Margarita Díaz-Andreu: A World History of Nineteenth-Century Archaeology. Nationalism, Colonialism, and the Past (= Oxford Studies in History of Archaeology), Oxford: Oxford University Press 2007, xiv + 486 S., ISBN 978-0-19-921717-5, GBP 70,00
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Die Geschichte der Archäologien ist ein recht kleines Gebiet der Forschung geblieben, auch wenn die Notwendigkeit der Reflexion über die Zeitgebundenheit von Fragestellungen und Ergebnissen unbestritten ist. Eine gewisse Blüte hat in den letzten fünfzehn Jahren die Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Archäologie und Politik im 20. Jahrhundert erlebt. Dieses Feld der Wissenschaftsgeschichte ist bestimmt von einem ausgeprägt kritischen Element: Im Zentrum steht die Frage, in welcher Weise Archäologen, gleich in welchem Auftrag sie tätig waren, ihre Forschungen betrieben haben, um Staatsinteressen zu dienen. Dies erscheint besonders problematisch und klärungsbedürftig, wenn es sich um autoritäre Regime handelt. Zu diesem Themenfeld ist inzwischen eine Fülle von Publikationen erschienen, mit der größten Verdichtung bei der prähistorischen Forschung in Deutschland. Eines der vor einigen Jahren definierten Forschungscluster des Deutschen Archäologischen Instituts ist der Geschichte dieser Institution im 20. Jahrhundert gewidmet, wobei die NS-Zeit, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, im Vordergrund stehen.
Margarita Díaz-Andreu hat zu dieser jungen Forschungstradition bereits eine Reihe von Beiträgen geleistet. An den zusammen mit Timothy Champion herausgegebenen Sammelband Nationalism and Archaeology in Europe (1996) knüpft sie hier an. Der Haupttitel des Buches lässt ein Werk von gigantischem Zuschnitt erwarten. Doch wie der Untertitel andeutet, wird nicht eine Gesamtgeschichte der Archäologie im 19. Jahrhundert vorgelegt, sondern ein historischer Abriss zu der Frage, inwiefern die Beschäftigung mit der fernen Vergangenheit eines Landes in einem Zusammenhang steht mit Nationalismus und Kolonialismus als zwei zentralen treibenden Kräften jener Epoche. Díaz-Andreus pauschale Behauptung, frühere Autoren hätten die Archäologie als "a value-free and neutral social science" (4) betrachtet, trifft sicher schon lange nicht mehr zu. Die Autorin nimmt, mit Edward Said als zentralem Ideengeber (Orientalism, 1978), die gegenteilige Position ein: "This volume is based on the premise that all archaeological traditions were originally nationalistic" (11). Die eigentliche Idee des Buches besteht darin, die archäologische Forschung für alle fünf Kontinente so vollständig wie möglich in den Blick zu nehmen, um die universelle Gültigkeit dieser These zu belegen.
Tatsächlich kann man das Buch auf zweierlei Art lesen, einmal als Dokumentation zur archäologischen Forschung im 19. Jahrhundert, zum anderen als Versuch einer Historisierung dieser Forschung in dem genannten Sinne. Der erste Teil legt für die Zeit etwa von 1780 bis 1830 dar, welchen Stellenwert die Beschäftigung mit den frühen Hochkulturen innerhalb der politischen Welt in Europa und darüber hinaus hatte. In einer für das Buch insgesamt typischen, durchaus beeindruckenden Manier werden dabei sehr unterschiedliche Einzelentwicklungen beleuchtet und ihr Zusammenhang sichtbar gemacht. Für Frankreich etwa wird gezeigt, wie so unterschiedliche Maßnahmen wie die stärkere Öffnung der Kunstsammlungen im Louvre für das allgemeine Publikum, die Institutionalisierung der archäologischen Forschung im Land selbst wie auch die Gründung eines Institut de l'Égypte in dem besetzten Land darauf zielten, das nationale Prestige Frankreichs zu erhöhen und implizit zugleich die eigene Kulturhöhe gegenüber den beherrschten Gebieten zu demonstrieren. In den Bereich einer im weiteren Sinne national motivierten Archäologie gehört aber auch, wenn in Griechenland ebenso wie in einigen Ländern Lateinamerikas der Kampf um die staatliche Unabhängigkeit einherging mit einer markanten Hinwendung zur eigenen großen Vergangenheit. Teil 2 beschreibt, wie die großen europäischen Mächte auch außerhalb ihrer Kolonien als "informelle" imperiale Staaten auftraten - in der Politik ebenso wie auf dem Feld der Archäologie. Für Gebiete wie das Osmanische Reich, Ägypten, Palästina, Fernost sowie wiederum Lateinamerika bedeutete dies: Sie importierten die Fragestellungen und die wissenschaftliche Methodik und sie exportierten so viele Antiken, wie es die Gesetze nur immer zuließen. Dies gilt im Kern auch für die "Colonial Archaeology" (Teil 3) im engeren Sinne, also die Aktivitäten in den französisch, englisch und niederländisch besetzten Gebieten in Ostasien, Nord- und Zentralafrika. Archäologische Unternehmungen blieben lange Zeit eine Sache europäischer Gelehrter, deren Interesse nicht einer umfassenden Erforschung der Geschichte der genannten Gebiete galt, sondern den durch bedeutende Bauten bezeugten Blütezeiten - dass diese lange vergangen waren und die Zeitspanne zur Gegenwart hin als zivilisatorischer Niedergang gedeutet werden konnte, gab zugleich Raum dafür, die Beherrschung durch fremde Mächte zu legitimieren. Teil 4 kehrt zum Zentrum der Archäologie dieser Epoche zurück, zu den großen europäischen Staaten, und widmet sich einer grundlegenden Interessenverschiebung, die nicht allein die Archäologien betraf. Im 18. Jahrhundert spielten die "Great Civilizations" des Altertums für die kulturelle Identität der Eliten eine herausragende Rolle; entsprechend galt die wissenschaftliche Aufmerksamkeit in erster Linie dem Alten Ägypten und vor allem Griechenland und Rom. Im 19. Jahrhundert dagegen steigt die "Nation" zur zentralen Kategorie in der politischen Sphäre auf, mit der Folge, dass sich auch auf dem Gebiet der Archäologien die Gewichte verschoben. Die Relikte aus Vor- und Frühgeschichte wurden zu einem vitalen Bestandteil der Nationalgeschichte. Zunächst war dies eine vor allem von Laien getragene Bewegung 'von unten'. Die volle Etablierung der nationalen Archäologien auf der akademischen Ebene vollzog sich erst spät, dann aber mit wachsender Dynamik und im 20. Jahrhundert auch mit zunehmender Polemik. Susan Marchand hat diese Vorgänge für Deutschland umfassend beschrieben [1]; Díaz-Andreu weitet die Perspektive auf Europa aus.
Das Buch erschließt eine immense Literatur und ist so imstande, die angesprochenen Vorgänge breit zu dokumentieren und viele Phänomene, die bisher nur für einzelne Länder oder Zeitabschnitte beschrieben worden sind, überhaupt erst voll sichtbar zu machen. Auf dem analytischen Feld kann die Studie dagegen nicht dieselbe Stärke beanspruchen. Das riesige Stoffgebiet erscheint insofern als Fluch, als sich Díaz-Andreu über weite Strecken auf die Aussagen ihrer Gewährsleute verlassen musste. Auf die Sichtung von Primärmaterial, seien es Archivalien oder archäologische Originalpublikationen, hat sie praktisch völlig verzichtet. Der daraus resultierende kompilatorische Charakters des Buches konstrastiert mit der Intention, die beschriebenen Vorgänge auch dezidiert zu bewerten. Die Aussagen auf diesem Feld bleiben jedoch eigentümlich unscharf. Der Hauptgrund dafür liegt im Umgang mit zwei für die Studie zentralen Begriffen. "Nationalism" und "Colonialism" sind in der heutigen politischen Kultur uneingeschränkt negativ bewertet. Archäologen nun, die auf welche Weise auch immer, den nationalistischen und kolonialistischen Zielen der sie entsendenden Staaten dienten, rücken damit unweigerlich in die Nähe von Handlangern einer als problematisch einzustufenden Politik.
So einleuchtend und überzeugend die Darlegungen zu den verschiedenen Formen der politischen Indienstnahme vieler archäologischer Unternehmungen sind - der diffus anklagende Ton, in dem dies ausgebreitet wird, fordert zum Widerspruch heraus. Einmal wird unter "nationalism" letztlich alles subsumiert, was in irgendeiner Weise mit nationalstaatlicher Politik zu tun hat, die Wiedergewinnung der Souveränität Griechenlands ebenso wie die Großmachtpolitik Großbritanniens in Übersee. Die in Verbindung mit so unterschiedlichen politisch-historischen Konstellationen betriebene Archäologie jeweils als "nationalistisch" zu bezeichnen, dehnt diesen Begriff am Ende bis zur Bedeutungslosigkeit aus. Zum zweiten ist die als Quintessenz des Buches kritisch herausgestellte Bindung der Archäologen an die politischen Ideologien ihrer Zeit natürlich alles andere als überraschend - Vergleichbares wird man für jeden Zweig der Geisteswissenschaften feststellen. Wenn im 19. Jahrhundert das Überlegenheitsgefühl gegenüber den Bewohnern weniger 'zivilisierter' Regionen zu den beherrschenden Elementen des Selbstverständnisses der Europäer gehörte, ist es geradezu selbstverständlich, dass die zwischen den Kulturen agierenden Archäologen diese Haltung aktiv mit vertraten. Den dritten Kritikpunkt deutet Díaz-Andreu selbst an: Nachdem über einhundert Jahre und alle Erdteile hinweg die archäologische Forschung als Dienst an den nationalistischen Staatszielen beschrieben worden ist, hat es etwas geradezu Erlösendes, wenn am Ende den Akteuren auch "a bona-fide individual scholarly interest, indeed fascination, towards the past" (401) zugeschrieben wird. Dass individuelle wissenschaftliche Neugier die erste und stärkste Triebfeder war, ohne die keine der beschriebenen Unternehmungen zustande gekommen wäre, das lässt diese gelehrte und ihren Punkt konsequent verfolgende Abhandlung etwas zu sehr vergessen.
Anmerkung:
[1] Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750-1970 (1996).
Klaus Junker