Anastasios G. Nikolaidis (ed.): The Unity of Plutarch's Work. 'Moralia' Themes in the 'Lives', Features of the 'Lives' in the 'Moralia' (= Vol. 19), Berlin: De Gruyter 2008, XVIII + 851 S., ISBN 978-3-11-020249-6, EUR 168,00
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Der zu besprechende Band enthält die für den Druck überarbeiteten Vorträge von der 7. Tagung der 'International Plutarch Society' im Jahre 2005. In 55 Fachaufsätzen zu einem sehr breiten Spektrum an Themen bietet der vorliegende Band, der mit drei nützlichen Indizes erschlossen wird, einen breiten Überblick über aktuelle Forschungsfelder zum Werk des Plutarch aus Chaironeia.
Die heute übliche, aber unnatürliche und problematische Trennung der Werke Plutarchs in die beiden großen Gruppen der Viten und der Moralia-Schriften entspricht keineswegs seinen auktorialen Absichten oder einer bereits antiken Tradition. Sie ist vielmehr erst das Ergebnis eines jüngeren historischen Rezeptionsprozesses (vgl. J. Geiger, Lives and Moralia: How Were Put Asunder What Plutarch Hath Joined Together, 5-12). In der jüngeren Plutarchforschung besteht weitestgehende Einigkeit darüber, dass es wenig sinnvoll ist, beide Werkgruppen isoliert voneinander zu untersuchen, sondern dass man die gesamte literarische Hinterlassenschaft Plutarchs bei allen Studien zu einzelnen Viten oder Traktaten beachten muss. Das zieht dann allerdings bei der großen Anzahl und dem Umfang der erhaltenen Werke eine lange Einarbeitungszeit für jeden angehenden Plutarchspezialisten nach sich, die vielleicht viele Kollegen heute angesichts des steigenden Publikationsdruckes scheuen.
Der enorme Umfang des zu besprechenden Sammelbandes und die extreme Themenvielfalt bilden zugleich seine Stärken und Schwächen. Der knappe Raum dieser Besprechung erzwingt eine Konzentration auf einige Beiträge und einen der acht großen Themenblöcke, in welche die 55 Studien aufgeteilt worden sind: 1. The Formation of Plutarch's Corpus; 2. Plutarch's Methods of Work; 2a. How Plutarch Deals with Other Genres; 2b. Other Authorial Techniques; 3. Moralia in Vitis; 4. Plutarch and Politics; 5. Plutarch and Philosophy; 6. Literary Aspects of Plutarch's Œuvre; 7. Women, Eros, Marriage, and Parenthood in Plutarch und schließlich 8. Plutarch in his Epistemological and Socio-Historical Context. Eilige Leser finden zu Beginn jedes Blockes eine 'Synopsis' genannte Zusammenfassung der Beiträge. Bei einigen Beiträgen wäre meines Erachtens eine stärkere Fokussierung auf die Frage, was das jeweilige Spezialthema beiträgt zur Leitfrage nach der Einheit des Werkes Plutarchs bzw. nach Moralia-Themen in the Viten und den "Features of the 'Lives' in the 'Moralia" förderlich gewesen.
Dem Rezensenten scheinen die Studien im Abschnitt 2. zu Plutarchs methodischer Arbeitsweise von hohem allgemeinen Interesse auch für Leser außerhalb des engeren Kreises von Plutarchforschern zu sein. Leitfragen dieser Studien richten sich unter anderem danach, wie Plutarch in den Moralia und den Viten mit den Konventionen anderer antiker Gattungen umgeht, wie er sie mischt und bewusst mit ihnen gattungsübergreifend experimentiert. Methodisch wichtig für die Analyse der Texte auch anderer kaiserzeitlicher Autoren ist die Frage, wie und zu welchen Zwecken Plutarch in verschiedenen Werken unterschiedlicher Schaffensperioden sein thematisches Material wiederverwendet. Plutarch verfügt über ein breites Spektrum auktorialer literarischer Techniken und unterschiedlicher Stilregister. Diese setzt er technisch subtil und immer wieder anders auf die jeweiligen Zielgruppen an Lesern ausgerichtet ein, wobei Anekdoten und Apophthegmata eine Schlüsselrolle zukommt. Wegen ihrer Eingänglichkeit bleiben diese dem Leser nämlich beim ersten Lesen schon im Gedächtnis (vgl. Ph. Stadter, Notes and Anecdotes: Observations on Cross-Genre Apophthegmata, 53-66, und C. Cooper, The Moral Interplay Between Plutarch's Political Precepts and Life of Demosthenes, 67-83).
Für Althistoriker ist sicherlich P. Liddels Studie (Scholarship and Morality: Plutarch's Use of Inscriptions, 125-137) über die Art und Weise interessant, wie Plutarch Inschriften in den Viten und in den Moralia-Traktaten verwendet. Inschriften dienen Plutarch nicht lediglich, noch auch primär zur Bestätigung oder Widerlegung literarischer Quellen, wie bei einigen älteren historiographischen und biographischen Autoren seit dem 5. Jahrhundert v. Chr., oder nur als willkommenes Material in der Polemik gegen andere ältere Autoren. Auch diese Verwendung war bei griechischen Historikern beliebt. Plutarch verwendet vielmehr Inschriften in einem deutlich umfassenderen Sinne als Zeugnisse in der Erforschung moralischer, philosophischer und sozialer Fragestellungen. Liddel führt zudem überzeugend aus, dass "Plutarch's use of inscriptions is as much a reflection of his reading of classical authors as a result of his own moral views" (136).
Als eines der verbindenden Elemente, die von Plutarch häufig in den Viten wie den Moralia aufgegriffen werden und damit thematisch sehr disparate Traktate und Viten verbinden, hebt R. Araújo Da Rocha Júnior (Plutarch and the Music, 651-656) in einem knappen, aber anregenden Beitrag zu Recht Plutarchs Interesse an der Musik hervor. Denn Plutarch (wie bereits Platon und andere Staatsphilosophen zuvor) wusste genau um die vielfältigen pädagogischen, psychologischen und ethischen Wirkungen und Einsatzmöglichkeiten der Musik.
Wenn man Plutarch mit den meisten anderen überlieferten (meist männlichen) antiken griechischen und römischen Autoren vergleicht, so zeigt er eine auffällig hohe Wertschätzung gegenüber Frauen, der Ehe als Lebensgemeinschaft und einer verantwortlichen Elternschaft. Seine einschlägigen Notizen und ganze Traktate der Moralia über diese weiterhin aktuellen Themen untersuchen die Studien von G. Marasco, D. Romero González, J. Beneker, G. Tsouvala und C. Soares im siebten Abschnitt. Plutarch vertritt bekanntlich die Überzeugung, dass einzelne Frauen in ihrer Kultiviertheit und Bildung selbstverständlich das gleiche Niveau wie Männer erreichen können.
Im letzten großen Abschnitt (8.) fällt das Fehlen einer diese Studien untereinander und mit dem Oberthema "The Unity of Plutarch's Work" verbindenden Fragestellung mehrfach unangenehm auf. Dennoch sind es durchweg lesenswerte Spezialbeiträge, z.B. die Übersicht, warum, wo und wie Plutarch in seinen verschiedenen Werken die Insel Kreta behandelt hat (G.W.M. Harrison und J. Francis, Plutarch in Crete, 791-803). Offensichtlich nahm diese Insel unter den großen Inseln der Mittelmeerwelt in Plutarchs 'mental map' eine besondere Stellung ein. Es würde sich im Anschluss an diese Studie jedoch anbieten, systematisch auch die Hinweise bei Plutarch auf die anderen großen Inseln der Mittelmeerwelt zu sammeln und im Vergleich zu interpretieren.
Der nützliche Sammelband ist dabei hilfreich, die außerordentlich vielen Facetten des Werkes Plutarchs aufzuzeigen. Die Einheit dieses Werkes bleibt ein hochinteressantes Thema. Vielleicht ist diese Einheit schließlich weniger in wiederkehrenden Lieblingsthemen oder Grundauffassungen Plutarchs zu finden (z.B. den lebenspraktischen ethischen Interessen, dem religiösen Bewusstsein und der Achtung vor der hellenischen Paideia), auch nicht primär in bestimmten literarisch 'technischen' Methoden, sondern vielmehr in der in jeder Vita und jedem Traktat der 'Moralia' leicht variiert spürbaren, vollen Präsenz seiner sympathischen Persönlichkeit als Philosoph, Moralist, Priester und politisch interessierter Bürger des römischen Kaiserreiches.
Johannes Engels