkennt Schumacher 173f. mit Perrig die 'Antwort' Cavalieris auf Michelangelos Vorschlag; damit wären die Skizzen zum Jüngsten Gericht auf der Rückseite erklärbar.
[5] Die zuletzt von Boesten-Stengel geäußerte Vermutung, der Auferstehende könne dem Tityos auch vorausgehen, scheint daher unwahrscheinlich.
[6] Schumacher 197-206 schildert die Schwierigkeiten, das 'Göttliche' - "the beautiful and the grotesque" - für alle diese Köpfe auf einen Begriff zu bringen und verweist zu Recht auf die spezifische Wendung "teste divine" im Gegensatz zu anderen grammatikalischen Konstruktionen. Offen bleibt, ob und wie die Zeitgenossen diese singuläre Differenzierung verstanden haben. - G. Vasari: Le vite ..., hg. von R. Bettarini / P. Barocchi, Florenz 1966-1997, Bd. 3, 478; Bd. 4, 67; Bd. 4, 549; Bd. 5, 94f.; vgl. Bd. 4, 627 zu "ritrasse divinamente".
Ulrich Pfister